Staatlich geförderte Vergewaltigungskultur als Kriegsinstrument

Ein 15-jähriges Mädchen in Nordkurdistan wird Opfer einer Massenvergewaltigung. Unter den Tätern sind Unteroffiziere, Polizisten und Dorfschützer. Wer nun nach einem Aufschrei in der breiten türkischen Gesellschaft sucht, der wird von einem einvernehmlichen Schweigen begrüßt.

Ein weiterer Fall ist mittlerweile mehr als acht Jahre her – der sogenannte Skandal vom Pozanti-Gefängnis. In einem Gefängnis für Minderjährige wurden Kinder, die wegen des Vorwurfs des Steinewerfens auf Sicherheitskräfte inhaftiert wurden, systematisch gefoltert und vergewaltigt. ((Zum Skandal von Pozanti veröffentlichten wir am 01. Mai 2012 ein Dossier: https://civaka-azad.org/informationsdossier-zum-fall-pozanti/)) Dieser Vorfall, der ohne die mutige Arbeit einer Journalistin wohl nie an die Öffentlichkeit gedrungen wäre, schlug große Wellen in der Türkei. Selbst in deutschsprachigen Medien fand der Vorfall Beachtung.

Vergewaltigung als Mittel des Krieges ist entsetzlich, aber leider eine zur Kolonialisierung beliebte und regelmäßig angewendete Methode. Im Krieg gegen die kurdische Bevölkerung wird sie vom türkischen Staat systematisch eingesetzt und das nicht erst seit Kurzem. Dass hochrangige türkische Soldaten in den 90er Jahren regelmäßig junge kurdische Frauen in ländlichen Gebieten vergewaltigten, lässt sich in „Mehmets Buch“ von Nadire Mater ((Mehmets Buch: Türkische Soldaten berichten über ihren Kampf gegen kurdische Guerillas (edition suhrkamp) (Deutsch)– 25. Juni 2001)) lesen. Darin erzählen türkische Soldaten selbst von solchen Taten.

Vergewaltigungen sind in diesem Krieg allerdings durchaus mehr als Sexualverbrechen. Sie sind ein Kriegsinstrument, welches die absolute Dominanz der türkischen Armee über die kurdische Bevölkerung symbolisieren soll. Neben dem direkten Opfer selbst, soll die gesamte Gesellschaft erniedrigt werden, die, nach dem vorherrschenden patriarchalen Verständnis, noch nicht einmal die „Ehre“ ihre Töchter verteidigen kann. Darüber hinaus ist die Vergewaltigung als Kriegsinstrument die Antwort des türkischen Staates auf das Selbstbewusstsein der kurdischen Frau, die innerhalb der kurdischen Guerillakräfte den Kampf gegen die türkische Armee aufgenommen hat.

Sexuelle Gewalt in Kurdistan unter AKP-Herrschaft

Unter der AKP-Regierung findet Vergewaltigung als Mittel des Krieges verstärkt Anwendung. Der anfangs erwähnte Skandal von Pozanti fällt ebenso in die Regierungszeit der AKP, wie die öffentliche Entblößung des offensichtlich geschändeten Körpers der Guerillakämpferin Kevser Eltürk im Jahr 2015. Hinzu kommen unzählige Vergewaltigungsvorfälle an Minderjährigen, die sich in den vergangenen Jahren in Schulen und Internaten zwielichtiger islamischer Orden ereigneten. Diese Orden bewegen sich zumeist im Dunstkreis der AKP-Regierung und sind in den kurdischen Städten des Landes besonders aktiv, wo sie die junge Generation mit ihren Doktrinen in den Bann dieser Orden zu ziehen versuchen.

In den vergangenen Monaten ereigneten sich nun zwei konkrete Vorfälle, die besondere Aufmerksamkeit verdienen, weil sie deutlich machen, mit welcher Selbstverständlichkeit türkische Sicherheitskräfte und Staatsbeamte sich für Vergewaltigungsfälle in Nordkurdistan verantwortlich machen.

Massenvergewaltigung durch Polizisten und Dorfschützer in Elîh

In Kercews (türk. Gercüş) in der Nähe von Elîh wurde eine 15-jährige Kurdin von 27 Männern, darunter Polizisten, Dorfschützer und Offiziere, systematisch vergewaltigt. Die Vergewaltigungen des Mädchens geschahen offenbar über Monate hinweg. Sie wurde zudem schwanger. Erst bei einer Untersuchung im Rahmen der Schwangerschaft fanden die Ärzte heraus, dass das Mädchen über einen längeren Zeitraum wiederholt vergewaltigt worden war. Auch dieser Fall gelangte erst durch die mutige Berichterstattung der Frauennachrichtenagentur Jinnews an die Öffentlichkeit. Als unter dem hashtag #GercüsteNeOluyor ein großer Aufschrei folgte, wurde das Ermittlungsverfahren sofort als Verschlusssache behandelt und die Berichterstattung durch Zugangssperren eingeschränkt. Darüber hinaus wird die Berichterstattung kriminalisiert. Die lokale Polizeidirektion hat Ermittlungsverfahren gegen die Journalist*innen eingeleitet, die über den Fall berichtet haben.

Ipek E. – Selbstmordversuch nach tagelanger Vergewaltigung durch bekennenden Rechtsextremisten und Unteroffizier

Am 16. Juli versuchte Ipek Er sich das Leben zu nehmen, nachdem sie tagelang von Musa Orhan festgehalten, unter Drogen gesetzt und vergewaltigt wurde. In ihrem Abschiedsbrief schreibt sie, dass der Unteroffizier Musa O. und bekennende Anhänger der rechtsextremen Grauen Wölfe ihr gesagt habe, dass es keinen Sinn mache, sich zu wehren, da er als Militärangehöriger den Schutz des Staates genießen würde. Ipek Er verstarb am 18. August. Wie von ihm behauptet, hat Musa O. nicht viel zu befürchten. Keine 24 Stunden nach seiner Festnahme wurde er wieder freigelassen. Nach massiven Protesten der Frauenbewegung und feministischen Organisationen wurde er ein weiteres Mal festgenommen, jedoch bereits eine Woche danach per Gerichtsentscheid wieder auf freien Fuß gesetzt. Auch mit Beginn der Gerichtsverhandlung wurde Musa O. nicht verhaftet und hat weiterhin nicht viel zu befürchten.

Straflosigkeit ist Staatspolitik

Der Fall Musa O. ist ein Beispiel für die Straflosigkeit gegenüber Militärverbrechen in der Türkei und Nordkurdistan. Eren Keskin, die Anwältin und Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, berichtet, dass bisher keinerlei offizielle Mitglieder der Sicherheitskräfte für ihre Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung bestraft worden seien. Seit 1997 beobachtet Keskin Verfahren wegen sexualisierter Gewalt durch Armeeangehörige. Trotz eindeutiger Beweislage und gewonnener Prozesse vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) setze der Staat seine Politik der Straflosigkeit fort. „In einer Kriegssituation wenden die Parteien solche Methoden an, um die andere Seite zu vernichten und ihre Identität zu zerstören”, so Keskin. “Die Rechtsverletzungen in Kurdistan haben ebenfalls diese Qualität. Sie fühlen sich vollkommen sicher dabei, in Kurdistan Rechtsverletzungen an Frauen zu begehen. Sie sehen ihr Gegenüber ohnehin als Feind. Das gibt ihnen das Gefühl, ich kann machen, was ich will und muss dafür keine Konsequenzen tragen.“

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