„Kobanê-Solidarität kann nicht kriminalisiert werden“

Am 26. April beginnt in Ankara der Prozess im sogenannten „Kobanê-Verfahren“. 108 Politikerinnen und Politiker werden im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 terroristischer Straftaten beschuldigt. Unter den Angeklagten sind neben den ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ zahlreiche weitere führende Mitglieder der Partei, 28 von ihnen sind inhaftiert.

Die HDP-Fraktion im türkischen Parlament hat angekündigt, geschlossen am ersten Verhandlungstag teilzunehmen. Der Prozess findet im Gefängniskomplex Sincan statt, die Dauer ist noch nicht absehbar. Von den inhaftierten Angeklagten werden voraussichtlich nur die in Sincan gefangenen Politikerinnen und Politiker im Gerichtssaal anwesend sein, darunter die ehemalige HDP-Abgeordnete und Frauenrechtsaktivistin Ayla Akat. Die anderen Inhaftierten sollen aus den jeweiligen Gefängnissen per Video zugeschaltet werden.

In der Anklageschrift wird die Verurteilung aller 108 Beschuldigten wegen „Zerstörung der Einheit des Staates und der Gesamtheit des Landes“ zu lebenslanger Haft gefordert. Als Nebenkläger treten in dem Verfahren neben mehr als 2.500 Einzelpersonen auch etliche Ministerien, Behörden, und Parteien als Nebenkläger auf, darunter die Ministerien für Inneres, Justiz und Verteidigung, das Ministerium für Arbeit, Soziales und Familie, die Zentralbehörde der türkischen Polizei, der türkische Geheimdienst (MIT), die Koalitionsparteien AKP und MHP, die CHP und die Hizbullah-nahe Partei Hüda Par. Auch die Nebenkläger sollen über Videoschaltung an der Verhandlung teilnehmen.

Europaabgeordnete rufen zur Solidarität auf

An dem Verfahren besteht internationales Interesse, aufgrund der Pandemie ist eine Prozessbeobachtung in Ankara jedoch schwierig. Die Kurdische Freundschaftsgruppe und mehrere Parteivorsitzende im Europaparlament laden daher zu dezentralen Solidaritätsbekundungen ein und erklären, dass die Unterstützung des Widerstands von Kobanê nicht kriminalisiert werden darf:

„Mit Bestürzung beobachten wir die jüngsten Entwicklungen in der Türkei mit systematischen Repressionen gegen gewählte Politiker und politisch motivierten Verfahren gegen die HDP. Der türkische Generalstaatsanwalt hat die Inhaftierung von 108 Personen angeordnet, darunter auch führende Vertreter der HDP. Im Oktober 2014 rief die HDP die Menschen auf, die legitimen Proteste der Bevölkerung für Kobanê zu unterstützen. Jetzt, Jahre später, werden sie für die gewalttätigen Auseinandersetzungen, die während der Proteste ausbrachen, verantwortlich gemacht und aufgrund dessen des Terrorismus beschuldigt. Damals demonstrierten die Menschen überall gegen den IS-Angriff auf die Stadt Kobanê und gegen die anhaltende Unterstützung des IS durch das türkische Regime. Die HDP fordert seit Jahren eine parlamentarische Untersuchung, um die Hintergründe der Gewalt aufzuklären, aber die regierende AKP von Präsident Erdogan hat diesen Vorschlag immer abgelehnt.“

Fototermin vor dem Europaparlament und Hashtag-Kampagne

Für den Vorstand der Kurdischen Freundschaftsgruppe teilen die Parlamentarier François Alfonsi (Grüne/EFA), Andreas Schieder (S&D) und Nikolaj Villumsen (GUE/NGL) außerdem mit: „Wir stellen uns entschieden gegen diesen Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit. Es ist in einer Demokratie inakzeptabel, gewählte Mandatsträger für Geschehnisse verantwortlich zu machen, deren Untersuchung aktiv behindert wird. Wir fordern die Öffentlichkeit, die politischen Parteien und die Parlamentarier auf, diese Angelegenheit weiter zu untersuchen.
Wir stehen in Solidarität mit der HDP, die sich dieser systematischen Repression gegenübersieht. Außerdem sagen wir, dass der Widerstand zur Unterstützung von Kobanê nicht kriminalisiert werden darf. Millionen von Menschen auf der ganzen Welt haben sich aus moralischen Gründen gegen ISIS gestellt, und wir lehnen Erdogans Politik der Kriminalisierung des Widerstands von Kobanê ab. Wie der ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, erklärte: ,Was Erdogan wirklich erschüttert, ist nicht unser Volk, das brutal ermordet wurde, sondern die Niederlage des IS in Kobanê.’

Der Prozess soll am 26. April 2021 beginnen und wird von verschiedenen politischen Gremien beobachtet. Aufgrund der COVID-19-Maßnahmen werden jedoch viele Menschen, die gerne politische Solidarität gezeigt hätten, nicht in die Türkei reisen können.

