Unsere größte Überlegenheit ist die Freiheitssuche der Gesellschaft

Riza Altun, Mitglied des KCK-Exekutivrats, spricht darüber, wie es möglich ist, gleichzeitig mit den USA zusammenzuarbeiten und dabei die Ideale des Sozialismus zu vertreten, 30.11.2017

Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Firat (ANF) bewertet das Mitglied des KCK-Exekutivrate Rıza Altun aktuelle Fragen zur Bündnispolitik der kurdischen Freiheitsbewegung und ihrem Sozialismusverständnis. Im Folgenden geben wir eine gekürzte Fassung des Interviews wieder:

Mit dem Widerstand von Kobanê sind die PKK und die Kräfte von Rojava in Beziehung mit der internationalen Koalition der USA getreten. Es gibt Kreise, die dies nicht mit der sozialistischen und anti-imperialistischen Identität der PKK und Rojava-Kräfte in Einklang bringen können. Ist dies eine vorübergehende Situation aufgrund der politischen, militärischem Umzingelung und Einsamkeit der Kurden oder gibt es darauf auch eine ideologische, politische und soziologische Antwort?

Dies sind keine Ergebnisse einer vorher geplanten strategischen politischen Beziehung, sondern mehr eine politische und taktische Situation, die sich im Laufe des Widerstands herausgebildet hat. Der Widerstand um Kobanê war ein Wendepunkt. Bis zum Widerstand von Kobanê gab es keine einzige regionale und internationale Kraft, die bis dahin den Freiheitskampf der Kurden unterstützte.

Infolge eines 100 Tage andauernden großen Widerstands war Kobanê auf einmal auf der globalen Tagesordnung. Die internationale Gemeinschaft und Öffentlichkeit haben einen unglaublichen Druck auf die USA und andere globalen Kräfte aufgebaut, damit diese eingreifen. Şengal und Kobanê haben buchstäblich das Gewissen der internationalen Gemeinschaft auf die Beine gebracht. Genau an diesem Punkt haben die globalen und regionalen Kräfte ihre eigene politische und militärische Situation reflektiert und in ihrer Hinsicht eine neue Phase gestartet. Somit entstand eine taktische Beziehung mit der Internationalen Koalition unter Führung der USA im Kampf gegen den IS. Auf diese Art und Weise begann diese Beziehung.

Gibt es eine Situation, in der sich die Interessen der unterdrückten Völker und gesellschaftlichen Kräfte mit denen der imperialistischen Kräfte treffen und damit einhergehend ein taktisches Zusammenkommen entstehen kann?

Im Mittleren Osten geschieht so etwas zum ersten Mal. Es ist eine etwas spezielle Situation. Wir können sowohl aus Sicht der Status-Quo Staaten, des internationalen Imperialismus und der revolutionär-sozialistischen Kräfte ein sehr kompliziertes Geflecht aus taktischen und strategischen Beziehungen zur Stärkung jeweils der eigenen Linie erkennen. Denn die Realität in der Region ist sehr komplex. Diese drei grundlegenden Kräfte haben sowohl untereinander Konflikte und insbesondere die beiden ersten Linien haben intern nochmals starke Widersprüche. Folglich können diese unterschiedlichen Linien entsprechend der primären Widersprüche und Interessen fortwährend verschiedene Beziehungen und Bündnisse entwickeln. Jeder steht sich konfliktreich gegenüber, aber ist gleichzeitig auch offen für Beziehungen und Bündnisse. Hier reicht ein ideologischer und politischer Ansatz nicht aus. Man muss gleichzeitig auch organisatorisch und militärisch Stellung beziehen. Denn wenn die praktischen Fragen nicht richtig in die Hand genommen werden und die eigene Entwicklungsdialektik nicht sehr gut angewandt wird, kann man mit dogmatischen Ansätzen seiner eigenen Liquidation den Weg ebnen.

Die Föderation in Nordsyrien und die Kräfte von Rojava haben sowohl Beziehungen mit den USA als auch mit Russland. Ist es wirklich möglich mit diesen riesigen imperialistischen Kräften in politische, militärische, wirtschaftliche Beziehungen zu treten und dabei gleichzeitig seine sozialistische Identität zu schützen?

