Nun diktiert die AKP-Regierung die gesellschaftliche Sichtweise

AKPDie Akteure haben gewechselt, aber der Inhalt bleibt derselbe
Devris Çimen, Journalist

Vor kurzer Zeit wurde ich während einer Zugfahrt von einem jungen Mann auf der gegenüberliegenden Sitzbank – der erfreut war, ein Gespräch führen zu können – auf Türkisch gefragt, ob ich Türke sei. Er nahm dies vermutlich an, weil ich kurz davor auf Türkisch telefoniert hatte. Ich entgegnete seiner Frage: „Nein, ich bin Kurde, aber ich kann türkisch sprechen.“ Plötzlich verflog seine Freude, einem Türken begegnet zu sein, ging in Ernsthaftigkeit über und mit dem Satz: „Was soll’s, wir sind alle Geschwister“, beendete er eigentlich das Gespräch.

Trotz meiner Bemühungen, das Gespräch weiterzuführen, und des Versuchs, ein bisschen mit ihm zu diskutieren, konnte ich seine erste Freude nicht wiederbeleben, er unterbrach und blockierte stets mit Telefongesprächen. Ohne eine Verabschiedung trennten wir uns. Ich war zwar sein „Bruder“, aber unsere Brüderlichkeit hatte ich dadurch, dass ich ein Kurde bin, merklich beschädigt. Er hat also die Existenz eines Kurden nicht akzeptiert. Er wollte sie nicht akzeptieren. Seine erworbene Einstellung verhinderte das.

Die Art und Weise, wie die Kurden heute bei den Türken in der Türkei wahrgenommen werden, ist neben der Praxis der politischen Entscheidungsträger einer der wesentlichen Faktoren, die ein Hindernis für die politische Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts darstellen. Sie führt nicht zu einer Lösung des Problems, sondern dazu, dass die Probleme verdeckt oder dort, wo sie nicht verdeckt werden, unterdrückt werden.

Ich bin mir sicher, wenn in der Türkei mit staatlicher Hand die durch dieses Bild in der türkischen Bevölkerung entstandene gesellschaftliche Mentalität aufgebrochen wird, dass dann die politischen Hürden, hauptsächlich in der kurdischen Frage und auch der der anderen Minderheiten, leichter überwunden werden können.

Entwicklung der türkischen Wahrnehmung
Nazim Mavis, Doktorand an der politikwissenschaftlichen Fakultät der Hacettepe-Universität in Ankara, schreibt in seinem Artikel „Die türkische Wahrnehmung von Kurden“[1] zur Lösung der Kurdenfrage: „Die Gründungsphilosophie der türkischen Republik hat durch ihre Politik der Ausgrenzung und der Hegemonie eine türkische Geisteshaltung geschaffen, die als natürliches Ergebnis eine nationale Identität schaffte. Diese Auffassung von der Ausgrenzung muss beseitigt werden, um das Problem lösen zu können.“

Der Punkt, auf den Mavis aufmerksam macht, ist so zu verstehen: Nachdem das Osmanische Reich sich der Welt geöffnet hatte und der Wunsch, die Welt zu osmanisieren, zurück­gedrängt worden war, konzentrierte sich diese Überzeugung von der Einzigartigkeit auf Anatolien und manifestierte sich 1923 in der türkischen Republik als türkische Nation. Dabei leben innerhalb der Grenzen der Türkei mindestens 44 verschiedene Minderheiten oder andere gesellschaftliche Gruppen.

Doch mit der Gründung der Republik wurden die ehemals nach außen gerichteten Zwänge nun nach innen auf die Volksgruppen angewandt. Diese Selbstwahrnehmung der einzigen Nation fand und findet ihren brutalen Ausdruck zunächst im Völkermord an den Armeniern, bei den Assyrern, bei den Pontischen Griechen und zuletzt bei den Kurden. Es wird also in einer Region, in der verschiedene Völker leben, eine kulturelle und politische Autokratie entwickelt, um die türkische Identität zu homogenisieren. Natürlich hat das in allen Lebensbereichen eine Vorstellung von Einzigartigkeit zur Folge.

Folglich können wir sagen, dass die offizielle staatliche Ideologie die rechtfertigende Quelle der genannten Brutalität und Autokratie ist. Nachdem die Menschheit vor allem im Zweiten Weltkrieg großen Schaden erlitten hatte, wurde mit der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ 1948 die „Rassentrennung“ abgelehnt, und die Türkei ist eines der Länder, die sich nicht daran halten.

