Keine Diktatur hält ewig – Zur Festnahme der Ko-BürgermeisterInnen von Diyarbakır (Amed)

amed-protestvon Enzan Munzur aus Amed, ISKU, 26.10.2016

Am Abend des 25. Oktober 2016 wurden die beiden Ko-BürgermeisterInnen von Amed (Diyarbakır) von der türkischen „Anti-Terror-Polizei“ festgenommen. Gültan Kisanak wurde am Flughafen von Amed und zur gleichen Zeit Firat Anli in seiner Wohnung abgeführt. Die Wohnungen von beiden wurden etwa 2,5 Stunden durchsucht und so einiges wie Computer und Notizbücher beschlagnahmt. Der HDP-Abgeordnete von Amed, Ziya Pir, eilte zur Wohnung von Gültan Kisanak und durfte sich während der akribischen Durchsuchung in der Wohnung aufhalten. Von hier aus begann er zu twittern.

Zur gleichen Zeit riegelte die türkische Polizei das Rathaus von Amed ab und durchsuchte bis in die frühen Morgenstunden sämtliche Räume. Niemand durfte rein, hunderte schwer bewaffnete Polizisten sorgten dafür. Die Polizei schlug drei AnwältInnen von der Anwaltskammer Diyarbakır vor, welche sich sofort zum Rathaus begeben hatte, bei der Durchsuchung dabei zu sein. Diese lehnte jedoch ab, weil mindestens sechs Teams die Durchsuchung durchführen wollten und sie somit sich nicht zum Spielball einer „gesetzlich korrekten“ Durchsuchung machen wollten.

Auch wenn seit vielen Monaten von dieser nun durchgeführten Festnahme gesprochen wird, trifft es die beiden OppositionspolitikerInnen von der linken und prokurdischen HDP (bzw. DBP) und die Bevölkerung sehr hart. Seit Sommer 2015, als die türkische Regierung den Krieg in Nord(Türkisch)-Kurdistan losgetreten hat, wurden 41 Ko-BürgermeisterInnen durch das türkische Innenministerium entlassen und 24 sitzen in U-Haft. Ab Anfang September 2016 wurden 27 kurdische Kommunalverwaltungen mit Treuhändern der AKP-Regierung komplett übernommen, d.h. Bürgermeisterposten und Stadträte wurden mit neuen illegitimen Personen ersetzt. Doch diese Festnahme ist eine neue Stufe der Eskalation. Denn bei Amed handelt es sich um eine Provinzverwaltung (Metropolitan Municipality) mit mehr Befugnissen als übliche, und um die wichtigste Stadt in Nordkurdistan; es ist das politische, kulturelle und Handelszentrum. Hinzu kommt, dass beide PolitikerInnen seit vielen Jahren in der politischen Landschaft der Türkei und Kurdistans recht bekannt sind. So war Gültan Kisanak bis Anfang 2014 mit Selahattin Demirtaş die Ko-Vorsitzende der HDP.

Hunderte Menschen versammelten sich ab 22 Uhr, eine Stunde nach Beginn der Durchsuchung, bei kaltem Wetter vor dem Rathaus. Sie durften nur knapp 100 Meter bis an das Gebäude heran. Dementsprechend wurden sie über Megaphon gewarnt. Doch kam es nicht zur üblichen umgehenden brutalen Staatsgewalt mit Tränengas, Wasserwerfern und Schlagstöcken. Die ganze breite Palette der kurdischen und türkischen Presse war auch vor Ort. Während alle draußen bei Polizei und Protestierenden standen, durfte die türkische halbamtliche Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi (AA) im Gebäude live filmen. Die AA macht in aggressivster Form Propaganda für die AKP-Regierung und in diesem Sinne grinsten die Live-Reporter und betonten, dass Terroristenunterstützer nun das Gericht gemacht würde. Es ging nicht schnell genug, diese abscheulichen Bilder auszuschalten.

