Andrea Benario für den Kurdistan Report März/April 2018
Nur eine Woche bevor der Angriffskrieg der Türkei gegen den Kanton Afrin begann, fand die erste Jineolojî-Konferenz Nordsyriens statt. Unter dem Motto »Jineolojî: Die gesellschaftliche Realität mit der Natur der Frau erhellen« hatte die Jineolojî-Akademie Rojava am 12. und 13. Januar 2018 zu dieser Konferenz eingeladen. Ziel war es, die Erfahrungen des strukturellen Aufbauprozesses der Jineolojî als einer alternativen Frauenwissenschaft in Rojava, die Methodiken sowie die Ergebnisse der Bildungs- und Forschungsarbeiten der vergangenen zwei Jahre auszutauschen und zu bewerten. Im Anschluss sollten das weitere Vorgehen und neue Projekte gemeinsam bestimmt werden, damit die Jineolojî-Arbeiten in Rojava ihrer Aufgabe als einer Wissenschaft von der und für die Frauenrevolution gerecht werden können.
Jineolojî ist ein neuer Aufbruch und ein Akt des Widerstandes gegen patriarchale Angriffe, die versuchen, das Wissen und Selbstbewusstsein von Frauen auszulöschen. Hiervon ausgehend wurden seit letztem Sommer regionale Jineolojî-Forschungszentren zunächst in Afrin, dann auch in Dêrik und Minbic aufgebaut, die begonnen haben, das Wissen von Frauen zu sammeln, zu vernetzen und neu verfügbar zu machen. Insbesondere das Sichtbar- und Bewusstmachen der reichen geschichtlichen Ressourcen der lokalen Frauengeschichte und -kultur in den verschiedenen Epochen und Gemeinschaften der Völker Nordsyriens stellen eine wichtige Inspirationsquelle und Bezugspunkte dar. Hierdurch wird die Verdrehung der Geschichte und der Wahrheit durch die Herrschenden entlarvt, die der Zementierung von Ausbeutung und Unterwerfung dient. Heute wissen Frauen, dass es bereits in der Geschichte ihrer Region lokale und konföderale Rätestrukturen, weise kämpfende Frauen und Formen des Ko-Vorsitzes gegeben hat, wie beispielsweise archäologische Funde aus Tell Halaf, Urkesch oder Afrin belegen.
200 Delegierte aus vielen Städten und Dörfern der Kantone Afrin, Kobanê und Cizîrê sowie aus den im Laufe des letzten Jahres von der IS-Schreckensherrschaft befreiten Gebieten wie Minbic, Tabqa und Raqqa waren zu der ersten Jineolojî-Konferenz Nordsyriens angereist. Selbst Teilnehmerinnen aus der immer noch umkämpften Region Deir ez-Zor kamen nach Dêrik, um sich über die Ziele und den Stand der Jineolojî-Arbeiten zu informieren und ihre Vorstellungen zu teilen. Lebhaft diskutierten Frauen aller Generationen und verschiedener sozialer, ethnischer und religiöser Gruppen der Demokratischen Föderation Nordsyrien über die Auswirkungen der Revolution und des Krieges auf Frauen und die Gesellschaft. Das Bedürfnis, sich zu artikulieren, eigene Gedanken und Lebenserfahrungen zu teilen, war deutlich zu spüren. Die versammelten Frauen – Kurdinnen, Araberinnen, Turkmeninnen, Armenierinnen, Assyrerinnen, Chaldäerinnen, Tschetscheninnen und Êzîdinnen sowie Frauen muslimischen, alevitischen und christlichen Glaubens – repräsentierten zugleich das Mosaik der verschiedenen Völker und Glaubensgruppen in der Demokratischen Föderation Nordsyrien. Zudem nahmen auch Internationalistinnen aus verschiedenen Ländern Europas an der Konferenz teil. Und so waren auch die Redebeiträge und Transparente im Konferenzsaal mehrsprachig – arabisch, kurdisch, syrianisch und turkmenisch. Für viele Frauen bedeuteten das Zusammenkommen und der Austausch mit Frauen aus anderen Regionen und Communities, sich selbst im Spiegel der Realitäten anderer Frauen besser erkennen zu können; sich über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Geschichte und Lebensrealitäten anderer Frauen bewusst zu werden. Häufig betonten Konferenzteilnehmerinnen in ihren Diskussionsbeiträgen, wie wichtig es für den gesellschaftlichen Neuaufbau sei, Forschung und Bildung von einem Frauenstandpunkt aus zu entwickeln. Denn nur so könnten die Schmerzen und das Leid überwunden werden, die patriarchale Mentalität und Gewalt in allen Lebensbereichen angerichtet haben. Insbesondere Frauen aus Gebieten, die noch vor kurzem durch die Gewaltherrschaft des Islamischen Staates (IS) tyrannisiert wurden, äußerten ihre Erwartungen, dass durch die Verbreiterung der Jineolojî Frauen dazu ermutigt werden würden, ihr Schweigen zu brechen und sich ihr Selbstbewusstsein zurückzuerobern.