Rassistische türkische Verfassung
Die aktuelle Verfassung, welche die Führung und die politische Struktur der Türkei festlegt, ist noch immer dieselbe, die 1982 nach dem 12.-September-Putsch von den Militärs diktiert wurde. Es ist also keine zivile, sondern eine militärische Verfassung. Und die ist rassistisch und militaristisch. Mit dieser Verfassung geht durch den „Atatürk-Nationalismus“ eine brutale und rassistische Diskriminierung von Nicht-Türken einher. Dabei war nach dem Zweiten Weltkrieg von vielen Staaten der Welt eine Diskriminierung wegen der Abstammung vor dem Hintergrund der Ideologie des Nationalsozialismus abgelehnt worden. Aber die Türkei hat sich weiterhin als türkische Nation verstanden und somit in der Gesellschaft, in der Bildung, in der Politik und in den Medien eine eigene Wahrnehmung entwickelt. Ein Blick in die Verfassung verdeutlicht den in ihr festgeschriebenen Rassismus. Ihr zweiter Artikel lautet: „Die Republik Türkei ist ein im Geiste des Friedens der Gemeinschaft, der nationalen Solidarität und der Gerechtigkeit die Menschenrechte achtender, dem Nationalismus Atatürks verbundener und auf den in der Präambel verkündeten Grundprinzipien beruhender demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.“ Im dritten Artikel heißt es: „Der Staat Türkei ist ein in seinem Staatsgebiet und Staatsvolk unteilbares Ganzes. Seine Sprache ist Türkisch.“[2]

Der Ursprung des Rassismus liegt also in der Gründung der Republik und die Verfassung, die nach dem Putsch vom 12. September 1980 in militaristischer Hinsicht noch repressiver wurde, ließ es nicht zu, dass Unterschiedlichkeiten und die daraus folgenden Forderungen nach Demokratie und Freiheit respektiert und umgesetzt wurden. Im Gegenteil, dies wurde und wird als Sicherheitsproblem gesehen. Aufgrund dieser Wahrnehmung werden die Forderungen der Kurden und anderer gesellschaftlicher Gruppen militärisch und gewaltsam abgelehnt. Ausgehend davon scheint es nicht weiter verwunderlich, dass es in der Türkei annähernd 15.000 politische Gefangene gibt, mehrheitlich kurdische Aktivisten. Darunter befinden sich Journalisten, Gewerkschafter, Parteileitungen, Frauenrechtsaktivistinnen, Studentinnen, Kinder und Jugendliche. Auch die bürgerkriegsähnlichen und antidemokratischen Zustände im Land sind natürliche Folgen einer solchen Gesinnung und einer solchen Verfassung.

Nach türkischer Auffassung haben Kurden ein Wahrnehmungsproblem
Während im Inneren Krieg herrscht, wird im Westen der Eindruck erweckt, die Türkei würde wirtschaftlich erstarken, die Verfassung werde diskutiert und es würde eine umfassende Demokratisierung, unter anderem für die kurdische Bevölkerung, stattfinden. In dieser neuen Phase, die „fortschrittliche Demokratie“ genannt wird, wird der Gesellschaft oder den Medien die früher vom Militär vorgegebene Sichtweise nun von der AKP-Regierung diktiert. Die Akteure haben also gewechselt, aber der Inhalt bleibt derselbe. Dadurch hat sich die Wahrnehmung eines Türken, sei es in der Türkei oder in Europa, und seine reflexhafte Einstellung zu Kurden, Lasen, Armeniern, Assyrern, Aleviten und anderen Minderheiten nicht geändert. Das Minderheitenproblem ist für sie also immer noch kein Problem der Demokratie, sondern ein Sicherheitsproblem. Dies ist die Wahrnehmung. Wenn wir das näher betrachten, sehen wir, dass in der „türkischen“ Denkweise das Kurdische noch immer als problematisch wahrgenommen wird.