Unser Kampf ist ein Freiheitskampf, der die gesamte historische Erfahrung vergangener Befreiungsbewegungen in seinem Bewusstsein trägt und dementsprechend agiert. Mit einem realsozialistischen Blick kann man uns nicht verstehen. Wir möchten im globalen kapitalistischen System, im Kampf gegen den Kapitalismus, Imperialismus und Kolonialismus, einen Freiheitsraum eröffnen. Wir möchten in einer versklavten Welt einen Raum der Freiheit schaffen. Die Freiheitsräume, die wir öffnen wollen, sind jedoch in der Hand und Kontrolle anderer. Doch die verschiedenen politischen und sozialen Kreise in der Region haben sehr ernste Widersprüche miteinander. Wir können im Namen unseres sozialistischen Ideals diese Widersprüche und Konflikte ausnutzen und so uns den weiteren Weg ebnen.

Wir möchten insbesondere innerhalb einer gesellschaftlichen Realität, die von den vier Kolonialstaaten und dem Imperialismus verleugnet wird, ein Freiheitsgebiet erschaffen. Deshalb brauchen wir eine äußerst gut kalkulierte Annäherungsweise. Grob zu sagen, „das sind alles Imperialisten, Kolonialisten und Kapitalisten“ und somit sie alle gegen uns zu stellen, bedeutet von Vornherein die Niederlage zu akzeptieren. Das Wichtige ist hierbei immerzu, nicht von seiner eigenen ideologischen, politischen und freiheitliche Linie abzukehren, damit alle Beziehungen letztlich diesem Ziel dienen.

In der Krise des globalen kapitalistischen Systems ist der Mittlere Osten der Schauplatz des Dritten Weltkriegs. Jeder ist hier vertreten. Der Kampf hier ist ideologisch, politisch und systemisch. Der globale Imperialismus strebt danach, im Zuge dieses Kampfes eine postmoderne Welthegemonie und ein erneuertes Weltsystem zu entwickeln. Die regionalen Status-Quo Staaten versuchen sich an ihren Vorteilen und Möglichkeiten des alten Systems des 20. Jahrhunderts festzuhalten. Die unterdrückten Völker und gesellschaftlichen Kreise haben in diesem Chaos das Bestreben, ihre eigene Freiheit und Gleichheit zu erlangen. Das ist nun in Rojava der Fall.

Ist es trotz der USA, Russland und den europäischen Staaten möglich in Nordsyrien oder auch im gesamten Mittleren Osten ein sozialistisches Leben aufzubauen?

Es gibt im Mittleren Osten eine ernsthafte demokratische, freiheitliche und sozialistische Linie, welche von den Kurden angeführt wird, die sich der kapitalistischen Moderne entgegenstellt. Die Kurden und die Freiheitslinie haben in dieser Beziehung ein klares Ziel. Der Gewinn einer Stellung durch die Kurden in Rojava und die Kräfte der Demokratischen Föderation Nordsyrien trägt eine strategische Bedeutung für alle sozialistischen und antisystemischen Kräfte.

Es gibt eine Internationale Koalition, die von den USA repräsentiert wird. Hinter dieser stehen alle Kräfte des Kapitalismus und die NATO. Auch hinter Russland steht eine Vielzahl von Kräften. Gleichzeitig haben sie Beziehungen und Widersprüche mit den regionalen Staaten. Die regionalen Staaten haben zwischen diesen beiden Polen Beziehungen und Widersprüche. In solch einer Situation haben wir auf einem kleinen Fleck Erde, welchen wir als Rojava bezeichnen, einen Freiheitsraum, einen demokratisch-kommunalen Raum geöffnet. Wir sprechen im Mittleren Osten zum ersten Mal von einem Raum der Freiheit. Es gibt eine Kraft, die sich auf diesem Stück Erde gesellschaftlich, politisch und ökonomisch zum Ausdruck bringt. Diese Kraft hat die gesamte materielle und moralische Kraft einer Gesellschaft hinter sich und kämpft auf diese Weise. Gleichzeitig möchte sie sich gegen die gesamte Kraft des kapitalistischen Systems mit einem ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Widerstand behaupten. Wir müssen darüber nachdenken, was dieser Freiheitsraum bedeuten kann. Es gibt die imperialistische und kapitalistische Herangehensweise, die diesen Raum vernichten will. Daneben gibt es eine freiheitliche Widerstandslinie, die diesen Raum noch weiter ausbreiten will. Die Widersprüche und Konflikte hierbei, die Beziehung der YPG mit Russland und den USA, müssen sehr gut bewertet werden. Die Freiheitsbewegung versucht trotz alledem von den Rissen dieser Beziehungen, zu profitieren und politisch, militärisch, wirtschaftlich und diplomatisch ihren Weg fortzusetzen.

