Der kurdische Jahrhunderttraum

vorbreitungstreffenZwischen dem 25. und 27. November* wird der kurdische Nationalkongress in Hewlêr (Erbil) stattfinden

Nilüfer Koç, Mitglied im Vorbereitungskomitee des kurdischen Nationalkongresses

Nach dem Verkünden der neuen politischen Offensive durch den Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, Abdullah Öcalan, bei den Newrozfeierlichkeiten 2013 in Amed (Diyarbakir), hat eine neue strategisch-politische Ära der Kurden begonnen. Es ist die Ära, in der die Kurden vom Objekt zum Subjekt der regionalen und internationalen Politik werden. Ausschlaggebende Kriterien für diese neue Phase sind die rasanten politischen und gesellschaftlichen Veränderungen im Mittleren Osten, wo die Balance zwischen Konfrontation und Kooperation regional und international fast täglich variiert. Das politische Chaos der Region bedarf einer politischen und gesellschaftlichen Neustrukturierung – die Erwartungen sind unterschiedlich.

Während die Völker, allen voran die Kurden, das Chaos durch eine neue politische und gesellschaftliche Gestaltung in Form von Demokratie, Frieden und Sicherheit beenden wollen, geht es den hegemonialen Staaten um wirtschaftliche und weltmachtpolitische Interessen.

In diesem Zusammenhang sind es die Kurden unter den Völkern der Region, die eine politisch-gesellschaftliche Vision eigenständig organisieren. Ein wesentlicher Fehlschlag des arabischen Frühlings war, dass es den Völkern an eigenständigen Organisierungsstrukturen fehlte. Menschen in den arabischen Ländern waren und sind bereit, alles für Demokratie und Frieden zu opfern, doch fehlt es ihnen an gut koordinierten und organisierten Strukturen. Es fehlt die politische Avantgarde.

Dies kann von den Kurden nicht behauptet werden, da die kurdische Freiheitsbewegung einerseits der Politik des Mittleren Ostens mächtig ist und andererseits sich die Bevölkerung in den letzten 30 Jahren zum selbstständigen politischen Handeln befähigen konnte. Eine Lehre, die die Kurden aus den früheren Aufständen gezogen haben, ist die, dass Kampf um Selbstbestimmung und Freiheit einer guten Koordination, Organisierung, Vernetzung, Flexibilität und der Fähigkeit, in allen Situationen eigenständige politische Entscheidungen treffen zu können, bedarf.

Eine weitere wichtige politische Chance für die Kurden besteht darin, dass das langjährige Anti-Kurden-Bündnis zwischen der Türkei, dem Iran und Syrien keinen Bestand mehr hat. Diese Staaten handelten als politische Koalition gegen die kurdische Bevölkerung. Das hat sich verändert, heute sind sie eher auf einem Konfrontations- als auf einem Kooperationskurs. Ihnen geht es heute nur noch darum, in dem herrschenden Chaos der Region bestehen bleiben zu können. Für ihre Zukunft wird die Lösung der kurdischen Frage eine entscheidende Bedeutung haben. Den Diskurs hierzu wird der kurdische Kongress in der südkurdischen Hauptstadt Hewlêr (Arbil) anleiten, der vom 15. bis 17. September stattfinden soll.

Unter der Berücksichtigung dieses Aspektes hat Öcalan die Kurden dazu aufgerufen, die historische Chance zu ergreifen, gemeinsam mit allen Nachbarvölkern eine gemeinsame Zukunftsvision zu entwickeln. Hierfür hat er konkret vier Kongresse vorgeschlagen, auf denen Kurden gemeinsam mit anderen ethnischen, religiösen, kulturellen Gruppen, oder anders gesagt, mit allen, die ein Problem mit dem herrschenden System der Türkei haben, diskutieren. Mit neuer Hoffnung haben verschiedene Völker, oppositionelle politische Gruppen und religiöse Glaubensgemeinschaften die Einladung Öcalans angenommen und Kongresse in Ankara, in der nordkurdischen Stadt Amed und die dritte in Brüssel durchgeführt. Auf den bisher stattgefundenen Kongressen sind gemeinsame Organisierungsstrukturen beschlossen worden. Neben der gemeinsamen Ausarbeitung von Zukunftsvisionen sind auch gemeinsame Planungen zur Demokratisierung des türkischen Staates beschlossen worden.

