Die KurdInnen werden ihren Platz im Mittleren Osten finden
Interview mit dem KCK-Exekutivratsvorsitzenden Murat Karayilan
Im Folgenden geben wir Ausschnitte aus einem Interview mit dem KCK-Exekutivratsvorsitzenden Murat Karayilan für die Nachrichtenagentur Firat (ANF) am 17. November wieder. Im Gespräch mit dem Reporter Deniz Kendal geht Karayilan auf die Entwicklungen in Syrien und die Haltung der Türkei zu diesen Entwicklungen aus Sicht der kurdischen Freiheitsbewegung ein.
Die Auseinandersetzungen mit der kurdischen Bevölkerungsgruppe in Syrien haben in Heleb (Aleppo) und Afrîn ihren Anfang genommen und sind nun auf Serê Kaniyê (Ras al-Ayn) übergeschwappt. Zuletzt hat die Türkei auch noch an ihrer Grenze gegenüber der westkurdischen Stadt Kobanî (Ain al-Arab) ihre Panzer postiert und die Grenzdörfer geräumt. Weshalb versucht der türkische Staat in die Entwicklungen in Westkurdistan und Syrien zu intervenieren? Wie bewerten Sie das?
Lasst mich zunächst einmal sagen: Die Region macht aktuell eine sehr wichtige Phase durch. Dieses Durcheinander wird vermutlich noch einige Zeit anhalten und anschließend wird der Nahe und Mittlere Osten neustrukturiert werden. Dabei werden auch die KurdInnen ihren Platz finden. Die Zeit, in der die Existenz des kurdischen Volkes geleugnet wurde, wird ein Ende haben. Allein aus der Tatsache, dass es sich bei den Kurdinnen und Kurden um eine Volksgruppe handelt, lässt sich ableiten, dass ihnen grundlegende Rechte zustehen. Dazu gehört allen voran das Recht auf Identität und auf einen Status. Die türkische AKP-Regierung hingegen kalkuliert, wie die KurdInnen davon abgehalten werden können. Um das zu erreichen, attackiert sie zum einen unsere Bewegung mit aller Gewalt, und zum anderen versucht sie Südkurdistan mit politischen und wirtschaftlichen Beziehungen unter ihre Kontrolle zu kriegen. Doch eine der Folgen der gegenwärtigen Entwicklungen in Syrien ist, dass im syrischen Teil Kurdistans die kurdische Bevölkerung begonnen hat, ihr eigenes System zu etablieren und ihre grundlegenden Rechte zu gewinnen. Und prompt schmiedet die AKP Pläne, wie sie wohl verhindern kann, dass die kurdische Bevölkerung in Westkurdistan an einen Status gelangt. Das tut sie aus der einfachen Überzeugung, dass es für sie schwer werden wird, im größten Teil Kurdistans, in dem die AKP den KurdInnen keinerlei Rechte zugesteht, in Nordkurdistan, die Situation aufrechtzuerhalten, wenn im kleinsten Teil Kurdistans, in Westkurdistan, die Bevölkerung einen Status bekommt. Dies würde also dem türkischen Kolonialismus einen Rückschlag versetzen. Und aufgrund dieser Konstellation scheut sich die AKP-Regierung nicht, jede auch nur mögliche Anstrengung zu unternehmen, damit die KurdInnen in Syrien keinen Status erlangen.
