“Das Verbotsverfahren gegen die HDP ist ein Angriff auf die gesamte Opposition”

Der Generalstaatsanwalt Bekir Şahin am türkischen Kassationsgerichtshof, hat am 17. März die Anklageschrift für ein Verbot der „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP) beim Verfassungsgericht eingereicht. Die Staatsanwaltschaft forderte darin die Schließung aller Einrichtungen der HDP, die Beschlagnahmung der materiellen Güter und ein Bestätigungsverbot von fünf Jahren für 687 Politikerinnen und Politiker. Nach der ersten Prüfung der Klage durch das Verfassungsgericht am 31. März, wurde der eingereichte Antrag zurückgewiesen. Es hieß, dass die einstimmige Entscheidung der Kammer, aufgrund formaler Fehler getroffen wurde. Die Anklageschrift wurde somit an die Generalstaatsanwaltschaft zurückgewiesen. Diese wird den Antrag überarbeiten und dann zu einer erneuten Prüfung an das Verfassungsgericht gesendet werden.

Im In- und Ausland stößt der Prozess, mit dem die Regierungspartei „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ (AKP) die politische Konkurrenz ausschalten will, auf Empörung. Devriş Çimen, Vertreter der HDP in Europa, erläuterte in einem Exklusivinterview mit Civaka Azad seine Einschätzung zum Verbotsverfahren.

Mitte März wurde von der türkischen Staatsanwaltschaft ein Verbotsverfahren gegen die HDP eingeleitet. Nun wurde vom türkischen Verfassungsgericht das Verfahren vorerst jedoch eingestellt, es gibt weiterhin Bestrebungen die Partei endgültig verbieten zu lassen. Wie bewerten Sie die aktuelle juristische Lage des Verbotsverfahrens?

Es gibt eine klare politische Entscheidung zu dieser Frage und die türkische Justiz versucht diesem nachzugehen. Wo die Positionen des Staatsanwalts politisch vorgegeben sind, dort lassen sich gerechte Verfahren nicht umsetzen.

Der türkisch-islamisch-konservative Machtblock der AKP-MHP-Koalition füllt das Vakuum der Demokratie durch eine Politik, die einer Diktatur gleicht. Die Türkei ist ein zentralisierter Staat. Entscheidungen werden in Ankara von Erdoğan getroffen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die HDP ausgeschaltet werden soll. Deshalb haben sie, wie bei vielen anderen Entscheidungen auch, eine politische Entscheidung getroffen und alle anderen Organe des Staates sollen sich nun daran orientieren. Das ist ein politisch motivierter Prozess, der durch solche formellen Entscheidungen des türkischen Gerichtshofes nur den Anschein einer unabhängigen Justiz erwecken soll.

Die HDP basiert auf einer politischen Tradition von mindestens 30 Jahren, der sechs Parteien vorausgegangen sind. Sie ist, wie es bereits in ihrem Namen steht, eine Partei der Völker. Aller Völker, Religionen, politischen Gruppen, die vom Staat benachteiligt werden. All diese Gruppen finden sich in der HDP wieder. Sie setzt sich auch mit einer konkreten Programmatik für eine demokratische Türkei ein. Unter einem autoritären Regime wie dem von Erdoğan und seiner faschistischen Koalitionspartei MHP, ist die Existenz der HDP der Regierung ein Dorn im Auge. Die HDP ist der Antagonist zum AKP-Regime. Diese politische Entscheidung hat zum Ziel die HDP aus dem Weg zu räumen, um somit ihre Diktatur vollends institutionalisieren zu können.

Wie sehen Sie diese juristischen Angriffe im Kontext der Politik der aktuellen AKP-MHP-Regierung?

Die AKP und MHP befinden sich im selben Boot und teilen daher das gleiche Schicksal. Wenn die eine Partei untergehen sollte, ertrinkt die andere ebenfalls. Daher müssen sie sich gegenseitig unterstützen. Ihre Weltanschauung und Basis sind auf Nationalismus, Islamismus, Konservatismus und Patriarchat begründet.

Diese „türkische Art“ hat sich die Konzentration der Macht auf die Person Erdoğans auf die Fahnen geschrieben. Dies konnte man mitunter bei der Umwandlung des Parlamentarismus in das Präsidialsystem verfolgen.

Wenn man sich die Entwicklungen genauer anschaut bemerkt man zusätzlich, dass Erdoğan systematisch Gewalt gegen KurdInnen, Frauen, Jugendliche und allgemein demokratische Kräfte ausübt. Gegen KurdInnen ist das ein offener Krieg, den die Weltöffentlichkeit größtenteils leider toleriert. Angesichts dieses „lauten Schweigens“ fühlt sich Erdoğan ermutigt, den Krieg auszubauen und weiterzuführen.

Was hier als “türkische Art” bezeichnet wird ist in Wirklichkeit der Weg in die Diktatur, wie es der italienische Ministerpräsident Mario Draghi kürzlich richtig festgestellt hatte. Aber gleichzeitig sagte er, dass die Europäische Union mit Staatschefs wie Erdoğan zusammenarbeiten müsse. Und das ist es, was wir als „Toleranz“ bezeichnen und kritisieren. Genau das ermöglicht Erdoğan, einen unbegrenzten Spielraum für seine Politik.