Als vierten und letzten Kongress hatte Öcalan den kurdischen Nationalkongress vorgeschlagen. Dem folgend vermittelte die PKK die Einladung Öcalans an alle politischen Parteien in Süd-, West-, Ost- und Nordkurdistan. Trotz einiger Bedenken ist diese Einladung zu einem kurdischen Nationalkongress positiv aufgegriffen worden. Der Höhepunkt dieses monatelang geführten innerkurdischen Dialogs zeigte sich auf der 13. Generalversammlung des KNK (Kurdistan Nationalkongress) am 25./26. Mai 2013 in Brüssel. Erstmals haben die drei politisch führenden Kräfte Kurdistans, die PKK, PDK und YNK gemeinsam zu einem nationalen Kongress offiziell aufgerufen. 50 weitere kurdische Parteien unterstützt dies auf der Generalversammlung des KNK.

Mitte Juli war ein Konsens zur Durchführung des Kongresses erreicht worden. Der Präsident der Autonomen Region Kurdistan Irak, Masud Barzani, hatte alle kurdischen politischen Parteien im Namen des Generalsekretärs der VNK, Celal Talabani, und des Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, eingeladen. Dieser Einladung folgten 71 Vertreter von 39 politischen Parteien und Organisationen aus allen Teilen Kurdistans. Sie trafen sich am 22. Juli in Hewlêr. Auf die Teilnahme von Frauen an diesem Treffen hatte die kurdische Frauenbewegung KJB (Hoher Frauenrat) einen besonderen Schwerpunkt gelegt. Mit großem Verantwortungsbewusstsein wurde eine gemeinsame Entscheidung getroffen, den jahrhundertealten kurdischen Traum der nationalen Einheit zu erfüllen. Allen ist bewusst, dass in der Gemeinsamkeit die Stärke liegt. Eine historische Entscheidung wurde gefällt und für die Vorbereitung ein 21-köpfiges Komitee ernannt, an dem sich vier Frauen beteiligen.

Zum Kongress werden kurdische Delegierte aus den vier Teilen Kurdistans und der kurdischen Diaspora eingeladen und Vertreter der UN, der Islamischen Konferenz, der Arabischen Liga, der Türkei, Irans, Iraks, der EU, der USA, Russlands; asiatische und afrikanische Staatsvertreter können als Gäste teilnehmen. Als Gäste werden auch zahlreiche Freunde und Freundinnen des kurdischen Volkes teilnehmen können. Neben den 600 Delegierten werden insgesamt 300 Gäste eingeladen.

Es ist von Bedeutung, dass der kurdische Nationalkongress eine klare politische Botschaft vermitteln wird. Nach wie vor betrachten viele Staaten die kurdische Einheit als eine Gefahr für ihre Souveränität. Diesem Kongress ist es ein primäres Anliegen, Forderungen aufzustellen, die ohnehin international rechtlich und politisch legitimiert sind. Eine wesentliche Forderung wird das Recht auf Selbstbestimmung sein. Das Recht auf Selbstbestimmung heißt für die Kurden, Lösungswege zu finden, die jeweils den Wünschen der Kurden in den verschiedenen Staaten entsprechen. Das bedeutet, ein einheitliches Modell für die Lösung wird es für sie nicht geben können, da sich die politische und gesellschaftliche Situation in den einzelnen Ländern zu stark voneinander unterscheidet. Während die Kurden in der Türkei das Selbstbestimmungsrecht in der Form einer Demokratischen Autonomie entwickeln, haben die Kurden im Irak die Föderation akzeptiert. Die Kurden im Iran fordern politische Bewegungs- und Organisierungsfreiheit, die Einstellung von Hinrichtungen, während die Kurden in Syrien eine lokale Selbstverwaltung in einem neuen demokratischen syrischen Staat anstreben. Deswegen beinhaltet die konkrete kurdische Definition des Selbstbestimmungsrechtes keine neuen Grenzverläufe, sondern Organisierungsmodelle wie Autonomie, Demokratische Autonomie, föderale oder konföderale Lösungen. Der Kongress wird es der Bevölkerung in den jeweiligen Teilen Kurdistans überlassen, für welches Modell sie sich entscheiden wird.

