Die wichtigste Frage ist, wer die Macht über diesen Körper ausübt, aber:
Natürlich gehört unser Körper uns!
Fadile Yildirim, Frauenrechtsaktivistin
„Wenn ich zum Spazierengehen aus meinem Haus gehe, dann ist unter jedem Baum im Park ein Pärchen zu sehen. Jeder Strauch ist wie ein Schlafzimmer. Es ist alles zu sehen. Und dies lässt mein Blut gefrieren.“ (Ali Osman Kaya, der von der AKP eingesetzte Sicherheitschef von Bursa, im April 2012)
„Auf den Straßen ist bei den Frauen alles, sogar intime Stellen, zu sehen. Leider hat sich ein großer Teil unseres Landes zu einem offenen und freien Bordell gewandelt. Es ist viel Schlimmes zugelassen worden, was von der islamischen Religion, der nationalen Kultur und Ethik als Prostitution (Geilheit) bewertet wird.“ (aus einem Artikel Mehmet Sevket Eygis von April 2012 in der Zeitung Milli Gazete, die bekannt ist für ihre Nähe zu Milli Görüs1)
„Hast du schon oft abgetrieben? Ist das der Grund für dein lautes Geschrei?“ (Antwort des AKP-Bürgermeisters von Ankara, Melih Gökçek, an eine mit ihm diskutierende Frau im Mai 2012 auf Twitter)
„Jede Abtreibung ist ein Roboskî2.“ und „Ich möchte in meinem Land mindestens drei Kinder. Und das sofort.“ (Ministerpräsident und AKP-Vorsitzender R. Tayyip Erdogan) [Erdogan drängt seit Jahren auf die Geburt von mindestens drei Kindern pro Familie; Anm. d.?Ü.]
„Abtreibung ist in unserer Religion nicht zulässig.“ (der von der AKP ins Amt des Vorsitzenden des Präsidiums für Religionsangelegenheiten in der Türkei berufene Mehmet Görmez)
„Abtreibung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Würden die in den Bäuchen der Mütter lebenden Babys getötet, dann wäre dies noch dramatischer als die Tat der Vergewaltiger, es wäre eine Mittäterschaft. Es gibt andere Lösungen, denn wenn sich die Mutter nicht darum kümmern will, kann der Staat sie an sich nehmen.“ (der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des türkischen Parlaments und AKP-Abgeordnete von Sakarya, Ayhan Sefer Üstün)
„Abtreibung ist Mord. Auch die Babys, die durch eine Vergewaltigung entstehen, müssen geboren werden. Wenn nötig kümmert sich der Staat um sie.“ (AKP-Gesundheitsminister Recep Akdag)
„Erst den Ehebruch zu akzeptieren und dann über eine Abtreibung zu klagen, das ist wie einen Sumpf zu begießen und sich dann über die Fliegen zu ärgern. Natürlich muss Abtreibung verboten werden. Aber vorher muss der eigentliche Sumpf stillgelegt werden, d.?h. Ehebruch muss wieder unter Strafe gestellt werden.“ (stellvertretender Vorsitzender der Saadet Partisi, Birol Aydin)
Und was nicht noch alles. Die Worte schwirren nur so in der Luft. Fast schon wie ein Wettkampf. Wer redet, der redet. Und alle sind Männer. Und sie reden über die Frau. Also über uns. Über unsere Körper. Unsere Identität. Unsere Sexualität. Unseren Willen. Im Grunde über alles von uns. Die Diskussionen der Männer der AKP, angeführt vom Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan, über Abtreibung werden in der Türkei und auf der Welt auf unterschiedliche Art und Weise geführt.
Einige Gruppen in der Türkei sagen, sie würden geführt, um die „Tagesordnung zu ändern“, sei es auch in Verbindung mit dem Massaker von Roboskî oder anderweitig. So oder so, die Situation ändert sich nicht. Und es geht auch nicht um eine schlichte Änderung der Tagesordnung, weil es ja ums Thema Frauen geht. Dies ist auch keine kleine Hürde, die wir mal eben so überwinden können. Sondern es ist eine Frage der Ideologie. Dies sind grundlegende ideologische Diskussionen einer Gesellschaft über das Verschleiern und die Umformung im Sinne der Männer. Es ist also kein Thema, was mal so eben zu schlucken und zu verdauen ist. Es ist auch nicht so, wie einige sagen, dass „wir uns nicht davon aufhalten lassen sollten, dass wir nicht darüber diskutieren und politischer an die Sache herangehen“. Denn es wird über unsere Art zu leben geredet, diskutiert und entschieden. Und das heimlich, verräterisch und niederträchtig.
