Kurd-Akad. Netzwerk Kurdischer AkademikerInnen, 23.03.2017
Die Türkei stimmt am 16. April 2017 über ein Verfassungsreferendum ab. Die Regierung strebt durch die Änderung der entsprechenden Artikel der Verfassung ein Präsidialsystem an. Dieses Präsidialsystem soll die gesamte staatliche Macht beim Präsidenten vereinen und die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und der Judikative als Grundpfeiler jeder demokratischen Ordnung aufheben. Mit den Verfassungsänderungen soll das parlamentarische Regierungssystem in der Türkei weitgehend abgeschafft werden. Der Präsident soll quasi als gewählter Autokrat die Staatsmacht uneingeschränkt ausüben.
Wir, das Netzwerk Kurdischer AkademikerInnen rufen alle wahlberechtigten türkischen Staatsbürger dazu auf, bei diesem Referendum mit „Nein“ zu stimmen.
Dazu werden wir ein paar der angestrebten Änderungen der Verfassung verdeutlichen:
- Mit den Änderungen würden die Wahlen alle 5 Jahre stattfinden. Die Wahlen für das Parlament und den Präsidenten fänden gleichzeitig statt. Das könnte dazu führen, dass die Partei, die den Präsidenten stellt, auch die Mehrheit im Parlament erhält.
- Die bisherige durch die Verfassung garantierte Neutralität und Unabhängigkeit des Präsidentenamts würde abgeschafft. Der Präsident könnte damit der Vorsitzende einer politischen Partei sein und über die Listen für die Parlamentswahlen bestimmen. Erschwerend kommt hinzu, dass in der Türkei nicht Delegierte über Wahllisten entscheiden, sondern die Parteivorsitzenden.
- Das Amt des Ministerpräsidenten würde abgeschafft. Seine Aufgaben würden nun vom Präsidenten bzw. von ihm berufenen stellvertretenden Präsidenten übernommen. Die Anzahl dieser Stellvertreter wäre nicht bestimmt. Der Präsident hätte hierbei Weisungsbefugnis.
- Die Minister und ihre Stellevertreter würden vom Präsidenten berufen und nicht wie bisher vom Parlament gewählt. Der bisherige Ministerrat würde abgeschafft. Das Parlament hätte keinen Einfluss darauf, wer vom Präsidenten zum Minister berufen würde. Weiterhin könnte der Präsident die Anzahl der Minister beliebig erhöhen oder mindern, ganze Ministerien ohne Parlamentsbefragung schließen oder neue Ministerien schaffen. Es gäbe in dieser Hinsicht keine Beschränkungen.
- Die Anzahl der Abgeordneten würde von 550 auf 600 erhöht. Diese Abgeordneten hätten jedoch faktisch keine Befugnis, da Sie weder bei der Kabinettsbildung noch bei der Regierungsbildung eine Rolle spielen würden.
- Alle höheren Beamten würden vom Präsidenten ernannt und könnten vom Präsidenten jederzeit ohne jegliche Begründung entlassen werden. Sie wären weder dem Parlament, noch sonst einem Gremium gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet, sondern lediglich gegenüber dem Präsidenten, der gleichzeitig ihr Dienstherr wäre. Damit würde die gesamte Exekutive dem Präsidenten unterstellt.
- Der Präsident unterläge keiner Kontrolle. Das Parlament hätte keine Kontrollbefugnisse gegenüber dem Präsidenten, nicht einmal Anfragen gegenüber dem Präsidenten dürften gestellt werden. Die Möglichkeit der Vertrauensfrage gegenüber einzelne Minister oder dem Präsidenten würde ersatzlos abgeschafft. Anfragen seitens des Parlaments oder einzelner Parlamentarier könnten nur noch in schriftlicher Form an den stellevertretenden Präsidenten gerichtet werden.
- Vorgezogene Wahlen, wie sie momentan mit einfacher Mehrheit beschlossen werden können, sollten zukünftig nur noch mit einer Mehrheit von 3/5 der Abgeordneten beschlossen werden können. In Anbetracht dessen, dass die Partei des Präsidenten über die Mehrheit im Parlament verfügen könnte, ginge die Wahrscheinlichkeit von Neuwahlen gegen Null. Demgegenüber könnte der Präsident jederzeit vorgezogene Wahlen anberaumen. Hierzu könnte er das Parlament einfach auflösen.