Der Kongress wird neben der Türkei auch dem Iran einen akzeptablen Lösungsansatz für einen gemeinsamen Demokratisierungsprozess vorlegen. Die Kurden haben ihre politische Aufrichtigkeit sowohl in der Türkei als auch in Syrien unter Beweis gestellt. Die PKK hat die zwischen dem PKK-Vorsitzenden und dem türkischen Staat vereinbarten Kriterien erfüllt. Seit März ist ein friedlicher Prozess eingeschlagen worden, ohne militärische Auseinandersetzungen. Genauso haben die Kurden in Syrien einen politischen Weg eingeschlagen, der auf Selbstbestimmung und Selbstorganisierung beruht. In dem Aufteilungskrieg um Syrien gibt es mittlerweile mehrere Fronten. Die eine verläuft zwischen den USA, Saudi-Arabien, Qatar, der Türkei, einigen EU-Staaten (darunter auch Deutschland) einerseits und auf der anderen Seite Russland, China und der Iran. Die Kurden haben ihre eigene Front, den dritten Weg, für ein pluralistisches demokratisches Syrien ohne externe Interventionen entwickelt. Gegen diese dritte Front wurde in den letzten Monaten eine brutale rechtlose Armee u.?a. der Al-Qaida eingesetzt. Die beiden beschriebenen Fronten üben dabei einen enormen Druck auf die kurdischen politischen Parteien aus. Während die Partei der Demokratischen Einheit PYD auf dem dritten Weg beharrt, reagiert die Autonome Region Kurdistan im Irak auf den Druck eher labil. Deshalb wird der Kongress vor allem diese Region entlasten. Aufgrund dieses Drucks hält die PDK seit mehreren Wochen die Grenze zwischen Süd- und Westkurdistan geschlossen und verhindert damit humanitäre und wirtschaftliche Unterstützung für die Zivilbevölkerung, die dringend benötigt wird. Das Vorbereitungskomitee für den kurdischen Nationalkongress bemüht sich dringlich, die PDK zum Öffnen der Grenzübergänge zu bewegen, denn diese Haltung belastet die Strategie der nationalen Einheit. Es bietet ein paradoxes Bild. Es kann nicht sein, dass einerseits für die Teilnahme an dem nationalen Kongress geworben wird, während auf der anderen Seite die Grenze geschlossen bleibt.

Ein weiteres Anliegen des Kongress wird es sein, eine nationale Außen- und Innenpolitik unter den kurdischen politischen Parteien zu entwickeln. Es spricht nichts dagegen, wenn eine politische Partei in Südkurdistan/Nordirak ein diplomatisches Bündniss mit der Türkei pflegt. Problematisch wird dieses Bündnis, wenn diese kurdische Partei die politischen Interessen der Kurden in der Türkei nicht berücksichtigt oder wenn sie gar gegen eine kurdische politische Partei in der Türkei dieses Bündnis richtet. Deshalb wird der Kongress Kriterien der kurdischen Außenpolitik definieren, die auf gegenseitiger Solidarität und Zusammenarbeit beruhen.

Ein wichtiges Thema des Kongresses wird sein, eine gemeinsame diplomatische Struktur aufzubauen. Das heißt, eine gesamtkurdische Vertretung auf internationaler Ebene, bei der Islamischen Konferenz, der Arabischen Liga, einen Beobach­terstatus in den UN.

