Salih Muslim: „Die Türkei wird in dem syrischen Sumpf versinken!“

salih_müslim1Ausschnitt aus dem Interview mit Salih Muslim über die Angriffe der Türkei auf Cerablus, über die Föderation Nordsyrien und der Operation in Ar-Raqqa, 31.08.2016, ANF

Salih Muslim, der den Einmarsch der Türkei in Cerablus (Dscharabulus) als Besatzung definiert, erklärte: „Im Zentrum der Politik der Türkei steht die Anti-Kurdenpolitik. Das was dem sog. Islamischen Staat (IS) nicht gelang , will sie nun selbst tun. Aber die Türkei wird in dem syrischen Sumpf versinken.“

Obwohl die Türkei seit dem 24. August zusammen mit anderen Gruppen seine Angriffe auf Cerablus fortsetzte, kam es spontan zu einem Beschluss eines Waffenstillstands. Wie kam es dazu? 

Nachdem die Angriffe seitens des IS gegen Rojava seit Jahren immer wieder zurückgedrängt werden konnten, hat die Türkei ihre Angriffe gegen die Kurden verstärkt.

Zuletzt, als Manbidsch befreit wurde, gerieten sie in Panik, in großer Eile haben sie die Besatzungsoffensive begonnen. Offen gesagt, diese Offensive haben sie wohl mit dem Gedanken begonnen, was der IS bis jetzt nicht geschafft hat, müssen wir nun schaffen. Der Angriff der Türkei auf Cerablus ist zur Rettung von dem IS und seines gleichen.

Zu dem Waffenstillstand kam es, nachdem einige Vermittler agiert haben und mit dem Militärrat von Cerablus und der Türkei einen solchen Beschluss gefasst haben.

Auf welcher Grundlage wurde dieser Waffenstillstand beschlossen?

Mir liegen keine neuen, detaillierten Informationen vor, aber es ist vielmehr eine Einstellung der militärischen Auseinandersetzungen, als ein Waffenstillstand.

Ist es kein Waffenstillstand per Definition?

Nein, nur die Gefechte wurden eingestellt. Es ist eine Vorstufe dessen, es kommt darauf an, was sich daraus entwickeln wird.

Was beabsichtig die Türkei in Syrien?

Die Hauptstrategie der Türkei stützt sich auf die Verleugnung der Kurden.

Bereits in der Vergangenheit verfolgte sie einen solchen Plan. Das gilt nicht nur für Rojava, sondern auch für die anderen Teile Kurdistans. Ihre ganzen Sorgen drehen sich darum, wie die Kurden in ihren Rechten beschnitten werden können bzw. diese erst gar nicht bekommen.

Zum Beispiel, dass die Türkei nach Russland, in den Iran und sogar zu Baschar al Assad, mit dem sie sich überworfen hatte, gegangen ist und sich zu ihren Füssen geworfen hat, tat sie allein wegen der Kurden. Dabei entspricht diese Politik weder den Interessen der Türken noch der Kurden. Viele Menschen wurden getötet und viele Ortschaften zerstört. Sie haben den IS unterstützt und was haben sie gewonnen? Nichts!

Heute wird die Türkei weltweit des Terrorismus beschuldigt. Früher haben wir mehrfach mit der Türkei gesprochen. Die Kurden möchten in Zukunft gemeinsam mit den verschiedenen Ethnien zusammenleben. Wir wollen nur unsere demokratischen Rechte. Heute kontrollieren wir in Rojava einen großen Teil der Grenze zur Türkei. Wurde von unserer Seite aus eine Kugel abgeschossen, gibt es Gefahrensignale? Nein! Dennoch hält die Türkei an ihrer Politik fest. Sie haben sich mit dieser Politik weltweit isoliert. Und nun greifen sie auch nach Cerablus an. Obwohl ihre bisherige Politik ins Leere lief, beharren sie auf dieser fehlerhaften Politik.

Der türkische Staatspräsident Erdoğan setzt die Partei der Demokratischen Einheit PYD mit dem IS gleich. Gestern noch sagte Erdoğan „Wir werden die PYD ausrotten“, und nun wird ein Waffenstillstand beschlossen.

Erdoğan betreibt täglich eine sich wechselnde Politik. Die PYD hält keinerlei Beziehung zur Türkei. PYD ist eine Organisation aus Rojava und an Syrien angebunden, deshalb hat die Türkei kein Recht, eine solche Äußerung abzugeben. Die PYD hat mit den Arabern, mit den Assyrern, mit den verschiedenen Ethnien der Region ein Modell geschaffen, warum mischt sich die Türkei da ein, woher nimmst sie sich das Recht dazu?