Daher möchten wir all diejenigen, die nicht reisen können, auf eine alternative Möglichkeit hinweisen. Am 26. April 2021 laden wir alle Organisationen, Parteien, Abgeordnete, Politiker und Einzelpersonen ein, mit einer Solidaritätsaktion ein Zeichen der Unterstützung zu setzen. Alle Abgeordneten können durch verschiedene Aktionsformen ihre Solidarität zeigen. Eine Fotoaktion wird an diesem Tag um 15 Uhr vor dem Europäischen Parlament stattfinden.“

Die Kurdische Freundschaftsgruppe bittet alle, die ihre Solidarität zum Ausdruck bringen wollen, ihre Aktion mit der Presse oder über soziale Netzwerke zu teilen und ein Statement mit den folgenden Hashtags abzugeben: #SolidarityWithHDP und #DefendKobani
Der Solidaritätsaufruf wird von mehreren europäischen politischen Parteien unterstützt und wurde unterzeichnet von Heinz Bierbaum, (Vorsitzender der Partei der Europäischen Linken), Evelyne Huytebroeck und Thomas Waitz, (Ko-Vorsitzende der Europäischen Grünen Partei), Lorena Lopez de Lacalle, (Vorsitzende der Europäischen Freien Allianz) und Sergei Stanishev, (Vorsitzender der SPE – Partei der Europäischen Sozialisten).

Hintergrund der Kobanê-Proteste

Am Abend des 6. Oktober 2014 war es der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) nach 21 Tagen Widerstand der Verteidigungseinheiten YPG/YPJ sowie der Bevölkerung von Kobanê gelungen, ins Zentrum der westkurdischen Stadt einzudringen. Angesichts der kritischen Situation hatte die HDP die Öffentlichkeit zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufgerufen, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete. Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstranten. Die Zahl der dabei getöteten Personen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt. Mindestens 323 Personen wurden verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen.

ANF-Artikel als Beweismittel der Anklage

Als Beweismittel werden in der 3530 Seiten langen Anklageschrift unter anderem ANF-Artikel über die politischen Aktivitäten der Beschuldigten sowie ihre Äußerungen und Interviews herangezogen. Insgesamt sind 413 Seiten unserer Berichterstattung gewidmet worden. Weitere 62 Seiten behandeln die „Strukturen von PKK/KCK“, auf deren Anweisung Selahattin Demirtaş nach Auffassung des Oberstaatsanwalts mehrere Erklärungen abgegeben haben soll, unter anderem nach einem Besuch in Kobanê am 30. September 2014.

Die Angeklagten im Kobanê-Prozess

Bei den 108 Angeklagten handelt es sich um Figen Yüksekdağ, Sebahat Tuncel, Selahattin Demirtaş, Selma Irmak, Sırrı Süreyya ÖnderGülfer Akkaya, Gülser Yıldırım, Gültan Kışanak, Ahmet Türk, Ali Ürküt, Alp Altınörs, Altan Tan, Ayhan Bilgen, Nazmi Gür, Ayla Akat Ata, Aysel Tuğluk, Ibrahim Binici, Ayşe Yağcı, Nezir Çakan, Pervin Oduncu, Meryem Adıbelli, Mesut Bağcık, Bircan Yorulmaz, Bülent Barmaksız, Can Memiş, Cihan Erdal, Berfin Özgü Köse, Günay Kubilay, Dilek Yağlı, Emine Ayna, Emine Beyza Üstün, Mehmet Hatip Dicle, Ertuğrul Kürkçü, Yurdusev Özsökmenler, Arife Köse, Ayfer Kordu (Besê Erzincan), Aynur Aşan, Ayşe Tonğuç, Azime Yılmaz, Bayram Yılmaz, Bergüzar Dumlu, Cemil Bayık, Ceylan Bağrıyanık, Cihan Ekin, Demir Çelik, Duran Kalkan, Elif Yıldırım, Emine Tekas, Emine Temel, Emrullah Cin, Engin Karaaslan, Enver Güngör, Ercan Arslan, Fatma Şenpınar, Fehman Huseyn (Bahoz Erdal), Ferhat Aksu, Filis Arslan, Filiz Duman, Gönül Tepe, Gülseren Törün, Gülten Alataş, Gülüşan Eksen, Gülüzar Tural, Güzel Imecik, Hacire Ateş, Hatice Altınışık, Hülya Oran (Besê Hozat), Ismail Özden (Zekî Şengalî, am 15. August 2018 in Şengal bei einem gezielten Angriff der türkischen Luftwaffe ums Leben gekommen), Ismail Şengül, Kamuran Yüksek, Layika Gültekin, Leyla Söğüt Aydeniz, Mahmut Dora, Mazhar Öztürk, Mazlum Tekdağ (am 1. Oktober 2019 bei einem türkischen Luftangriff in den Medya-Verteidigungsgebieten gefallen), Abdulselam Demirkıran, Mehmet Taş, Mehmet Tören, Menafi Bayazit, Mizgin Arı, Murat Karayılan, Mustafa Karasu, Muzaffer Ayata, Nazlı Taşpınar (Emine Erciyes), Neşe Baltaş, Nihal Ay, Nuriye Kesbir (Sozdar Avesta), Remzi Kartal, Rıza Altun, Ruken Karagöz, Sabiha Onar, Sabri Ok, Salih Akdoğan, Salih Muslim, Salman Kurtulan, Sara Aktaş, Sibel Akdeniz, Şenay Oruç, Ünal Ahmet Çelen, Yahya Figan, Yasemin Becerekli, Yusuf Koyuncu, Yüksel Baran, Zeki Çelik, Zeynep Karaman, Zeynep Ölbeci und Zübeyir Aydar.

Originallink: https://anfdeutsch.com/aktuelles/kobane-solidaritat-kann-nicht-kriminalisiert-werden-25782

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