Was macht sie gegen mögliche Angriffe ihrer politischen und ideologischen Gegner überlegen?

Unsere größte Überlegenheit ist die Freiheitssuche der Gesellschaft. Unsere Ideologie, die eine Antwort für diese Freiheitssuche der Gesellschaft bildet, gewährleistet uns Überlegenheit. Wir schlagen ein demokratisches Lösungsmodell vor, das der Geschichte und der Kultur der mittelöstlichen Völker entspricht. Wir führen im Grunde die sozialistische Idee mit ähnlichen Erfahrungen des historischen und kulturellen Lebens dieser Völker zusammen. Und genau dies macht unsere Ideen so anziehend. Zudem haben wir als Bewegung eine 40 jährige Vergangenheit. Dies ist eine Vergangenheit, die sich nur der Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und der Geschwisterlichkeit der Völker verschrieben hat. Unsere zweite und wichtigste Überlegenheit ist die Präsenz der Gesellschaft selbst im Kampfgebiet. Alle gesellschaftlichen Kreise, die in Nordsyrien leben, nehmen auf eine aktive Art und Weise in den politisch-militärischen und organisatorischen Arbeiten ihren Platz ein. Das ist unsere größte Überlegenheit.

Freiheitsräume entstehen in Form kleiner Inseln wie Kantone, Regionen usw. Diese Inseln kommen zusammen, befreien sich durch das Bilden von Föderationen von der Marginalisierung und erhalten durch die Zusammenkunft mit internationalen revolutionären Bewegungen universellen Charakter. Durch den Kampf der Kurden und der anderen revolutionären Kräfte in Rojava hat die sozialistische Identität und Ideologie, die nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus zertreten werde sollte, einen neuen Wert und Ruf gewonnen.

Weder die USA noch ihre Verbündeten sind noch in der Lage, mit ihrer alten Herangehensweise und politischen Zielen etwas im Mittleren Osten zu erreichen. Es entsteht derzeit eine neue Welt und ein neuer Mittlerer Osten. Weiterhin auf das Alte zu bestehen, bedeutet nichts anderes, als zu versuchen gegen die Strömung anzuschwimmen. Aber auch wenn die USA sich noch flexibler verhalten, werden sie doch keinen radikaleren Politikwechsel vollführen können. Deshalb versuchen sie ihren Verbündeten wie der Türkei und Saudi-Arabien den Kurs vorzugeben. Aber die Dinge entwickeln sich nicht ihrem Interesse. Wie sehr die USA die Situation auch als taktisch bewerten mögen, müssen sie doch einsehen, dass sie ohne ihre kurdischen Verbündeten alleine dastehen würden. Da sie keine andere Kraft als Verbündete haben, um ihre Präsenz in der Region zu gewährleisten, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sie sich in naher Zukunft in Konflikte mit ihren taktischen Verbündeten begeben. Sowohl die Politik der regionalen Mächte als auch die Herangehensweise der Türkei zwingen die USA praktisch dazu. Daher ist die derzeitige Situation weder für die YPG (Volksverteidigungskräfte) noch für die USA eine Frage der Wahl, sondern der Notwendigkeit.

Auf Basis des Realsozialismus können neue Auswege für den Sozialismus weder angemessen bewertet, noch kann ein wirklicher Sozialismus aufgebaut werden. Der Paradigmenwechsel der PKK bedeutet in seinem Kern nicht eine Abkehr vom Sozialismus. Es handelt sich bei dem Paradigmenwechsel vielmehr um eine Kritik an den ideologischen, philosophischen und politischen Betrachtungsweisen des Realsozialismus. Darauf basierend beabsichtigt die PKK, den Sozialismus auf einer freieren, gerechteren und demokratischeren Basis neu aufzubauen und zu vervollständigen. Die PKK ist deshalb keineswegs vom Sozialismus abgerückt. Ganz im Gegenteil wird auf Basis einer umfassenden Kritik am Realsozialismus und an den bisherigen anti-systemischen Bewegungen ein neues Sozialismusverständnis aufgebaut. Begriffe wie Demokratie, Demokratische Nation, Frauenbefreiung oder Ökologie stehen nicht im Widerspruch zum Sozialismus.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang das Konzept der Demokratischen Nation?