Dann kam eine Erklärung von Sebahat Tuncel, die 8 Jahre im Parlament saß und nun Kovorsitzende DBP ist. Im kämpferischen Ton sprach sie vor der versammelten Presse. Sie kündigte an, dass es gegen diese sich steigernde Repression des Staates nur Widerstand geben kann, und rief die Bevölkerung auf, am nächsten Tag um 11 Uhr vor das Rathaus zu kommen und zu protestieren. Über Nacht blieb eine Gruppe von wenigen Dutzend Menschen vor dem Rathaus, was größten Respekt verdient. Eine kleine Gruppe vor hunderten Polizisten, jederzeit bereit loszuschlagen.

Am nächsten Morgen begann die erwartete Repression schon um 9 Uhr früh, als noch nicht ganz so viele Menschen da waren. Die Polizei, formiert in einer Reihe, trieb dutzende Menschen ohne Ankündigung mit Schlägen weg, immer weiter weg vom Rathaus. Um 10.30 Uhr begann der eigentliche Angriff. Die Menschen sollten vertrieben werden, bevor eine größere Zahl von Menschen sich versammeln konnten. Es gab nur kurze Ansagen sich zu verstreuen, da es sich um eine illegale Ansammlung handele. Denn der Gouverneur hatte vor kurzem einfach alle Demonstrationen grundsätzlich in der Provinz verboten.

Dann ging es los. Mehrere Wasserwerfer positionierten sich und die Wasserstrahlen zielten auf die Köpfe der Menschen. Das Wasser enthielt Tränengas, was Menschen nach einer Minute riechen konnten. Sehr unangenehm. Teilweise in Nebenstraßen sich zurückziehende Menschen wurden von diesen verfolgt. Die Wasserwerfer fuhren in einem Kreis von 500 m herum und zielten auf alle Menschenansammlungen von mehr als zehn Menschen, ohne genau zu schauen, wer denn da ist. Dann marschierten immer wieder PolizistInnen auf und nahmen wahllos Menschen fest. Als eine Gruppe sich zu einem Kreis fest umarmte zueinander standen, konnten sie den Wasserwerfern langen Widerstand leisten. Das wurde kurz zu einem Hoffnungsschimmer in diesem Wahn von Angriff. Bis dutzende PolizistInnen kamen und sie sich einzeln heraus griffen.Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt

Diese Szene ist für Menschen in Amed nichts Neues, das hatten wir im Winter dutzende Male gehabt. Doch dieses Mal wurde auch vor der Abgeordneten der HDP und DBP nicht halt gemacht. Bevor die Polizei angriff, forderte sie die sechs Abgeordneten auf, sich zurückzuziehen, damit sie ungestört zuschlagen können. Als dies nicht erfolgte, war es der Polizei dann egal. Schließlich hatte die Polizei dann doch „Erfolg“ und ab 12 Uhr ebbte der Protest ab. Wir gingen eine Wohnung ganz in der Nähe hoch und setzen uns auf den Balkon, wo wir zum Rathaus wie auch in die entgegensetzte Richtung schauen konnten. Und just in diesem Moment sahen wir, wie die Polizei auf einem kleinen Auto-Parkplatz zwei Jugendliche auf den Boden befördert hatte und unter Tritten ihnen Handschellen anlegte. Die Tritte gingen weiter, als beide standen …

Parallel begleitet wurde diese Willkür von einem beispiellosen Akt der Gegenwart. In Amed und weiteren neun kurdischen Provinzen – mehr als die Hälfte Nordkurdistans – wurde das Internet komplett abgestellt bzw. die Regierung drängte alle Unternehmen zum Abschalten des Internetdienstes. Telefonieren war noch möglich und SMS Verschicken manchmal. So konnten bis zum Abend Millionen Menschen nicht online gehen. Natürlich war die Absicht, dass keine Bilder und Nachrichten in Textform von der Repression an die Öffentlichkeit gingen. Die türkeiweite und internationale Öffentlichkeit sollte so wenig und so spät wie möglich von diesem Akt der Repression erfahren. Internet gab es nur drei Stunden, dann wurde es wieder abgeschaltet …