- Das Recht zur Gesetzgebung verbliebe zwar bei der Legislative, dem Parlament, würde aber dem Präsidenten zuerkannt. In denjenigen Fällen, in denen seiner Ansicht nach Gesetzeslücken bestünden oder Regelungsbedarf vorhanden wäre, könnte er Verordnungen per Dekret erlassen, die Gesetzeskraft entfalten. Hierzu müsste der Präsident niemanden um Erlaubnis fragen oder das Erlassene zur Abstimmung unterbreiten und er würde keine Mehrheiten in irgendeinem Gremium benötigen.
- Der Präsident könnte jederzeit den Ausnahmezustand ausrufen und diesen beliebig oft verlängern. Er könnte damit seine gesamte Regierungsperiode über im Ausnahmezustand regieren. Die Verordnungen, die während des Ausnahmezustandes erlassen würden, erhielten Gesetzeskraft und unterlägen keiner Kontrolle, nicht einmal einer verfassungsrechtlichen Überprüfung durch das Verfassungsgericht. Damit würde der Präsident in die Lage versetzt, während der Ausnahmezustände, die er selbst ausrufen könnte, verfassungswidrige Regelungen mit Gesetzeskraft zu schaffen, die für jeden gelten würden.
- Der Präsident oder seine Minister könnten nicht für ihre Handlungen zur Verantwortung gezogen werden. Ein Ermittlungsverfahren gegen den Präsidenten dürfte zwar mit einfacher Mehrheit des Parlaments vorgeschlagen werden, doch diesem Vorschlag müsste für die Entscheidung der tatsächlichen Durchführung des Ermittlungsverfahrens eine qualifizierte Mehrheit von 3/5 des Parlaments zustimmen. Für eine Weisung an das Verfassungsgericht, das für das Durchführen des Ermittlungsverfahrens zuständig wäre, bedürfte es einer erneuten Mehrheit der Zustimmung von 2/3 des Parlaments (mindestens 400 Abgeordnete). Diese Mehrheiten würden auch verlangt, wenn der betreffende Präsident oder der Minister gar nicht mehr im Amt ist. Das Recht des Präsidenten, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzuberaumen, bliebe während der Anbahnung solcher Abstimmungen erhalten.
- Die Mitglieder des Verfassungsgerichts, die im Falle des Erreichens der obigen Mehrheiten, gegebenenfalls strafrechtlich entscheiden müssten, wären eben von diesem Präsidenten ernannt worden. Der Vorsitz des Verfassungsgerichts würde vom Justizminister geführt, der wiederum auch vom Präsidenten berufen worden wäre. Der Präsident könnte sich damit aussuchen, wer im Falle eines sehr unwahrscheinlichen Verfahrens über seine Verfehlungen entscheiden sollte.
- Außerdem würde der Präsident über das Budgetrecht verfügen. Er könnte alleine bestimmen, wann, wofür und in welcher Höhe die staatlichen Einnahmen eingesetzt werden sollten. Er brächte den Haushaltsplan zwar in das Parlament zur Abstimmung, wäre jedoch nicht an die Entscheidung des Parlaments gebunden. Falls sein Haushaltsplan keine Mehrheit erreichen sollte, könnte er diesen einfach als kommissarischen Haushaltsplan per Dekret festsetzen. Damit würde dem Parlament eines der stärksten Rechte entzogen.
Nach alldem möchten wir Ihnen die Definition von Autokratie aus Wikipedia nahelegen:
Als Autokratie (altgriechisch αὐτοκράτεια autokráteia ‚Selbstherrschaft‘, von αὐτός autós ‚selbst‘ und κρατεῖν krateín ‚herrschen‘) wird in der Politikwissenschaft eine Herrschaftsform bezeichnet, in der eine Einzelperson oder Personengruppe unkontrolliert politische Macht ausübt und keinerlei verfassungsmäßigen Beschränkungen unterworfen ist.
Stimmen Sie mit „Nein“ zum Verfassungsreferendum und damit mit „Nein“ zu einem autokratischen System in der Türkei!