Einen wichtigen Tagesordnungspunkt stellte die Vorstellung der vorläufigen Ergebnisse einer soziologischen Studie über die Geschichte der Frauen und Gesellschaften Nordsyriens sowie die Auswirkungen der Revolution auf ihr Leben dar. In nahezu 300 Interviews und Gruppendiskussionen war das Wissen von Frauen über ihre Kultur und Geschichte, ihre Lebenserfahrungen und Zukunftsperspektiven zusammengetragen worden. Ihr Wissen wiederum wurde zum Anhaltspunkt für weitere Nachforschungen, Quellenstudien und den Besuch historischer Stätten. Während der Arbeiten an der Studie wurde sogleich versucht, eine dem Ansatz der Jineolojî entsprechende Methodik zu entwickeln, d. h. die Forschung als einen gemeinsamen Prozess zu begreifen, in dem in Gesprächen und Diskussionen persönliche und gesellschaftliche Realitäten reflektiert werden, um sie im Sinne der Befreiung verändern zu können.
In diesem Forschungsprozess stellte sich heraus, dass bis heute in vielen Dörfern und gesellschaftlichen Traditionen Spuren einer von Frauen geprägten, außerstaatlich organisierten kommunalen, basisdemokratischen und solidarischen Gesellschaft zu finden sind: von Dorfräten und Schlichtungskommissionen über Gemeinschaftsdepots, kollektive Arbeitsformen, das Teilen von Freud und Leid bis hin zu der ethischen Verantwortung – ohne Erwartung von Gegenleistungen –, Bedürftige materiell und ideell zu unterstützen. Vielerorts wurden und werden die Feste der unterschiedlichen Völker und Glaubensgemeinschaften gemeinsam gefeiert.
»Früher gab es für Frauen in den Dörfern nichts, was als ›unanständig‹ gegolten hätte. Frauen und Männer, Jungen und Mädchen haben gemeinsam gearbeitet, gefeiert, getanzt und gesungen. Auch wenn die Arbeit körperlich sehr schwer war, so hatten wir doch Freude dabei, denn wir haben alles gemeinsam gemacht und miteinander geteilt«, berichteten viele ältere Frauen. Es habe Dörfer gegeben, in denen die Beschaffenheit der Äcker rund um das Dorf verschieden gewesen sei. Damit keine Familie benachteiligt würde, habe die Dorfgemeinschaft jedes Jahr per Losverfahren entschieden, welche Familie im kommenden Jahr welches Feld bestellen kann. Auf die Frage hin, wann und wodurch sich ihr Leben zum Negativen hin verändert habe, antworteten viele Frauen: »Als das Geld, Strom und Fernseher in unser Dorf kamen, wurde unsere gemeinschaftliche Lebenskultur zerstört.« Viele vermeintlich als »Fortschritt« gepriesene Entwicklungen wirkten sich zerstörerisch auf die naturverbundene Lebenskultur und das Zusammenleben aus. Damit einhergehend wurden Frauen zunehmend aus dem gemeinschaftlichen Leben verdrängt.
Auch durch staatliche Kontrolle und Unterdrückung wurden Misstrauen und Vorurteile in der Gesellschaft geschürt. Infolge des Erlasses der Baath-Regierung vom 5.10.1962, der auch als Beginn der chauvinistischen Politik des »arabischen Gürtels« bekannt wurde, wurden 6,5 Millionen Hektar kurdischen Landbesitzes beschlagnahmt. Dem Großteil der im Kanton Cizîrê lebenden KurdInnen wurden willkürlich sämtliche Staatsbürgerrechte entzogen. Frauen wurden durch diese Politik insbesondere getroffen, die Verarmung und damit einhergehende Migration zur Folge hatte.