Es kann nichts Natürlicheres geben, als dass wir Frauen darüber reden, wenn andere ihre Spielchen und Pläne mit unseren Körpern, unserer Sexualität machen. Natürlich müssen die Frauen eine Antwort haben, wenn manche mit ihren primitiven und rückständigen moralischen Ansichten versuchen, uns Manieren beizubringen.
Wenn wir auf vergangene Geschehnisse zurückblicken, dann hat es den Anschein, als sei es schon eine Zeitlang vorbereitet worden. Wir sollten nicht ungerecht gegenüber der Gerechtigkeits- und Aufschwungspartei AKP sein. Sie haben sich doch schon einige Gedanken gemacht. Das ist nichts Spontanes. Es gibt doch so Situationen, wo man etwas sagen möchte, aber nur nach Zeit und Möglichkeiten sucht. So in die Richtung geht es. Man legt sich auf die Lauer, wartet Zeit und Ort ab, und dann endlich wird frei und offen gesagt, was zu sagen ist.
Wie in jedem männlich beherrschten System wird zunächst bei der Frau begonnen, wenn die Gesellschaft neu formiert werden soll. Denn die Frau ist der Grundpfeiler der Gesellschaft. Das Design muss dort begonnen werden, um Macht über die gesamte Gesellschaft zu erlangen. Erst der Körper, dann Sexualität, dann das gesamte Leben der Frau. Denn faktisch dreht sich das Gesellschaftliche um die Frau. Wenn der Gesellschaft ideologisch etwas auferlegt werden soll, dann muss dies natürlich auf der gesellschaftlichen Ebene angegangen werden. Das Bestehende soll durch etwas anderes ersetzt werden.
„Und auf einmal merkten wir, dass auch wir verschleiert sind“
Ich werde nie vergessen, wie eine marokkanische Aktivistin bei einer Diskussion ein sehr deutliches Beispiel für die gesellschaftlichen Veränderungen in Marokko brachte. Sie erzählte davon, wie auch dort eine machthabende Partei, wie die AKP, vom gemäßigten Islam, von konservativ/demokratisch, von Laizismus usw. redete und so mit der Zeit das gesellschaftliche Gefüge veränderte. Dort hatte kein Putsch im klassischen Sinne stattgefunden. Das soziale Gefüge der dortigen Gesellschaft wurde nach und nach in ein Land verwandelt, das auf den Gesetzen der Scharia beruhte. Sie erklärte ihre Lage wie folgt: „Zunächst waren nur ein paar Frauen verschleiert. Das haben wir gar nicht wahrgenommen. Später nahm die Zahl der verschleierten Frauen zu. Wir sagten nur: Was soll’s? Mit der Zeit nahm die Zahl der verschleierten Frauen weiter zu und sie fingen an, Frauen anzugreifen, die sich wie ich anders kleideten. Der gesellschaftliche Druck nahm zu. Frauen wie ich wurden nun zur Zielscheibe. Wir hatten diese Veränderungen, die vor unseren Augen stattfanden, nicht wahrgenommen. Und als einige Dinge sich durchgesetzt hatten, waren wir zu spät. Und auf einmal merkten wir, dass auch wir verschleiert sind.“
Ja, es ist richtig, dass diese Dinge nicht durch einen blutigen Putsch kamen. Diese Veränderungen sind durchgesetzt worden, ohne dass die Gesellschaft es gemerkt hat. Die Gesellschaft hat in dieser Veränderungsphase sogar als relevanter Akteur oder mit ihrer Zustimmung eine Rolle gespielt. Viele Änderungen haben durch Zustimmung der Gesellschaft im Namen des Rechts, der Gesetze, der Moral stattgefunden. Das soziale Gefüge ist geändert worden. Die Machthaber gestalten unter dem Deckmantel des Islam und angelehnt an die Traditionen der Vergangenheit das gesellschaftliche Projekt nach ihren Vorstellungen.
Und macht die AKP etwas anderes? Natürlich nicht. Aber was uns hier auffällt, ist, dass alle gesellschaftlichen Schöpfungen zunächst bei der Frau beginnen. Es ist das Erbe einer Kultur des herrschenden Mannes.
Der Kampf um die Beherrschung der Frau
Lasst uns kurz nachdenken: Was ist das wahre Problem und der Widerspruch der Zivilisation, seit es Klassen gibt? Die wichtigste Frage ist, wer die Macht über diesen Körper ausübt. Glaubt mir, dies ist die Frage, um die sich alle Kämpfe der staatlichen Zivilisation seit 5?000 Jahren drehen. Wer ist Besitzer der Frau? In diesem Besitzkampf geht es darum, dass das männliche Herrschaftssystem so lange existiert und die Frau schon so lange unter Kontrolle steht. Der Körper der Frau ist während der ganzen Geschichte immer das wichtigste Glied der Ideologie der Kolonialisierung gewesen. Alle anderen Versklavungen sind zeitlich gesehen nach der Versklavung der Frau entwickelt worden.