Nazim Mavis erklärt das so: „Ein überwiegender Teil der türkischen Bevölkerung zeigt noch immer einen psychischen Reflex, der lösungsfördernde Schritte verhindert. Diese werden als Zugeständnisse an die PKK betrachtet. Man würde sich mit ‚Terroristen‘ an einen Tisch setzen und die Kurden bevorzugen. Mit Äußerungen wie ‚Was wollen sie denn noch?‘ wird sprachlich erkennbar, dass der Türke im Mittelpunkt steht und die (natürlichsten) Rechte anderer als mögliche unangebrachte Zugeständnisse abgetan werden.“

Nazim Mavis führt aus, dass abgesehen von dieser Auffassung die kurdische Identität in der Türkei verschleiert und assimiliert werde und durch viele fiktive Geschichten die Wahrnehmung der Kurden in den Köpfen der Türken negativ behaftet sei. Er schreibt: „Dieses Problem ist so gewaltig, dass ohne mutige und radikale Entscheidungen eine Lösung nicht möglich ist. Die Lösung scheitert nicht an politischen, sondern an psychischen Barrieren. Aus diesem Grund muss neben politischen Schritten auch der Kampf gegen die in der türkischen Bevölkerung verbreiteten unbewussten rassistischen Sichtweisen auf die anderen aufgenommen werden.“[3]

Kurdenfeindlichkeit
In der Türkei gibt es leider nur eine kleine Gruppe weniger demokratisch eingestellter Menschen wie Mavis, die nicht nach dem Motto „erst Türke, dann Mensch“ leben, politisch arbeiten und schreiben, sondern nach dem Motto „Wir sind zuerst Menschen“. Der Journalist Cüneyt Özdemir, auch einer dieser raren Demokraten, machte in einem Artikel vom 22.07.2012 auf die kurdenfeindliche Wahrnehmung aufmerksam, indem er auf eine Seite mit kurdischen Sprichwörtern in den sozialen Netzwerken aufmerksam macht: „Man klickt interessiert auf diese Seite und denkt, schöne Sprichwörter dieser für einen doch unbekannten Kultur zu lernen. Aber dort weht einem der eisige Wind des türkischen Faschismus entgegen. Mit Sätzen wie ‚Der Schtaht giebd uns niks‘ werden Kurden verhöhnt oder mit Phrasen wie ‚Wer von Kurdistan träumt, dessen Platz ist der Friedhof‘ werden in der Sprache eines Drittklässlers nationalistische Sprüche geklopft. Wenn man diese Tausende von Plattitüden liest, die diese ‚naive‘ Wahrnehmung offenbaren, bekommt man Angst. In einem solchen Land leben wir. Mit dieser rassistischen türkischen Bevölkerung atmen wir dieselbe Luft, wandeln durch die­selben Städte und Straßen.“ Sie seien die „Mehrheit“, so Özdemir.[4] Und er schreibt, ohne einen Namen zu nennen, dass ihm vor kurzem jemand aus höheren Regierungskreisen gesagt habe, dass „nicht die Kurden, sondern die Türken für die Lösung der kurdischen Frage überzeugt werden müssen“, was ihn überrascht habe.

Özdemir betont, dass dieser sich in den sozialen Netzwerken widerspiegelnde und von der Regierung bestärkte „alltägliche Faschismus“ eine Wahrnehmung zeige, die nicht nur dem Krieg zwischen der PKK und dem türkischen Staat entspringe, sondern dass „[wir] nicht die Arbeit unserer Medien vergessen dürfen, die seit Jahren in derselben Kriegssprache diese Richtung verfolgen! Diese Beschimpfungen entstehen aufgrund der jahrelangen Schlagzeilen und Kommentare in den Medien, die das Unterbewusstsein der türkischen Bevölkerung überwiegend rassistisch geprägt haben.“

Türkische Empfindungen
An den Beispielen von Mavis und Özdemir wird deutlich, dass durch die rassistische staatliche Mentalität nicht nur ein „Kurdenproblem“ entstanden ist, sondern auch ein Wahrnehmungsproblem der türkischen Öffentlichkeit, das aus Hass und Feindschaft besteht und die Lösung des anderen Problems verhindert. Es ist offensichtlich, dass sogar die Diskussionen über eine Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts problematisch werden, solange dieses Problem nicht gelöst wird. Während sich in der Türkei jetzt endlich einige Autoren über die kurdische Frage Gedanken machen, wird von Journalisten wie Cengiz Çandar auf einmal darauf aufmerksam gemacht, auch „auf die Gefühle des türkischen Volkes“ zu achten. Im November 2010 fand im Berliner Abgeordnetenhaus eine Konferenz zum „Massaker von Dêrsim“ statt, auf der eine Zuhörerin Cengiz Çandar auf seine Aussage ansprach: „Warum müssen die Gefühle des türkischen Volkes vor den Forderungen der Menschen stehen?“, worauf Çandar nur ausweichend antwortete. Denn auch er wusste, dass diese „Gefühle des türkischen Volkes“ nicht natürlich, sondern systematisch und staatlich indoktriniert sind und nicht so einfach überwunden werden können.