Gleichzeitig muss aber auch ein Augenmerk auf den Koalitionspartner der AKP, also die MHP geworfen werden. Sie ist ebenfalls eine offenkundige faschistische Partei. Oft heißt es: „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.“ Doch gilt diese Devise vielen Staatschefs der EU nicht als Hindernis, für eine Kooperation mit der Türkei. Die faschistische MHP ist an allen Verbrechen seit 2015 in und um die Türkei mitschuldig. So wurden beispielsweise die Städte Sur, Cizre, Nuseybin im Jahr 2015 dem Erdboden gleichgemacht. Neben dem permanenten Krieg gegen die „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) im Nordirak und im Südosten der Türkei, wurden zahlreiche kurdische Städte in Nord-Ostsyrien (Rojava), wie etwa Afrin, Serêkaniye, Gire Spî besetzt und die einheimische Bevölkerung zu Flucht getrieben. Auch die Beteiligung an den Kriegen in Libyen, der Berg-Karabach-Region und die anhaltenden Provokationen im Mittelmeer zeigen, welche Auswirkungen die „türkische Art“ unter der AKP-MHP-Regierung mit sich bringt. Die juristischen Angriffe im Inland reihen sich somit in die verbrecherische Reihe dieser Politik ein. Das Schweigen der Europäischen Union bekräftigt daher nicht nur die aggressive türkische Außenpolitik, sondern wird auch als Freifahrtschein im Inland aufgefasst.

Neben den Verbotsbemühungen der AKP-MHP-Regierung, wurden auch mehrere HDP-Mitglieder festgenommen und verurteilt. Die Verurteilung und Verhaftung des HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioglu, ist hierbei nur ein Beispiel dieser breiten Verhaftungswelle. Was ist das Ausmaß dieses Angriffes auf HDP-Abgeordnete und Mitglieder aktuell? Wie sieht die Reaktion der HDP auf diese Kriminalisierungskampagne aus?

Wir reden hier von einer systematischen Repression gegenüber der HDP, die seit 2015 ununterbrochen fortgeführt wird. Das Verbotsverfahren gegen die HDP und die Inhaftierung von Ömer Faruk Gergerlioğlu, bei welchem seine parlamentarische Immunität aufgehoben wurde, bildet nur die Spitze des Eisberges. Seit 2015 wurden über 10 Tausend HDP-Mitglieder inhaftiert. Einige Tausende kamen nach bestimmten Haftstrafen wieder frei, jedoch gibt es derzeit weiterhin zehntausende politischer Gefangene in der Türkei. Unter ihnen sind immer noch mehr als 4000 HDP-Mitglieder, einschließlich der Abgeordneten, Co-BürgermeisterInnen und weiterer führender Parteipersönlichkeiten.

Während der Wahlperiode von 2015-2018, wurde die Immunität von elf ParlamentarierInnen aufgehoben. Sechs ParlamentarierInnen (Selahattin Demirtaş, Figen Yüksekdağ, İdris Baluken, Çağlar Demirel, Abdullah Zeydan, Gülser Yıldırım) wurden in dieser Folge zu langen Haftstrafen verurteilt. Für die Wahlperiode ab 2018 wurde den gewählten ParlamentarierInnen, Leyla Güven, Musa Farisogullari und Ömer Faruk Gergerlioglu die Immunität aufgehoben und in Folge dessen verurteilt und inhaftiert.

Alleine bei den letzten Kommunalwahlen im Jahr 2019, wurden von 65 Kommunen, die von der HDP gewonnen wurden, 49 Kommunalregierungen durch „Statthalter“ ersetzt. 37 kommunale Co-Vorsitzende, darunter 19 Frauen, wurden in dieser Verhaftungswelle inhaftiert, von welchen 15 kommunale Co-Vorsitzende, darunter sieben Frauen weiterhin inhaftiert sind. Sechs kommunale Co-Vorsitzende stehen unter Hausarrest.

Wir als HDP, bezeichnen diese Inhaftierungen als Geiselnahme durch die AKP-MHP-Regierung. Außer Widerstand gegen diese systematische Repression und diese Geiselnahme-Politik der AKP-MHP-Regierung bleibt der HDP keine weitere Handlungsmöglichkeit.

Anfang April besuchten die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident, Charles Michel den türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan um die Kooperation zwischen der EU und der Türkei auszubauen. Wie bewerten Sie dieses Treffen und gibt es hierzu eine öffentliche Positionierung der HDP?

