Der Tod der Kurdin Jina Amini im September 2022 löste überall in Iran Proteste unter dem Motto „Jin, Jiyan, Azadî“ aus. Diese kurdische Formel, die übersetzt „Frau, Leben, Freiheit“ bedeutet, tauchte bald auf Transparenten in den Städten Ostkurdistans (Nordwestiran) auf und wurde schnell zur offiziellen Losung dessen, was viele für eine neue „iranische Revolution“ hielten. Es dauerte nicht lange, bis „Jin, Jiyan, Azadî“ auf das Brandenburger Tor in Berlin projiziert, bei den Filmfestspielen in Cannes skandiert und von westlichen Politikerinnen in europäischen Parlamenten gerufen wurde. In den sozialen Medien begannen Frauen sogar, sich die Haare abzuschneiden, bevor sie die Parole in ihre Kameras sprachen.
Historischer und ideologischer Hintergrund
In Wirklichkeit ist „Jin, Jiyan, Azadî“ kein Slogan, der durch den Tod von Jina Amini entstanden ist, sondern eine jahrzehntelange Botschaft aus dem Zagros-Gebirge in Kurdistan, die erstmals von Widerstandskämpferinnen verwendet wurde. Diese kurdischen Frauen waren keine hilflosen Opfer, die von der sogenannten „Sittenpolizei“ misshandelt wurden, sondern bewaffnete Guerillakämpferinnen, die „Jin, Jiyan, Azadî“ verwendeten, um das Paradigma der Frauenbefreiung, die Jineolojî (Wissenschaft aus der Perspektive der Frauen) und die politische Ideologie des demokratischen Konföderalismus darzulegen.
Diese Formel basiert auch auf der Philosophie der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), die besagt, dass es in allen Gremien und Ämtern eine genderparitätische Vertretung bestehend aus einem Mann und einer Frau geben muss, Frauen in Selbstverteidigungseinheiten organisiert sein sollten, um sich selbst zu schützen, und dass Frauen ihre eigene Zivilgesellschaft aufbauen sollten, um ihre Interessen zu vertreten. Damit entwarfen diese kurdischen Frauen nicht nur ein Konzept zur Befreiung der Kurd:innen, sondern der gesamten Menschheit, und zeigten auf, wie die politische „gläserne Decke“ der Gesellschaft abgebaut werden kann.
Historisch gesehen hat die Dynamik der kurdischen Frauen, die für ihr Leben und ihre Freiheit Widerstand leisten, ein reiches Erbe in allen vier Teilen Kurdistans. Von Leyla Qasim, die hingerichtet wurde, weil sie sich dem Diktator Saddam Hussein widersetzte, bis zu Leyla Zana, die jahrelang im Gefängnis saß, weil sie forderte, dass die Kurd:innen in der Türkei ihre eigene Sprache sprechen dürfen – wir können die Samen sehen, die zu den Blumen „Jin, Jiyan, Azadî“ aufgegangen sind.
Zehra Doğan ist eine Künstlerin, die inhaftiert wurde, weil sie die Zerstörung der Stadt Cizre durch das türkische Militär malte. Die Musikerin Nudem Durak sitzt in einem türkischen Gefängnis, weil sie auf Kurdisch sang, und die Lehrerin Zara Mohammadi wurde von Iran verhaftet, weil sie Kindern, die für Leben und Freiheit kämpften, Kurdisch beibrachte. In all diesen Fällen wurden kurdische Frauen angegriffen und bestraft, weil sie Widerstand leisteten, sei es, dass sie einen Pinsel in die Hand nahmen, eine Melodie sangen oder ein Wort in ihrer Muttersprache aussprachen.
Kultur des Widerstands
Dieser einzigartige Freiheitsgeist der kurdischen Frauen spiegelt sich auch in der Kultur wider, in der es zahlreiche Mythen, Volkslieder und Balladen gibt, in denen Frauen gefeiert oder verehrt werden. In diesen Geschichten und Liedern wehren sich Frauen gegen eine unerwünschte Heirat oder widersetzen sich dem Diktat eines Mannes, der sie zu kontrollieren versucht, und fliehen stattdessen mit dem Partner ihrer Wahl.
Auch in den kurdischen Religionsgemeinschaften verschiedener Glaubensrichtungen spielen Frauen eine wichtige Rolle, beispielsweise in den spirituellen Praktiken der alevitischen Kurd:innen (Reya Heq), in denen die heilige Weiblichkeit eine zentrale Rolle spielt und als Beschützerin des Lebens angesehen wird. Es gibt auch eine wachsende Zahl kurdischer Dichterinnen, die Grenzen überschreiten, indem sie tabuisierte Themen der Sexualität und des Frauseins auf eine Weise ansprechen, die andere Frauengemeinschaften im Nahen Osten inspiriert, es ihnen gleichzutun.