Deshalb hat die Türkei die syrische Opposition auch zunächst nach Istanbul gezogen und versucht dort, Einfluss auf ihre Entscheidungen zu nehmen. Sie hat Druck auf die Opposition ausgeübt, die Rechte der kurdischen Bevölkerung nicht anzuerkennen, damit diese durch die Entwicklungen zu keinem Status gelangt. Dennoch ist es den KurdInnen gelungen, in ihren eigenen Städten ihr eigenes System zu etablieren. Die AKP hat verschiedenste Bemühungen unternommen, um das zu unterbinden. Zunächst lancierte sie die Behauptung, die PKK halte sich dort auf, die Partei der Demokratischen Einheit (PYD) sei nur ein Arm der PKK. Nachdem das keinen wirklichen Anklang gefunden hat, behauptet sie nun, dort gegen ein System unter der Kontrolle der PYD zu sein. Wir wissen, dass der türkische Geheimdienst und das Außenministerium große Anstrengungen unternehmen und viele Gelder in Bewegung setzen, um ihre Ziele zu verwirklichen. Weshalb reagieren sie so feindselig auf die PYD? Hat die PYD an der türkischen Grenze je irgendein feindliches politisches oder militärisches Manöver gegen die Türkei durchgeführt? Nein! Die PYD ist eine kurdische Partei, die von der dortigen Bevölkerung aufgebaut worden ist. Zu Zeiten Assads war sie verboten, ihre Mitglieder wurden hinter Gitter gebracht, ermordet. Mit den aktuellen Entwicklungen hat die Partei eine neue Dynamik entwickelt und betreibt im Sinne der kurdischen Bevölkerung eine starke Politik. Die Türkei hatte zunächst Pläne geschmiedet, um die Freie Syrische Armee (FSA) gegen die PYD aufzubringen, und dafür einige Bemühungen in Heleb und Afrîn unternommen. Zugleich hat sie einige marginale kurdische Kreise an sich gebunden und mit diesen innerkurdische Kämpfe zu entfachen versucht, zusätzlich mit einigen angeblich im Namen der FSA agierenden Gruppen Manöver für Angriffe auf kurdische Städte von der türkischen Grenze aus vorbereitet. Wir sehen also, dass die AKP-Regierung nichts ungeschehen lässt, um unsere Bevölkerung in Westkurdistan von ihren Rechten und einem Status abzuhalten.
Und glauben Sie, dass diese Politik der Türkei unter der Initiative der AKP erfolgreich sein kann?
Die kurdische Bevölkerung in Westkurdistan hat mit dem Hohen Kurdischen Rat ihre Einheit geschaffen. Der türkische Außenminister reiste infolgedessen sofort nach Hewlêr (Arbil), um die Ablehnung einer solchen Einheit deutlich zu machen. Ahmet Davutoglu hat anscheinend den VertreterInnen aller kurdischen Parteien außer der PYD erklärt, dass sie die PYD außen vor lassen sollten, dann sei Ankara bereit, nicht nur eine Autonomie der KurdInnen in der Region zu akzeptieren, sondern auch eine Föderation. Das ist natürlich eine große Lüge. Davutoglu weiß auch, dass die anderen Parteien die PYD nicht bis auf weiteres unberücksichtigt lassen können, denn diese verfügt über die größte Unterstützung in der Basis. Die Türkei kalkuliert eher damit, dass infolge des Versuchs, die PYD auszuschließen, ein innerkurdischer Konflikt ausbricht. Diese Tatsache sollten alle Parteien aus Westkurdistan und auch die politischen Kräfte Südkurdistans genau erkennen. Wie gesagt, die Türkei will unterbinden, dass Westkurdistan zu einem Status gelangt. Und dafür versucht sie sowohl innerkurdische als auch kurdisch-arabische Konflikte zu schüren. Das ist es, was die Türkei tut. Aber das meiste von ihren Aktivitäten jenseits der Grenze verheimlicht sie vor ihrer eigenen Öffentlichkeit. Denn die AKP-Regierung verfügt über eine eigene Medienarmee. Und sie hat in ihrem Land eine Atmosphäre der Unterdrückung geschaffen. Deshalb traut sich niemand mehr eine Berichterstattung jenseits des Mainstreams. Sie haben schlichtweg Angst vor den möglichen Konsequenzen. Und dabei werden solche falschen Spielchen gespielt, doch die Öffentlichkeit der Türkei kriegt von alldem nichts mit.
Falsche Spielchen der Türkei
Das beste Beispiel dafür sind die bewaffneten Auseinandersetzungen in letzter Zeit in Serê Kaniyê (Ras al-Ayn). Dazu möchte ich zunächst einmal feststellen, dass wir gegen niemanden sind, der oder die für seine oder ihre Freiheit kämpft, das heißt, auch nicht gegen die Freie Syrische Armee. Schließlich sind die Verbände der Volksverteidigungseinheiten (YPG) quasi auch die Freie Armee der KurdInnen. Die kurdische Bevölkerung in der Region ist Teil der revolutionären Bewegung in Syrien. Deswegen haben wir auch nichts gegen die FSA. Aber mittlerweile gibt es Dutzende Gruppen, die von sich behaupten, Teil der FSA zu sein. Und genauso wie die AKP mit Gruppen zusammenarbeitet, die Verbindungen zu Al-Qaida haben, versucht sie auch einzelne dieser Gruppen mit Geld- und Waffenversprechen auf ihre Seite zu ziehen und anschließend wie eine paramilitärische Kraft zu benutzen. Ein Beispiel dafür ist die Gruppe, welche die Dörfer in Afrîn angegriffen hat und Teile des Azaz-Gebietes kontrolliert. Die FSA hingegen behauptet, nichts mit dieser Gruppe zu tun zu haben.