Auf der Agenda des Kongresses steht auch, gesellschaftliche, wirtschaftliche, ökologische Probleme der kurdischen Gesellschaft zu debattieren und Lösungsvorschläge auszuarbeiten. Vor allem werden die Situation der Frau, der Jugend, die Freiheit der verschiedenen Glaubensgemeinschaften, Probleme zivilgesellschaftlicher Organisationen aufgegriffen werden.

Zu diesen verschiedenen Problemfeldern gibt es acht Kommissionen aus allen politischen und gesellschaftlichen Bereichen. Die Kommissionen bereiten Entwürfe zu verschiedenen Themenbereichen vor. So gibt es die Kommission für gemeinsame Prinzipien und die Strategie für eine demokratische Lösung, die Kommission für Politik und Diplomatie, die Kommission für eine freie Gesellschaft (Frauenkommission, Jugendkommission, Kinderkommission, Kommission für NGOs), die Kommission für Kultur, Sprache, Kultur und Bildung, die Kommission für Ökonomie und Ökologie, die Kommission für Selbstverteidigung, die Pressekommission sowie die Kommission für das Organisierungsmodell des Nationalkongresses. Eine besondere Botschaft des Kongresses wird es für die Völker geben – Araber, Assyrir, Aramäer, Armenier, Perser, Turkmenen, Drusen –, die mit den Kurden zusammenleben. Dies wird ein besonderes Anliegen des kurdischen Kongresses sein.

Die Zusammensetzung der 600 Delegierten aus den vier Teilen Kurdistans und der Diaspora wurde ebenso festgelegt. Unter den 600 sollen 10 % Jugendliche, 10 % kurdische unabhängige Persönlichkeiten, Akademiker, Intellektuelle usw., 35 % Vertreter von NGOs, 45 % von politischen Parteien sein. Unter den 600 Delegierten ist eine Geschlechterquote von 40?% festgelegt worden.

Die Vorbereitungsarbeiten für den kurdischen Kongress liefen täglich vor dem Hintergrund rasanter politischer Veränderungen, vor allem in Syrien. Der außerhalb jeglicher Konvention brutal geführte Krieg in Rojava (Westkurdistan/Syrien) erzeugte den Druck, den Kongress so schnell wie möglich durchzusetzen, um für die dort lebenden Kurden eine nationale Lösung auszuarbeiten. Obwohl des Öfteren sowohl der Türkei als auch dem Iran mit öffentlichen Stellungnahmen die Friedensabsichten dieses Kongresses vermittelt wurden, waren sie dennoch nicht bereit, dem kurdischen Willen respektvoll zu begegnen.

Das Vorbereitungskomitee, das aus verschiedenen politischen und ideologischen Kreisen stammt, hat als nationales Team zusammengearbeitet, denn allen Mitgliedern ist bewusst, welche Erwartungen das kurdische Volk mit diesem Kongress verbindet. Schließlich geht es darum, den uralten kurdischen Traum von nationaler Einheit zu verwirklichen. Der Kongress ist ein erster, historischer Beginn. Schafft er es im politischen Chaos des Mittleren Ostens, den Traum der Kurden von Freiheit zu verwirklichen, wird er auch ein historischer Beitrag für alle, die ebenso um Freiheit ringen.

Quelle: Kurdistan Report Nr. 169 September/Oktober 2013

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* Das Vorbereitungskomitee des Kurdischen Nationalkongresses hat schriftlich mitgeteilt, dass der Kongress, der ursprünglich vom 15.–17. September in Hewler (Erbil) stattfinden sollte, zum zweiten Mal, nun auf den 25.–27. November, verschoben worden ist. Im obigen Artikel war zunächst noch das alte Datum erwähnt, ist allerdings nach Bekanntwerden der Verschiebung von uns korrigiert worden. Mehr zur Verschiebung des Nationalkongresses hier

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