Die Produktivität und Fruchtbarkeit der Frau, von der die Fortführung der Klassengesellschaft abhängt, unterliegt in der Phase der Ausbeutung der Frau noch immer der vollkommenen Kontrolle und Führung. Dies ist wirklich ein tödlicher Kontrollmechanismus betreffend den Körper der Frau, ihre Sexualität, ihre Gebärfähigkeit, ihren Willen!
Dass der Körper und die Sexualität der Frau ständig unter der Beobachtung und der Kontrolle der Familie und der gesellschaftlichen Institutionen Bildung, Recht, Medizin, Sprache und Religion stehen, bildet im Kern das Besitztum über die Frau. Denn die traditionelle Kultur, die auf dem Körper der Frau aufbaut, definiert, wie Frauen sich verhalten, was sie fühlen, wie sie denken, wie sie leben und wie sie sterben. Und dies begründet den Kern vom gesellschaftlichen Sexismus. Gesellschaftlicher Sexismus ist in Wahrheit eine frauenfeindliche Ideologie, eine Erfindung der Männer. Kulturen, Religionen, Gesetzessysteme und wissenschaftliche Studien herrschen mit diesen intellektuellen Entwicklungen. Das männliche Denken ist im Kern die erste Antirevolution gegen die Frau, die er durchgeführt hat. Entlang dieser Antirevolution werden die Begriffe Weiblichkeit, Männlichkeit, Ehe, Unschuld, Jungfräulichkeit, Moral, Keuschheit und weitere neu definiert und vergesellschaftet. Aber hinsichtlich Sexismus sind die Sexualität der Frau und ihre Identität Knotenpunkt aller Ideologien. „Der Körper der Frau öffnet nicht den Weg zum Problem, sondern die Art, wie in diesen Körper investiert wird.“ (Judith Butler) In dieser Hinsicht sind alle Definitionen basierend auf der weiblichen Identität vorgenommen worden.
Die Frau kann nicht entsprechend dem Ehrverständnis des Mannes eingeschränkt werden
Diesem Denken nach ist die Frau von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod dazu gezwungen, nach dessen Vorstellungen vom Körper zu leben. Wie bereits gesagt, der sexistischen Ideologie zufolge findet sich die Identität der Frau nicht nur „zwischen ihren Beinen“. Wie der Sicherheitschef von Bursa sagte, das Verhalten der Frauen, deren „alles hier und da zu sehen“ sei, würde die gesellschaftliche Moral verletzen. Es steht fest, dass er sich von Ministerpräsident Erdogan inspirieren ließ – dieser versuchte, Frauen, die von ihrem Handlungsrecht Gebrauch machten und gegen die AKP-Regierung protestierten, mit den Worten „sind es [Ehe-]Frauen oder sind es Jungfrauen?“ zu demütigen. Mit dieser Gesinnung werden Frauen und ihre Sexualität, ihr Handeln, ihr Denken, ihre Gefühle, die Art ihres Gehens bis hin zu ihrer Kleidung aus dem Blickwinkel der „Ehre des Mannes“ betrachtet. Und natürlich ist dieser Gesinnung zufolge die Frau entweder „verführerisch“ oder nicht. Entweder ist sie „ehrbar“ oder sie ist es nicht. Entweder „wackelt sie mit dem Schwanz“ [demütigender Begriff aus dem Türkischen, bei dem mit einem Hund verglichen wird] oder sie tut es nicht. Entweder ist sie eine Hündin oder sie ist es nicht [ebenfalls für die Frauen demütigender Vergleich]. Entweder ist sie eine „Schlampe, Nutte“ oder sie ist es nicht. Es bleibt nicht dabei. Solche Frauen laden nach Prof. Dr. Orhan Çeker von der Theologischen Fakultät „mit dem Tragen offener Dekolletés zu Vergewaltigungen ein“. Entsprechend sollten Frauen, die sich so anziehen, „flachgelegt“ (im Sinne von vergewaltigen) oder „fertiggemacht“ (im Sinne von töten) werden. Oder sie ist eine Frau nach dem bekannten türkischen Sprichwort, die nicht ohne „das Eselsfohlen im Bauch und den Prügelstock am Rücken“ gelassen werden sollte. Denn wenn sie ohne diese sein sollte, dann „wird sie nur Augen für draußen haben“. Aus diesem Grund solle „sie sofort verschleiert“, d.?h. einem Mann als Frau angebunden werden, was wohl aus „moralischer“ Sicht das Beste sei. Diese Vorstellungen sind die wirkliche Identität der AKP-Regierung, die an diesen männlichen Herrschaftstraditionen festhält und sie pflegt.