Diese Ausführung Cengiz Çandars über die „Gefühle des türkischen Volkes“ treten als Haltung der türkischen Mehrheit gegenüber den natürlichen menschlichen Forderungen der Kurden zum Vorschein. „Kurdisches Fernsehen, Kurdisch als Wahlfach, kurdische Sprache und Literatur an zwei Universitäten … Was wollen sie denn noch? Je mehr unser Staat gibt, desto mehr verlangen sie!“ Das ist die typische Ansicht in der türkischen Öffentlichkeit über die kurdische Frage, die auch von den Regierungsverantwortlichen geteilt wird. „Je mehr wir geben, desto mehr fordern sie. Und dann kommen auch die anderen (wie Lasen, Armenier, Assyrer) und fordern dasselbe und die Türkei wird aufgespalten!“ Diese paranoide Denkweise, die mittlerweile tief in der türkischen Gesellschaft verankert ist, bildet das Haupthindernis für eine wirkliche Lösung der kurdischen Frage in der Türkei.

Letztendlich
Das Problem, das als „Kurdenproblem“ bezeichnet wird, ist im jetzigen Stadium ein „Türkenproblem“. Und das Grundproblem, das wir mit obengenannten Beispielen zu verdeutlichen versucht haben, besteht darin, dass die türkische Allgemeinheit sich als primäre Gründergesellschaft betrachtet und damit eine ethnische Hierarchie innerhalb des türkischen Staates errichtet hat.

Diese ethnische Hierarchie mit ihrem ganzen Nationalismus und Chauvinismus hat sich mit all ihren Auswirkungen in eine gesellschaftliche, herrschaftliche Hierarchie gewandelt. Nazim Mavis schreibt, „dass Mythen wie das türkische Phänomen, die ‚Nation‘, die ruhmreiche Geschichte, Fahne, Vaterland usw. benutzt wurden, um diese Hierarchie zu legitimieren, dass die Sicherheitspolitik der Freiheit und dem Recht vorgezogen werden, dass mit beängstigenden Argumenten wie ‚Spaltung‘, ‚internationale Komplotts‘ etc. eine rassistische Einstellung zu Menschen anderer Herkunft und Kultur geschaffen worden ist.“ Mavis zeigt als Ergebnis auf, dass „mit dieser Mentalität Schluss gemacht werden muss, um zur Lösung zu gelangen. Es muss eine Phase des Neuaufbaus geben. Nicht eine neue Nation muss aufgebaut werden, sondern eine neue humane Auffassung von Gleichberechtigung. Das Zusammenleben ist möglich. Dafür müssen die Türken ihre Vorherrschaft über die Kurden aufgeben und alle Gruppen in diesem Land als konstitutiv anerkennen. Es müssen die Grundpfeiler gesetzt werden, dass ein Zusammenleben nur einvernehmlich sein kann und nicht nur bedingungslos in der Gleichberechtigung der Völker, sondern es muss eine würdevolle Gleichberechtigung sein.“ Wenn das, was Mavis schreibt, realisiert wird – ich wünsche es mir sehr –, dann erst wird derjenige, der gezwungen wurde, türkisch zu sprechen, nicht als Feind, als Fremder betrachtet und es wird nicht Abstand genommen von einem Gespräch mit ihm während einer Zugfahrt. Forderungen nach Respekt, Milde, Empathie, Gleichberechtigung, Freiheit und dem Frieden erlangen dann eine Bedeutung und eine realistische Perspektive. Erst nach der Hinwendung zu dieser Wahrnehmung wird die kurdische Frage durch Dialog und Verhandlungen sowohl auf der politischen Ebene als auch in der Gesellschaft zu lösen sein.

[1] Nazim Mavis, Die türkische Wahrnehmung der Kurden, 09.08.2012, http://www.radikal.com.tr/yorum/turklerin_kurt_algisi-1096647
[2] Die Verfassung der Republik Türkei (Übersetzung Prof. Dr. Christian Rumpf, Stand 06.06.2008)
[3] Nazim Mavis, 09.08.2012, http://www.radikal.com.tr/yorum/turklerin_kurt_algisi-1096647
[4] http://www.radikal.com.tr/yazarlar/cuneyt_ozdemir/dovlet_bize_bahmiyyy-1094869

Quelle: Kurdistan Report Nr. 163 September/Oktober 2012

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