Auch in der Welt der Künste nutzen kurdische Frauen ihre Fähigkeit als mächtiges Instrument, um auszudrücken, was es bedeutet, Kurdin, Frau und Mensch zu sein. Die Unterdrückung der kurdischen Stimme durch die Besatzungsmächte hat dazu geführt, dass gerade kurdische Frauen viel zu sagen haben, wenn sie endlich die Chance dazu bekommen. Oft ist die Botschaft, die diese Werke motiviert, die Bewahrung einer verleugneten Geschichte oder die Kritik an Strukturen, die die Freiheit der kurdischen Frauen einschränken.
Neben dem kulturellen Bereich haben kurdische Frauen vor allem in den letzten Jahrzehnten auch im zivilen und politischen Leben eine führende Rolle gespielt. So wurden in ganz Nordkurdistan kurdische Frauen zu Bürgermeisterinnen gewählt, und viele von ihnen haben sich dem türkischen Zentralstaat widersetzt und sind inhaftiert worden, weil sie die Bürgerrechte der Kurd:innen verteidigt haben. Leider werden viele kurdische Frauen in den westlichen Medien erst dann erwähnt, wenn sie entweder verhaftet oder getötet werden, weil sie ihre Freiheiten verteidigt haben, was zeigt, dass „Jin, Jiyan, Azadî“ kein Vorschlag ist, sondern ein Ethos, nach dem sie leben und für das sie ihr Leben riskieren. So reiht sich der Name Jina Amini in die Liste der aus politischen Gründen ermordeten Kurdinnen ein, die von Sakine Cansız über Hevrin Xelef bis Nagihan Akarsel reicht.
Doch der gemeinsame Nenner all dieser Geschichten ist, dass kurdische Frauen sich weigern, den begrenzten Raum zu akzeptieren, den ihnen eine patriarchalische Welt und eine traditionell konservative Gesellschaft zugewiesen haben. Dies bereitet die kurdischen Frauen darauf vor, Diktatoren, Todesschwadronen, Bereitschaftspolizei und Geheimdiensten, die sie ermorden wollen, die Stirn zu bieten, denn sie gehören zur selben Institution Mann, die sie an der buchstäblichen Heimatfront in ihren Wohnzimmern zu bekämpfen gewohnt sind. Sogar im 18. und 19. Jahrhundert schrieben viele westliche orientalistische Anthropolog:innen häufig über diesen Geist, weil sie davon angezogen waren, dass die kurdischen Frauen „freier“ zu sein schienen als ihre Erwartungen und die anderen Kulturen, die sie umgaben.
Widerstand statt Protest
Es ist unmöglich, über die Rolle zu sprechen, die kurdische Frauen bei der Verteidigung von Leben und Freiheit in ganz Kurdistan gespielt haben, ohne den einzigartigen Aspekt anzuerkennen, dass Frauen seit vielen Jahren an der Seite von Männern in einer Reihe von kurdischen Parteien kämpfen – von der Komala (Gesellschaft der revolutionären Werktätigen Iranisch-Kurdistans), der PDK-I (Demokratische Partei Kurdistans-Iran), der PJAK (Partei des freien Lebens in Kurdistan) und der PAK (Freiheitspartei Kurdistans) in Ostkurdistan/Iran; den Peschmerga-Frauen der YNK (Patriotische Union Kurdistans) in Südkurdistan/Irak, den Guerillakämpferinnen der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) in Nordkurdistan/Türkei und den Kämpferinnen der YPJ (Frauenverteidigungseinheiten) in Rojava/Syrien.
In jedem dieser Fälle haben kurdische Frauen in einer traditionell männerdominierten und konservativen Gesellschaft Stereotype in Frage gestellt und schließlich durch ihren Mut die Anerkennung vieler kurdischer Männer sich erlangt. Dies ist besonders bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass in vielen westlichen Ländern Frauen noch immer nicht Seite an Seite mit ihren männlichen Kollegen kämpfen. Das zeigt, dass kurdische Frauen in diesem Bereich eine Vorreiterrolle bei der Überwindung von Grenzen spielen. Kurdische Widerstandskämpferinnen sind weit mehr als fotogene und „exotische“ Raritäten, sie stehen in einer langen Tradition von Frauen, die sich seit Jahrhunderten gegen Geschlechternormen und patriarchale Versuche, ihren Horizont einzuschränken, gewehrt haben.
Die begrenzte Natur von Azadî
Die YPJ zeichnen sich dadurch aus, dass sie für ihren bewaffneten Widerstand gegen den IS von 2014 bis 2019 auch von westlichen Medien gefeiert wurde. Die Frauen der YPJ wurden im französischen Präsidentenpalast empfangen und waren auf den Titelseiten von Modemagazinen zu sehen, während endlose Dokumentationen und Spielfilme gedreht und Bücher darüber geschrieben wurden, wie einzigartig es sei, dass unverschleierte junge Frauen im Mittleren Osten gegen Männer kämpfen, die sie buchstäblich in Ketten legen wollten.