Die Phase der bewaffneten Auseinandersetzungen in Serê Kaniyê hatte ihren Anfang genommen, als zwei verschiedene Gruppen, zusammen 600 Mann, ausgestattet mit Waffen und Fahrzeugen, über die türkische Grenze nach Westkurdistan kamen. Sie führen ihre Angriffe in Westkurdistan durch und nutzen die Türkei als Rückzugsgebiet.
Die Türkei unterstützt also mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln den Krieg in Syrien und ist somit auch Kriegspartei. Kaum haben andere Staaten oppositionelle Gruppen in ihrem Nachbarland in einem solchen Umfang unterstützt wie es heute die Türkei tut. Es mag natürlich auch sein, dass sie hinsichtlich der Zukunft Syriens gewisse Wunschvorstellungen hat, die sie umzusetzen versucht. Im Vordergrund steht für sie bei all diesen Bemühungen aber in jedem Fall, dass die dort lebenden Kurdinnen und Kurden nicht ihre Rechte erlangen. Und für dieses Ziel verteilt sie Geld und Waffen in großem Umfang.
Ich kann dazu konkret anführen: Die Türkei hat den bewaffneten Gruppen für die Angriffe auf Serê Kaniyê zwei Millionen Dollar gegeben. Sie tut also offensichtlich alles, um in Westkurdistan Unruhe zu stiften. Wenn sie die FSA als Ganzes unterstützen würde und damit den Sturz des aktuellen Regimes beabsichtigen würde, wäre nichts dagegen zu sagen. Aber ihnen geht es nur darum, die Rechte für die KurdInnen zu verhindern. Und das ist das Problem.
Ein anderes Ziel der Angriffe auf Serê Kaniyê hängt für die Türkei mit der Konferenz der syrischen Opposition in Doha zusammen. Denn während die Konferenz zuvor in Istanbul stattgefunden hatte, wurde sie nun in die Hauptstadt von Katar verlegt. Die USA und die anderen Regionalmächte haben auch ein Interesse daran, dass der türkische Einfluss auf die syrische Opposition eingeschränkt wird. Die Türkei hat sich über die Verlegung der Konferenz nicht öffentlich beschwert, hat auch an ihr teilgenommen. Aber sie war durch die Entscheidung gekränkt. Und um unter Beweis zu stellen, dass sie weiter über Einfluss in Syrien verfügt, hat sie diese Angriffe initiiert. Der Türkei geht es also nicht um die Opposition, sondern um ihre eigene Vormachtstellung und ihre Interessen.
Einige Worte an die FSA
Aktuell gibt es in den Teilen der Region Heleb (Aleppo), die an die Türkei grenzen, keinerlei Einheiten des Regimes, in der Grenzregion eigentlich nur noch im Stadtzentrum von Qamislo (Al-Qamishli). In allen anderen Gebieten sind sie entweder von kurdischen oder arabischen Kräften verdrängt worden. Auch in Kobanî (Ain al-Arab) sind keine mehr. Und die kurdische Bevölkerung, die ihre Gebiete selbst verwaltet, hat mit der arabischen Bevölkerung oder der Freien Syrischen Armee keinerlei Probleme. Aber die Türkei versucht die FSA dennoch gegen die KurdInnen aufzuwiegeln, sie will Konflikte schüren.
Ich möchte mich hier an diejenigen wenden, die wirklich für die FSA tätig sind: Lasst Euch nicht auf die Spielchen der Türkei ein. Die will am liebsten ganz im Sinne ihrer osmanischen Geschichte Syrien zu ihrer Provinz machen. Tragt nicht dazu bei. Vor allem solltet Ihr Euch nicht für die kurdenfeindliche Politik der Türkei instrumentalisieren lassen. Es sind die KurdInnen, denen unter dem syrischen Regime das größte Leid zugefügt worden ist. Sie verstehen sich als Teil eines künftigen demokratischen Syrien und leisten dafür Widerstand. Die Türkei will, dass Ihr Euch mit den KurdInnen Auseinandersetzungen liefert, die kurdische Bevölkerung unterdrückt. Und damit will sie Euch zugleich von ihr selbst abhängig machen. Daher solltet Ihr Acht geben auf die kolonialistisch-faschistische Politik der AKP. Statt Konfrontationen mit den KurdInnen solltet Ihr den Weg gemeinsamen Widerstands mit dem kurdischen Volk vorziehen. Das ist nicht nur die Erwartung der KurdInnen aus Syrien an Euch, sondern die Erwartung aller Kurdinnen und Kurden.