Neulich haben die Co-Sprecher der HDP für Auswärtige Angelegenheiten, Feleknas Uca und Hişyar Özsoy sich mit einer Stellungnahme dazu geäußert. Dabei hieß es: „Die Botschaft, die derzeit an die türkische Regierung gesendet wird, ist falsch und gefährlich: Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sind für die EU weniger relevant als geopolitische Interessen. Diese Art der Kommunikation schadet der Glaubwürdigkeit und dem internationalen Image der EU ernsthaft und vermittelt dem großen Teil der pro-europäischen und pro-demokratischen türkischen BürgerInnen, die sich immer noch hoffnungsvoll der EU zuwenden, eine entmutigende Botschaft. […] Die Menschen in der Türkei haben mehr verdient, als nur als BürgerInnen eines “Geschäftspartners” behandelt zu werden. Jede/r BürgerInnen das Recht auf eine bessere Grundlage in Bezug auf Demokratie und Menschenrechte verdient. Natürlich sollte die EU versuchen, die Beziehungen zur Türkei zu verbessern, aber die Völker innerhalb der Türkei sollten die Art und Weise, wie dies geschieht, nicht als Ermutigung für die Politik der Unterdrückung empfinden, mit der sie täglich konfrontiert sind.“

Die Türkei ist nicht Erdoğan und Erdoğan ist nicht die Türkei. Aber die EU-Spitze hat in der Türkei Erdoğan als alleinigen Ansprechpartner gefunden und ihm daher Legitimität und Rückenwind für all seine Praktiken gegen KurdInnen, gegen die HDP und die demokratische Opposition verschaffen. Die EU-Spitze toleriert alle Verstöße gegen die Rechte der Menschen und bestärkt die systematische Repression und Kriminalisierung zu Lasten der Menschen in der Türkei. Die europäische Öffentlichkeit und Politik muss sich mit dieser unakzeptablen Politik der EU-Spitze auseinandersetzen und diese kritisch hinterfragen. Würde es in einem anderen Land so viele Unterdrückung, Inhaftierung und systematische Kriminalisierung geben, wäre ein solcher Besuch mit der dafür verantwortlichen Staatsführung Anlass für einen Aufschrei. Dieser Aufschrei bleibt bis auf wenige, demokratisch denkende Menschen aus. Antworten darauf, warum dieser Aufschrei ausbleibt haben wir nicht. Dazu sollten die BürgerInnen der EU und alle demokratischen Parteien Stellung beziehen.

Wenn Sie einen Ausblick auf die künftige politische Lage der Türkei und Ihrer Partei wagen, wie sehe diese aus und wie wird sich die HDP positionieren?

Ich habe bereits versucht zu schildern, wie die Demokratie in der Türkei durch die Politik Erdoğans und durch die Toleranz der EU für diese Politik gefährdet wird. Es gibt sehr große demokratische Defizite, die ein Machtvakuum entstehen lassen, welches sich wiederum durch Diktatur und Faschismus allmählich anfüllt. Ein Verbot der HDP ist daher ein offen erklärtes Ziel, dieser faschistoiden Regierung. Doch die HDP ist keineswegs eine Partei, die sich mit einem Verbot ausschalten lässt. Es ist nicht die Parteiführung, die die HDP ausmacht, sondern es sind die über sechs Millionen WählerInnen, welche hinter der HDP stehen und ihr Ausdruck verleiht. Die WählerInnen der HDP messen die politische Arbeit nicht an den Richtlinien der AKP, sondern an den Maßstäben der Freiheit, der Demokratie und den Forderungen der Menschen nach Frieden in der Türkei und Kurdistan.

Die HDP versteht sich als eine demokratische, ökologische und auf der Freiheit der Frau basierende Alternative, die trotz Repression und Kriminalisierung immer weiter anwächst. Auch wenn es der AKP gelingen würde, die HDP zu verbieten, so werden die Forderung und der Wunsch nach Freiheit und Demokratie stets lebendig bleiben und stärker hervorgehen. Hanna Arendt sagte einst: „Der Sinn der Politik ist die Freiheit“. So werden die Menschen, die nach Freiheit streben, ihrem Lebenssinn nachgehen. Sei es mit oder ohne HDP – die Idee wird weiterwachsen.

Die Position der HDP ist in dieser Hinsicht offen und klar. Die Haltung der anderen Oppositionsparteien in der Türkei hingegen fragewürdig. Die Demokratie in der Türkei und anderswo sollte stets offen gestaltet werden und Meinungen, Positionen, Völker, Religionen, Sprachen und Kulturen einschließen und nicht ausschließen. Wenn die anderen Oppositionsparteien in der Türkei sich nicht gegen dieses politisch vorgegebene Verfahren stellen werden, werden sie selbst die nächsten sein, die ausgeschlossen werden. Der Versuch, die HDP zu schließen, ist also ein Angriff auf die gesamte Opposition. Entweder werden sich alle Oppositionsgruppen – ob sie wollen oder nicht – mit der HDP solidarisieren oder Erdoğan und die faschistische MHP werden ihre Macht und Diktatur ausbauen und manifestieren. Mit dieser Verbotspolitik der AKP-MHP-Regierung wird der Hoffnung der Menschen in der Türkei auf Demokratie und Freiheit nachhaltig geschadet. Die HDP und ihre starke Basis werden jedoch so lange Widerstand leisten, bis sich in der Politik ein Gesprächspartner für eine demokratische Türkei anbietet.

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