So konnten die kurdischen Frauen der YPJ als „Racheengel“ im ultimativen Kampf „Gut gegen Böse“ auftreten, den die westliche Berichterstattung bevorzugt. Als jedoch dieselben YPJ-Frauen von türkischen Luftangriffen getroffen wurden, ignorierte dieselbe westliche Presse die Geschichte und den moralischen Imperativ, um ihren strategischen NATO-Verbündeten nicht zu verärgern. Dies wirft die Frage auf, inwieweit der Westen sich der Universalität der Botschaft „Jin, Jiyan, Azadî“ bewusst ist, die besagt, dass Frauen das Recht haben, ihr Leben zu verteidigen und ihre Freiheit gegen jeden zu verteidigen, der sie bedroht.
Der Slogan bedeutet, dass Frauen das Recht haben, sich zu verteidigen und ihre Freiheit zu schützen, sogar durch bewaffneten Widerstand, wenn nötig. Diese Tatsache schien in Washington, Brüssel und London offensichtlich zu sein, als die YPJ sich gegen die IS-Terroristen verteidigten, aber weniger, wenn dieser Feind die Möglichkeit hat, den Zugang zum Schwarzen Meer zu kontrollieren, wie es Ankara tut.
Leider zeigt die aktuelle politische Landschaft in solchen Fällen, dass der Mut kurdischer Frauen gefeiert wird, wenn er mit den außenpolitischen Zielen der betreffenden Staaten übereinstimmt, und ignoriert oder sogar geächtet wird, wenn er diesen Zielen zuwiderläuft. Dies führt zu der paradoxen Situation, dass YPJ-Kämpferinnen als Heldinnen gefeiert werden, wenn sie einen IS-Panzer abschießen, aber nicht erwähnenswerte Opfer sind, wenn sie eine türkische Drohne angreifen. Dies wirft ein Schlaglicht auf eine weitere unangenehme Realität für westliche Politiker:innen: Die Tatsache, dass der Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ von dem kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan populär gemacht wurde, der seit 25 Jahren von der Türkei isoliert auf einer Insel gefangen gehalten wird.
Während es kaum eine demokratische Regierung gibt, die sich theoretisch gegen das Prinzip der Gleichberechtigung der Frau ausspricht, ist insbesondere der Begriff „Freiheit“ interpretationsbedürftig. Bedeutet er, dass sie die Freiheit haben, ihre eigene Sprache zu sprechen? Oder ihre eigene Autonomie oder einen unabhängigen Staat Kurdistan zu gründen? Im Falle der Kurd:innen scheint es, dass die Freiheiten der kurdischen Frauen in Iran, in Syrien und im Irak (geopolitische Feinde) von den westlichen Mächten als legitim anerkannt werden, weniger jedoch in der Türkei.
Mehr als Worte auf einem Banner
„Jin, Jiyan, Azadî“ ist nun offiziell Teil des politischen Vokabulars auf der ganzen Welt. Der Slogan wurde von Tausenden, wenn nicht Millionen Frauen rund um den Globus gerufen, was bedeutet, dass er nicht so leicht vergessen werden kann. Aber diejenigen, die diese Botschaft unterstützen, müssen verlangen, dass die drei Worte der Losung besser verstanden werden und darauf bestehen, dass die kurdischen Frauen, die „Jin, Jiyan, Azadî“ der Welt geschenkt haben, nicht ignoriert oder aus der Formel gestrichen werden. Staaten neigen dazu, radikale Ideen aufzugreifen und sie so weit zu entschärfen, dass sie für die eigene Macht ungefährlich und nicht bedrohlich werden.
So gab und gibt es immer wieder Versuche, aus „Jin, Jiyan, Azadî“ ein Klischee oder eine Botschaft auf einem Autosticker zu machen, eine Phrase, die jeder aufsagen, aber nur wenige erklären können. Mit der Zeit wird sich der kurdische Ausdruck wahrscheinlich vollständig in die englische Übersetzung verwandeln, so dass die sprachlichen Ursprünge in Vergessenheit geraten. Selbst in Iran tauchte bald die Farsi-Variante „Zan, Zendegi, Âzâdi“ auf, und auch in anderen Konflikten weltweit wurde der Slogan in die jeweilige Muttersprache übersetzt.
Die kurdische Bewegung, von der der Slogan stammt, hatte nichts dagegen, denn der Sinn von „Jin, Jiyan, Azadî“ besteht darin, ihn zu einer universellen Botschaft in allen Sprachen der Welt zu machen. Es wäre jedoch wünschenswert, dass diejenigen, die diese Botschaft übernehmen, wenigstens aus Respekt zumindest die ursprüngliche Quelle und die Jahrzehnte des Kampfes, des Schmerzes und der Gefangenschaft anerkennen, die es gekostet hat, diese Gleichung zu formulieren. Viele kurdische Frauen haben ihr Leben und ihre Freiheit aufgegeben, damit Frauen auf der ganzen Welt sie heute einfordern können. Außerdem sollte der Slogan nicht der letzte, sondern der erste Schritt sein, um tiefergehende Fragen zu stellen und mehr über die Philosophie hinter den Worten zu erfahren. Wenn man ein erfülltes Leben und wahre Freiheit für alle Frauen fordert, muss man erklären, wie man sie erreichen und schützen kann.
Der Beitrag wurde zuerst in englischer Sprache auf der Website von The Kurdish Center for Studies veröffentlicht.