Welche Haltung sollten die KurdInnen in diesem Umfeld einnehmen, in dem jede Macht ihre eigenen Interessen verfolgt? Welche Aufgaben kommen auf die kurdische Politik zu?
Für die KurdInnen in Westkurdistan bietet die aktuelle Situation eine historische Chance. Sie haben die Möglichkeit, im demokratischen Syrien und im demokratisch-autonomen Westkurdistan ihren Platz einzunehmen. Um diese Chance gut zu nutzen, müssen sie aber zuallererst ihre eigene Einheit absichern. Sie dürfen nicht auf die falschen Spielchen anderer Mächte reinfallen. Sie dürfen nicht vergessen, dass die Teilung Kurdistans und die Kolonialisierung der kurdischen Bevölkerung durch die Hand der herrschenden Mächte geschahen. In Westkurdistan sind die Bedingungen für die Freiheit des kurdischen Volkes gegeben und damit sie richtig genutzt werden, ist eine demokratische nationale Einheit unverzichtbar. Im Juli dieses Jahres wurde ein wichtiger Schritt in diese Richtung unternommen. Auch unter Berücksichtigung unserer Vorschläge kamen die westkurdischen politischen VertreterInnen in Hewlêr (Arbil) zusammen und unterzeichneten im Beisein von Massud Barzani die Protokolle zur Gründung des Hohen Kurdischen Rates. Wir haben die Gründung des Hohen Kurdischen Rates begrüßt und stehen hinter der Arbeit dieses Gremiums.
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Der türkische Staat will in Serê Kaniyê (Ras al-Ain), Dirbêsîye (Al-Darbasiya) und sogar in Qamislo (Al-Qamishli) und Kobanî (Ain al-Arab) Angst und Schrecken in der Bevölkerung verbreiten. Gegenüber von Kobanî bauen sie ihre militärischen Stellungen, entvölkern die Dörfer und haben ihre Panzer dort stationiert. So wollen sie eine Atmosphäre der Angst schaffen. Sie denken, dadurch die KurdInnen schwächen und ihre Ziele erreichen zu können. Unsere Bevölkerung muss demgegenüber eine bewusste und organisierte Haltung zeigen, niemand sollte in Panik verfallen und seine oder ihre Heimat verlassen. Auch wenn der türkische Staat mit allen Mitteln den demokratischen und legitimen Willen unserer Bevölkerung zu untergraben versucht, wird ihm das nicht gelingen. Weder national noch international wird die Türkei mit ihren Interventionsversuchen Erfolg haben können. Sie versucht mit ihren Täuschungsmanövern die Bevölkerung zu verschrecken, sie zum Verlassen ihrer Heimat zu bewegen und so die Organisierung und Kraft der kurdischen Freiheitsdynamik zu schwächen. Aber sie steht mit ihren aussichtslosen Bemühungen allein da und ist nicht stark genug, sie durchzusetzen. In der kurdischen Frage macht der türkische Staat seine schwächste Phase durch. Deshalb sollte die Bevölkerung nicht vor den Drohungen einknicken, sondern ihre Vorkehrungen treffen, eine organisierte und klare Haltung einnehmen und ihr Selbstverteidigungssystem weiter ausbauen.
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Und die Bevölkerung Westkurdistans sollte auch wissen, dass bei jeglichem Angriff des türkischen Staates alle Kurdinnen und Kurden an ihrer Seite stehen und sie unterstützen werden. Wichtig für Euch ist es, dass Ihr Eure Organisierung vorantreibt, Eure Selbstverteidigungsstrukturen ausbaut und Eure politische Einheit wahrt. Wir sind überzeugt davon, dass Ihr mit der Perspektive erfolgreich sein werdet, sowohl mit den demokratischen Kräften Syriens zusammenzuarbeiten als auch in Eurem Gebiet Euer eigenes System aufzubauen.
Kurdistan Report Nr. 165 Januar/Februar 2013