Steht Kurdistan vor einer neuen Revolution?

abdullah öcalanKolumne von Abdullah Öcalan – Juni 2010

Um die kurdische Frage zu verstehen, ist ein Blick auf die geschichtlichen Hintergründe unumgänglich. Die andauernde Tragödie zeigt, dass dieses historische Problem nicht mit einfachen Mitteln lösbar ist. Nachdem der türkische Nationalismus zu einer Staatsdoktrin wurde, wurden das armenische und das aramäische Volk Opfer eines offenen Völkermordes. Die Kurden waren hingegen einem schleichenden Genozid durch die Verleugnung ihrer Identität ausgesetzt. Ihre Sprache wurde verboten, Namen von Menschen und Orten türkisiert, Staatsterror und Demütigung zu einem Teil des täglichen Lebens – bis in die jüngste Vergangenheit hinein.

Die Kurden wurden vertrieben, ihres Hab und Gutes beraubt und zur Armut verurteilt; Tausende ihrer Dörfer wurden niedergebrannt. Frauen wurden Ziel einer sexistischen Politik, Kinder systematisch assimiliert. Dem kurdischen Volk sollte die Zukunft geraubt werden. Unser Aufstand richtete sich gegen diesen ökonomischen, politischen und kulturellen Genozid. Unser historischer Aufbruch hatte das alleinige Ziel, die Tragödie unseres Volkes zu beenden.

Nach dreißig Jahren unseres Kampfes hat sich das kurdische Volk auf der Suche nach Freiheit und der eigenen Identität so weit fortentwickelt, dass es kein Zurück mehr geben kann. Durch die Schaffung einer nachhaltigen Kultur des demokratischen Widerstands haben wir den Menschen ihre Stimme zurückgegeben.

Weder der Beginn des Krieges noch seine Fortsetzung waren unsere Präferenz. Unsere Waffenruhen sprechen für sich. Obwohl sich unsere Friedensaufrufe an verschiedene Regierungen unterschiedlichster politischer Couleur richteten, antwortete der Staat stets nur mit dem Versuch, uns zu vernichten oder zur Kapitulation zu bewegen. Auch während meiner mehr als elfjährigen Gefangenschaft habe ich für die Errichtung eines dauerhaften Friedens nichts unversucht gelassen. Der strategische Frieden und die demokratische Politik sind zu einer nationalen Vision der Kurden geworden.

Unsere Friedensbemühungen blieben ohne Antwort. Inoffizielle Gespräche fanden statt, die uns jedoch nur hinhalten sollten. Mehr als 1?500 kurdische Lokalpolitiker wurden binnen eines Jahres inhaftiert. Nicht der kleinste Raum wurde gelassen, um einen friedlichen politischen Beitrag leisten zu können. Deshalb werde ich die Geduld der kurdischen Bevölkerung nicht mehr weiter strapazieren. Ab dem 31. Mai 2010 ziehe ich mich aus dem Prozess zurück. Wie dieser weiter verlaufen wird, ob Krieg oder Frieden, obliegt von nun an der alleinigen Entscheidung der Führung der KCK. Ab dem 31. Mai 2010 bin ich nicht mehr für das kommende Geschehen verantwortlich. Sollte jedoch die Regierung wirklich ernsthaft an einer nachhaltigen friedlichen Lösung des Konflikts interessiert sein, stehe ich wieder zur Verfügung, wenn dies von beiden Seiten gewünscht ist.

Unser Kampf ist kein ethnischer Kampf. Vielmehr ist die kurdische Revolution das Herz des Mittleren Ostens. Diese Revolution wird Veränderungen in einem Umfang einleiten, wie dies die Französische Revolution oder Russische Revolution vermocht haben. Doch anders als diese wird die kurdische Revolution frei vom Nationalismus sein. Das von mir vorgeschlagene Lösungsmodell fußt auf dem Modell einer demokratischen Autonomie. Diese sieht eine Lösung vor, bei der innere Konflikte nicht über die Grenzen hinweg ausgetragen werden. Anderseits lehnen wir die universale Hegemonie der herrschenden Mächte ab, ohne mit ihnen in einen offenen Konflikt zu treten. Es ist möglich, die eigene Existenz und eigenen Prinzipien nachhaltig zu sichern, ohne von der auch als „Imperium“ bezeichneten globalen Hegemonie absorbiert zu werden. Die Lösung dieses Problems auf der Grundlage einer demokratischen Autonomie wird den gesamten Mittleren Osten positiv beeinflussen.

Abdullah Öcalans Kolumnen in „il manifesto“ und „Gara“ bei der Internationalen Initiative:
http://www.freedom-for-ocalan.com
09. März 2010: Die Revolution ist weiblich
13. Februar 2010: Eine Verschwörung gegen den Frieden
11. Januar 2010: Presseerklärung der Redaktion von Il Manifesto über die Authentizität
09. Januar 2010: Einen gerechten Frieden für die Kurden

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