Bezüglich ihres Lebens und ihrer Probleme vor der Revolution berichteten viele Frauen, dass sie durch die Enteignungen dazu gezwungen waren, als Tagelöhnerinnen unter schweren Bedingungen in der Landwirtschaft zu arbeiten. Familien wurden auseinandergerissen, da viele Männer auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten für den Existenzerhalt der Familien in die Großstädte Syriens oder ins Ausland gingen. Viele Familien aus Cizîrê, Kobanê und Afrin migrierten nach Aleppo oder Damaskus, wo sie zumeist unter prekären Bedingungen in armen Vierteln in den Stadtrandgebieten lebten. Des Weiteren schickte der syrische Staat gezielt Imame bestimmter islamischer Sekten in kurdische Gebiete wie z. B. nach Kobanê, um über sie die Gesellschaft besser kontrollieren zu können. Die Verbreitung strenger religiöser Dogmen verstärkte patriarchale Strukturen und Mentalität in der Gesellschaft. Hierdurch wurden die Traditionen der kommunalen Frauenkultur angegriffen. Mittels des patriarchalen und religiös begründeten Ehrverständnisses, das Frauen zum Eigentum der Familie und des Mannes deklariert, wurden Frauen ihrer Ausdrucks- und Bewegungsfreiheit beraubt, gegen ihren Willen verheiratet oder geschieden. Frauen in Kobanê sahen sich fortan gezwungen, ihre traditionellen bunten und weißen Kleider unter schwarzen Hijabs zu verbergen. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts nutzte der syrische Staat insbesondere Medien und Modetrends dazu, die Gesellschaft zu passivieren. Türkische TV-Serien wurden in arabischer Sprache synchronisiert. Diese Serien propagierten eine materielle Kultur sowie sexistische, bürgerlich-patriarchale Klischees. Insbesondere junge Frauen gerieten in die Zerrissenheit zwischen den durch Hollywood- und Bollywood-Kultur verbreiteten Schönheitsidealen und Illusionen von einem neuen Lebensstandard einerseits und der eigenen Realität andererseits. So versuchten viele in den syrischen Großstädten aufgewachsene junge Frauen, sich an das System des syrischen Staates und die arabische Kultur anzupassen, in der Hoffnung, dadurch sozialen Aufstieg erfahren zu können.
Doch selbst Frauen, die an den Universitäten in den Großstädten Syriens studiert hatten, hatten nach dem Universitätsabschluss kaum die Möglichkeit in ihrem Bereich zu arbeiten, geschweige denn ihr Leben selbst zu bestimmen. Außer den Berufen der Lehrerin und Krankenpflegerin, zu denen kurdische Frauen aber häufig aufgrund fehlender syrischer Staatsbürgerschaft nicht zugelassen wurden, stand Frauen kaum ein Tätigkeitsfeld offen. Die Lebensperspektive wurde grundsätzlich auf Heirat und Mutterschaft reduziert. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass viele Frauen, die im Verlauf der Studie nach ihren Zukunftsplänen und Wünschen befragt wurden, perplex reagierten und antworteten: »Noch nie hat mir jemand eine solche Frage gestellt. Darüber habe ich bislang noch nie nachgedacht …« Auch der mit Flucht, Ängsten, Todesnachrichten und Ungewissheit einhergehende und seit über sechs Jahren andauernde Krieg in Syrien trägt dazu bei, dass Frauen ihrer Möglichkeit beraubt werden, ihre Zukunft längerfristig zu planen. Sie wissen, dass die unberechenbare Kriegs- und Wirtschaftspolitik imperialistischer Mächte und verschiedener Staaten unmittelbare Auswirkungen auf ihr Leben hat.