Wenn es darauf ankommt, darf die Souveränität der Türkei nicht in Frage gestellt werden, aber mit welchem Recht stellt die Türkei die Souveränität anderer Länder in Frage?  

Mit welchem Recht unterstützt die Türkei die Banden des IS, und nun unterstützt sie sogar Ableger dessen.

Möchte die Türkei in der Region eine Pufferzone errichten? 

Ja, natürlich, darauf zielt sie ab. Aber es gibt keine Aussicht auf Erfolg. Denn das Ziel dieser Pufferzone ist, die Demografie in dieser Region zu verändern. Die Kurden sollen dort vertrieben werden und anstatt ihrer andere Gruppen dort angesiedelt werden. Das wird nicht Kommentarlos hingenommen werden.

Hat sich die YPG westlich des Euphrats in Richtung Osten zurückgezogen?

Bereits vor einer Woche haben sie ihren Rückzug erklärt. Momentan halten sich dort die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) auf. In Manbidsch und Cerablus gibt es jeweils einen Militärrat. Die YPG hat erklärt, dass sie sich nach der Befreiung Manbidschs in ihre Stellungen zurückgezogen haben, die Stadt der jeweiligen Stadtverwaltung und den Militärräten überlassen haben.

Haben Sie Informationen über die Bevölkerung, die in Aleppo und dem Westen von Afrîn leben?

Die Dörfer nördlich von Aleppo sind zu 50% Kurden. Die Ahrar al-Sham Banden töten im Westen von Afrîn bei Überfällen auf kurdische Dörfer. Die Mitglieder anderer ethnischen Gruppen nicht; die Kurden werden getötet, denn sie möchten die Kurden von dort vertreiben. Das Gleiche erleben wir auch im Westen von Cerablus. Auch dort sollen die Kurden vertrieben werden.

Woher sollen die islamistischen Banden, die aus Tunesien und anderen Ländern der Welt kommen, wissen, welche ethnischen Gruppen in Cerablus leben? Doch von ihren Auftraggebern. Diese Gruppen unterhalten Beziehungen zur Türkei. Folglich bekommen sie ihre Aufträge von der Türkei.

Gibt es Operationen in Ar-Raqqa?

Wenn es nach uns ginge, würden wir Gesamtsyrien befreien. Aber da Ar-Raqqa nah an uns liegt, hat die Stadt Priorität. Für uns ist diese Stadt genauso wichtig wie Manbidsch. Der IS muss auch aus Ar-Raqqa vertrieben werden. Das ist auch eine Priorität der internationalen Anti-IS-Koalition. Wie und wann eine Operation ansteht, hängt von den Vorbereitungen ab.

Wie laufen die Vorbereitungen für die „Nordsyrien-Föderation“?

Das Projekt stößt auf große Zustimmung. Aber weil es neu ist, gibt es einige Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Da Syrien lange Jahre nach der Mentalität des Nationalstaats regiert wurde, kommt es immer wieder zu kleineren Problemen. Je mehr das Projekt umgesetzt wird und die Menschen es wahrnehmen, verändert sich ihre Sichtweise positiv. Insbesondere in den Gebieten, die jüngst befreit wurden, nimmt die Bevölkerung dieses Modell an. Es ist ein Prozess.

Gegen Rojava gibt es gegenwärtig ein Embargo seitens der Türkei und Südkurdistan. Das Volk von Rojava soll ausgehungert werden. Als der IS noch in der Region war, war das Embargo gegen die Bevölkerung von Rojava nicht so stark ausgeprägt.

Sie haben über das Embargo durch die Regierung von Südkurdistan gesprochen. Kurz vor der Operation von Cerablus war Herr Masud Barzani zu Besuch in der Türkei. Dieser Besuch war stark umstritten. Wie bewerten Sie diesen Besuch?

Dieser Besuch und die Gespräche die damit zusammenhingen waren sehr gefährlich. Wenn Herr Barzani sich an diesem Plan beteiligt haben sollte, dann ist das sehr negativ. Mit dem Besuch wollte die Türkei zum Ausdruck bringen, dass Herr Barzani ihr Verbündeter ist. Mir erscheint, als sei Herr Barzani in diesem Plan involviert. Wir hoffen aber, dass dem nicht so ist.