“Roboski ist überall, einen Ausweg gibt es nicht”

roboskiEzgi Basaran/Journalistin, Kolumnistin der Zeitung Radikal

Obwohl sie ermüdet, sich verloren fühlen und genug von flüchtigen Auseinandersetzungen haben, wieder einmal einsam sind, versuchen sie das Spiel des Lebens fortzusetzen.

Die BewohnerInnen von Roboski.
Genau jene BewohnerInnen, die vor etwa 126 Tagen ihre Brüder, Neffen, Cousins … in Leichentücher legten und über die Grenze brachten, weil ihre Lieben durch Kampfjets als Feinde identifiziert und bombardiert wurden.
„Wie konnte das denn passieren?“ fragten sie.

„Warum ist das überhaupt passiert.“

Ein Operationsfehler. Solche Fälle können vorkommen, unsere Armee kann dies tun. Und wir stehen dazu, d. h. zu unserer Armee.
Ohne jede Entschuldigung, und ohne die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen zu haben, haben sie 126 Tage verstreichen lassen.
Dazu kommt noch, dass die Qualen der BewohnerInnen aus Roboski vergrößert werden.

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Vor drei Tagen erzählte Tahir Encü, der seinen Cousin verloren hatte: „Ich sitze ja heute hier bei euch, mein Bruder wollte auch kommen. Aus unserem Dorf wollten eigentlich viele nach Istanbul kommen, aber sie können nicht kommen.“
Warum?
„Man kann sagen, dass sie uns im Dorf eingesperrt haben. Gegen 60 Personen wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Wegen des Angriffs gegen den Gouverneur von Uludere. Aber nicht wegen Ehrbeleidigung eines Beamten oder wegen Gewaltanwendung. Wegen vorsätzlichen Mordversuchs. Und wegen der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Ist das jetzt Recht? Da jeder, der zu einer Vernehmung geht, verhaftet wird, traut sich niemand das Dorf zu verlassen. Aber ich habe ganz junge Verwandte, die nach Istanbul auswandern wollen, um dort als Kellner zu arbeiten oder um den Vorfall zu vergessen … Es geht aber nicht. Dann wundern sie sich.“
Weswegen?
„Dass sie sich für die Berge entscheiden! Wir bekommen Schwierigkeiten, wenn wir diese Tatsache ansprechen, aber es ist die Wahrheit. Deshalb sage ich das einfach. Die Jugendlichen im Dorf sagen: ‚Wir sind hier eingekerkert, es gibt keine andere Lösung, deshalb ist es besser, wenn wir in die Berge gehen‘. Ist das jetzt recht?“
Das ist es nicht, denn die Menschen in eine verzweifelte Lage zu bringen, kann weder recht sein noch mit dem Gewissen zu vereinbaren.
Es ist durchaus möglich, dass sich manche dabei denken werden: „Sie hätten aber den Gouverneur nicht stoßen sollen. Wir sind nämlich gegen Gewalt.“
Es gibt so etwas wie die Wut des Unterdrückten. Sogar in der Religion gibt es so etwas. Stellt euch einmal vor, ihr könnt die Leichenteile eines Freundes bzw. eines Verwandten von denjenigen eines Maultieres nicht unterscheiden. Stellt euch das bitte mal vor.
In dem sie die eine Hälfte von Roboski bombardieren und die andere Hälfte verhaftet haben, haben sie die Sache erledigt!
In diesem Sinne kann die Definition des Staates folgendermaßen lauten: sowohl schuldig als auch stark sein. Dies geht dann soweit, dass statt der Linderung der Leiden eine Vergrößerung der Qualen verursacht wird. Der um Gerechtigkeit bittende Verletzte wird zum Schweigen gebracht.
Z. B. werden die Opfer (Kinder, die z. B. an Demonstrationen teilgenommen haben sollen) des TMK (Terrorbekämpfungsgesetz) bzw. ihre Eltern aufgefordert, Entschädigungen zu zahlen. Es wird festgestellt, dass der 15-jährige M. B. Panzerfahrzeuge beschädigt haben soll, und somit wird er zu einer Geldstrafe von 2 950 TL verurteilt.
D. h., das die Aufgabe eines Staates darin besteht, benachteiligte Kinder, die BewohnerInnen eines bombardierten Dorfes durch Geld- und Haftstrafen zu züchtigen.
Möglicherweise möchte dieser Staat, dass die Kurden folgendes erkennen: Forderst du Rechte für dich ein, verlangst du Gerechtigkeit, erinnere dich an Roboski, zittere und sei vernünftig!
Der Staat sagt zu dir: Roboski ist überall, einen Ausweg gibt es nicht.
Ja, vor unseren Augen sagt er das.

Radikal, Tageszeitung in der Türkei, 02.05.2012

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