Zuvor um 8 Uhr machte die Polizei die Ansage, dass Mitarbeiter der Provinzverwaltung in das Rathaus hinein dürften. Das taten dann einige Mitarbeiter. Jedoch nicht um zu arbeiten, sondern festzustellen, wie die Polizei dort wütete. In fast alle Räume drang die Polizei ein und öffnete die Türen mit Gewalt auf und durchwühlte alles. Vor allem die Räume des Büros der Ko-BürgermeisterInnen waren betroffen. Festplatten und einige Dossiers wurden mitgenommen. Wer weiß, was die Polizei noch den Ko-BürgermeisterInnen aufgrund dieser Durchsuchung vorwerfen. Denn die von der Regierung gesandten Beamten, die seit dem Sommer 2015 fast ununterbrochen alle Dokumente und Unterlagen im Rathaus durchgehen, konnten bisher nichts ernsthaftes finden, was ihre Festnahme legitimieren sollte. Es dürfte nicht überraschen, wenn behauptet wird, dass Belege gefunden wurden, dass Geld unterschlagen wurde und an die verbotene und als terroristisch eingestufte PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) weitergereicht worden sei.

Damit wären wir bei den vorgeschobenen Gründen für die Festnahmen. Den beiden PolitikerInnen werden unterschiedliche Vorwürfe gemacht. Während Gültan Kisanak verdächtigt wird, eine „kurdische Selbstverwaltung“ in Amed verfolgt zu haben – ausgerufen wurde sie nicht – soll Firat Anli 2014 städtische Baufahrzeuge zur Verfügung gestellt haben, um einen Friedhof für getötete PKK-Mitglieder anlegen zu lassen. In fast allen kurdischen Provinzen wurden 2013 und 2014 von Angehörigen diese Grabstätten angelegt und ab Herbst 2015 von der türkischen Armee gezielt bombardiert.

Gültan Kisanak hatte am Tag ihrer Festnahme in Ankara vor der parlamentarischen Kommission zum gescheiterten Putsch im Juli ausgesagt. In dieser kritisierte sie die Haltung der türkischen Regierung, welche den Putschversuch zum Anlass nimmt, die unliebsame Opposition ganz auszuschalten, insbesondere die AktivistInnen der kurdischen Freiheitsbewegung. Diese harte aber richtige Kritik bewahrheitete sich an ihrem eigenen Leib einige Stunden später, als sie aus dem Flugzeug am Flughafen in Amed ausstieg.

Nicht zu vergessen, seit 1999 gewinnt die HDP/DBP bzw. ihre Vorgängerparteien mit je über 50% der Stimmen das Rathaus, trotz aller Versprechen, Vorteilnahmen, dem Verteilen von Konsumgütern und Panikmachen der AKP vor den Wahlen, doch Menschen haben sich nicht kaufen lassen!

Morgen früh geht es weiter. Weitere Proteste sind angesagt, die meisten HDP-Abgeordneten haben sich in Amed angekündigt, u.a. auch Selahattin Demirtaş. Wird der Staat wie heute zuschlagen oder sich scheinbar demokratisch verhalten? Dass er keinen Respekt vor den gewählten Vertretern der Bevölkerung hat, hat er allzu gut immer wieder bewiesen.

Felekna UcaBislang ist jedoch noch kein staatlicher Zwangsverwalter (Treuhänder) für Amed eingesetzt worden. Noch könnte die Regierung zurückrudern und das Klima entspannen. Das geht ganz einfach. Aber da ist ein politischer Wille in Ankara, der um sich schlägt wie ein wild gewordener Stier, ohne die langfristigen Folgen zu berechnen. Ihnen geht es hauptsächlich um den kurzfristigen Gewinn. Über kurz oder lang werden sie verlieren, keine Diktator hält ewig. Die Bevölkerung wird die Angstschwelle überwinden und in Massen mit großer Kraft dagegen halten …

Amed, geschrieben am 26. Oktober 2016 um 23 Uhr