Kampf um unseren eigenen Körper und unsere eigene Identität
Wenn wir vom Kampf gegen die männlich beherrschte AKP reden, dann kämpfen wir damit auch „für uneren eigenen Körper und für unsere Identität“. Erst wenn der Körper der Frau und ihre Identität befreit sind, wird dieses System wirklich zerstört sein. Der gesamte Kampf geht darum. Die AKP hat die sexistischen Geheimnisse der Klassengesellschaft gut erkannt. Sie ist sich bewusst, dass sie die Identität der Frau in eine bestimmte Richtung lenken muss, um ihr Modell von Gesellschaft durchzusetzen. Seit sie an der Macht ist, versucht sie, reaktionäre Vorstellungen unter dem Deckmantel des Islams der Gesellschaft aufzuerlegen. Sie versucht also, ihr eigenes Verständnis von Macht zur Ideologie der Gesellschaft zu machen. In diesem Zusammenhang wird die Macht, die auf patriarchalem Denken basiert, durch die Vergesellschaftung reproduziert. Als ihr größtes Hindernis betrachten sie die freie Frau. Deshalb wiederum haben sie Angst vor unserem Frau-Sein, unserer Identität, unserer Sexualität und unserer Freiheit.
Das ist nicht nur so eine Furcht. Sie fordern unsere Unterdrückung, unsere Versklavung und unser volles Schweigen. Zu bestimmten Zeiten der Geschichte hatten sie das auch. Aber trotzdem haben sie Angst vor dem Bann und dem Körper der Frauen. Sie möchten, dass wir ganz ohne Seele leben. Unsere Körper, unsere Seelen, alles von uns soll ihnen gehören, und wann immer sie wollen, sollen wir oder sollen wir nicht da sein. Gemäß der herrschenden Meinung der Männer sind wir Frauen die schwächsten Teile dieses Systems. Alles dreht sich um die Frauen. Das System formiert sich dort, will dort vorhanden sein, will sich absichern. Denn wenn es dort ein wenig getroffen wird, wackelt das gesamte System. Darum all diese Angriffe auf die Frauen. Die Frauen haben schon lange „Stopp“ gesagt. Mit Körpern, die uns nicht gehören, sagen wir „nein“ zu diesen 5?000 Jahren. Und natürlich sagen wir, dass die Körper uns gehören. Wir müssen jetzt „nein“ sagen und uns organisieren, damit wir nicht wie die Marokkanerin sagen: „Wir sind schon zu spät.“ Wir müssen uns organisieren und dagegen angehen, damit nicht wie in Berlin im Juni 2012 einer „Allahu ekber“ [Gott ist groß] ruft, seiner Frau den Kopf abschneidet und von oben aus dem Haus nach unten wirft. Die Geschehnisse in Berlin können nicht als ein Familiendrama bezeichnet werden, sondern es ist ein Beispiel für die von der AKP-Regierung gewünschte Gesellschaftsformung und den Einfluss sogar auf die in Deutschland lebenden Menschen aus der Türkei. Daher sollten wir die Gesellschaft informieren und alternative freie Gebiete schaffen, um gegen die Hegemonie der AKP, ihre Schützen und ihre Herrscher, die Religiösen, anzugehen. Die Unterstützung bzw. das Schweigen der westlichen Staaten bringt neue Schmerzen. Es ist noch wichtig zu wissen, dass die Rückschrittlichkeit der AKP für uns jeden Tag zu weiteren Katastrophen, Toten und Problemen führen kann. Aus diesem Grund sollten wir „Stopp“ sagen, um morgen nicht zu spät zu kommen. Und wir sollten uns organisieren und unsere Freiheit nicht vom Rückschritt und männlicher Herrschaft vereinnahmen lassen.
Fußnoten:
1 International tätige Religionsgemeinschaft aus der Türkei mit ideologisch nahestehender politischer Partei, der Saadet Partisi (SP). Europäischer Dachverband ist „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs“ (IMGM). Der bestimmende Vordenker von MG, Necmettin Erbakan, brachte es in den 1990er-Jahren bis zum Ministerpräsidenten der Türkei. Die seit 2002 in der Türkei regierende AKP entstand ursprünglich (wie auch die Saadet Partisi) aus einer Nachfolgerin der damaligen Regierungspartei Refah Partisi (Wohlfahrtspartei).
2 Am 28. Dezember 2011 bombardierten türkische Kampfflugzeuge im türkisch-irakischen Grenzgebiet beim Dorf Roboskî eine Gruppe Grenzschmuggler, 34 Menschen wurden getötet, darunter 19 Jugendliche. Eine Aufklärung wird staatlicherseits bis heute verweigert. Vgl.?S.?25