Im System des Nationalstaates fungiert der Staat als Werkzeug der Unterdrückung und Hegemonie; die Nation vervollständigt ihn durch ihre homogene ethnische und religiöse Ideologie. Auf dieser Basis entsteht der Kapitalismus und hält sich am Leben. Auf der Grundlage der Hegemonie des Staates und der Homogenität der Nation wird ein mörderisches Regime aufgebaut. Auch der Realsozialismus schaffte es nicht, den Nationalstaat als System und Paradigma zu überkommen. Das Phänomen der Nation und das des Staates müssen wir getrennt voneinander betrachten. Die Nation ist eine Form der Gesellschaft. Die Demokratische Nation ist eine Gesellschaft, welche auf einer demokratischen Basis aufgebaut wird. Das passendste Konzept für den neuen gesellschaftlichen Aufbau unter den Bedingungen im Mittleren Osten ist das Konzept der Demokratischen Nation. Das Konzept betont den kulturellen und demokratischen Charakter des Aufbaus der Nation. Es ist zugleich Ausdruck des gleichberechtigten und freien Zusammenlebens der kulturellen Nationen, das auf einer demokratischen Grundlage basiert. Die Demokratische Nation lehnt den Monopolismus des Kapitalismus und den Nationalstaat ab, der sich wie das Fleisch um den Knochen legt. Stattdessen setzt sie sich den Aufbau eines sozialistischen und kommunalen Lebens zum Ziel.

Der Staat ist kein Mechanismus, durch den der Sozialismus entsteht. Auch die Nation ist kein Mechanismus, den sich der Sozialismus als Basis nimmt. Vielmehr muss die Nation als gesellschaftliches Phänomen von Neuem entdeckt und mit dem Sozialismus vereint werden. Genau das ist es, was die PKK und ihr Vorsitzender Abdullah Öcalan tun. In diesem Sinne wird der Aufbau der Demokratischen Nation der passendste gesellschaftliche Ausdruck des sozialistischen Freiheitsversprechens sein. Die Demokratische Nation wird eine Gesellschaft hervorbringen, in der sich alle Menschen und Gruppen frei zum Ausdruck bringen, in ihrer Unterschiedlichkeit zusammen leben, sich selbst organisieren und zugleich ihren Respekt gegenüber der gesellschaftlichen Vielfalt wahren können.

Das von unserem Vorsitzenden entwickelte Paradigma ist universell und sozialistisch. Abdullah Öcalans Paradigma dürfen wir nicht als eine Vision nur für die Kurdinnen und Kurden bzw. Kurdistan verstehen. Es kann sein, dass die Bewegungen, die dieses Paradigma verteidigen, es z.T. auf diesen Aspekt reduzieren. Die PKK und die PYD sind zwei Bewegungen, die sich die Revolution in Kurdistan als konkretes Ziel gesetzt haben. Das Paradigma Öcalans dient ihnen dabei als wichtige Orientierung. Aber es wäre ein großer Fehler, das Paradigma unseres Vorsitzenden nur auf die kurdische Gesellschaft und nur auf ihre Freiheit zu beschränken. Ganz im Gegenteil handelt es sich um ein Paradigma, das keine Unterschiede zwischen den Ethnien macht und keiner gesellschaftlichen Gruppe mehr Wert beimisst als einer anderen. Damit handelt es sich um ein sozialistisches Paradigma, das sich zuerst im gesamten Mittleren Osten und in der ganzen Welt auf einer internationalistischen Grundlage verbreiten muss.

Es ist unsere Aufgabe, als Alternative zum globalen Kapitalismus die globale Demokratie aufzubauen. Die Freiheitsbewegungen müssen sich auf demokratischer Grundlage zu einer internationalistischen Einheit verbinden. Besonders die erste, zweite und dritte Internationale sind trotz ihrer teilweisen Defizite wichtige Erfahrungsschätze dafür. Das gilt umso mehr für unsere heutige Zeit. Kein Paradigma, das nicht universelle Gültigkeit besitzt, kann einen sozialistischen Charakter haben. Daher sind wir der Überzeugung, dass wir dringend eine Internationale der Freiheit aufbauen müssen. Diesbezüglich gibt es bereits Entwicklungen, die uns Hoffnung geben.

 

Bei dem vorliegenden Interview handelt es sich um eine gekürzte Fassung einer zweiteiligen Reportage mit Riza Altun, die am 12. und 13. Novemeber von der Nachrichtenagentur Firat veröffentlicht wurde.