Jedoch berichteten viele Frauen stolz von den vielen Errungenschaften und Veränderungen, die sie sich im gesellschaftlichen und persönlichen Leben erkämpft haben. Im Rahmen des Aufbaus der demokratischen Autonomie sind Frauen zum ersten Mal in allen Bereichen des öffentlichen Lebens präsent, wirken an Entscheidungen und der Gestaltung ihres Lebens mit. Eine Konferenzteilnehmerin sagte, die Situation vor der Revolution mit heute vergleichend: »Noch vor einigen Jahren wäre es niemals denkbar gewesen, dass wir in unserer eigenen Sprache Lesen und Schreiben lernen. Aber heute gehen meine Kinder alle zur Schule und bringen auch mir das Lesen und Schreiben auf Kurdisch bei. Früher wäre es undenkbar gewesen, dass sich eine Frau ohne Begleitung eines männlichen Familienmitgliedes frei in der Gesellschaft bewegt. Aber heute nehmen Frauen in allen Teilen des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebens ihren Platz ein. Besonders der mutige Kampf der Frauen in den Frauenverteidigungseinheiten YPJ hat eine große gesellschaftliche Veränderung bewirkt. Ich fühle eine unbeschreibliche Freude darüber, dass wir heute hier mit so vielen freiheitsliebenden Frauen zusammenkommen können.«
Eine arabische Frau fügte dem hinzu: »Früher beherrschte die Mentalität der Baath-Partei alles. Doch mittlerweile haben die Menschen in Rojava die Zeit des Baath-Regimes vergessen. Denn wir haben bewiesen und es hat sich gezeigt, dass das System der demokratischen Selbstverwaltung funktioniert. Der Glaube der Menschen, ihre Zukunft in diesem System gestalten zu können, hat sich verfestigt. Früher galt es als ›unanständig‹ für Frauen in einem Betrieb zu arbeiten. Mein Arbeitgeber sperrte mich immer in einem Hinterzimmer ein, damit mich auch ja niemand sah, wenn ich die Buchhaltung machte, denn ich war ja eine Frau. Heute bin ich die Kovorsitzende des Stadtrates von Çil Axa und die Menschen wenden sich mit ihren Anliegen an mich. Damit hat sich für mich ein Traum verwirklicht. Ich brauche mich bei meiner Arbeit nicht mehr zu verstecken!«
Die Beiträge der Konferenzteilnehmerinnen und Beschlüsse, die zur Verbreitung der Jineolojî in allen Regionen Nordsyriens mit Frauen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen gefasst wurden, haben eine sehr aktuelle und strategische Bedeutung. Dies wurde insbesondere an den Angriffen deutlich, die nur wenige Tage nach der Rückkehr der Delegierten auf Afrin begannen.
Der Angriff auf Afrin ist ein Angriff auf die Frauenrevolution
Über die politischen Ziele, ökonomisch-strategischen Interessen und militärischen Entwicklungen der völkerrechtswidrigen Aggression des türkischen Staates gegen den Kanton Afrin wurde in den letzten Wochen viel berichtet. In dieser Hinsicht erschienen sowohl über den Krieg der Türkei als auch den Widerstand in Afrin viele kontroverse Beiträge in diversen internationalen Medien. Wenn wir jedoch die Kriegsrhetorik und -praxis des türkischen Staates und der von ihm geleiteten dschihadistischen Mörderbanden genauer betrachten, erkennen wir, dass dieser Krieg noch eine weitere Dimension hat: Genauso wie der Genozid und Feminizid des IS im August 2016 in Şengal tragen auch die Angriffe auf Afrin einen zutiefst patriarchalen und chauvinistischen Charakter.
Der Angriff auf Afrin stellt einen Angriff auf das historische Erbe und kollektive Gedächtnis sowie die Geschichte des gemeinschaftlichen Zusammenlebens verschiedener Völker und Glaubensgemeinschaften dar.
Die Praxis des türkischen Staates knüpft an das Vorgehen des IS an, wird jedoch bislang bei Weitem nicht mit der gleichen Vehemenz international verurteilt. Vor drei Jahren sprengte und plünderte der IS Zeugnisse der matriarchalen Kultur sowie Symbole der Königin Zenobia in der antiken Stadt Palmyra (Tadmur). Nun zerbomben türkische Kampfjets den 3.000 Jahre alten Tempel Ain Dara (Endarê) in der Nähe der Stadt Afrin, der der Göttin Ischtar geweiht ist. Riesige in Steinplatten gehauene Fußabdrücke, die die Anwesenheit der Göttin symbolisierten, Reste des historischen Tempelbaus sowie Löwen- und Frauenskulpturen wurden durch Bombenangriffe der türkischen Luftwaffe zertrümmert. Die Göttin Ischtar repräsentiert als Göttin der Fruchtbarkeit, der Weisheit, des Schutzes und der Liebe das gemeinsame kulturelle Erbe der Völker in der Region. Die Spuren der Menschheitsgeschichte in Afrin lassen sich bis zu Funden von Neandertaler-Skeletten zurückverfolgen, die vor 200.000 Jahren in der Höhle Duderi bestattet wurden. Im neolithischen Zeitalter war die Region Afrin eine der Gegenden im Fruchtbaren Halbmond, in denen die ersten Dorfsiedlungen gebaut wurden und die Landwirtschaft entwickelt wurde. Frauen spielten eine führende Rolle in diesem gesellschaftsgeschichtlichen Prozess, der als die erste Frauenrevolution bezeichnet wird.
Es ist auffällig, dass die türkische Armee gegenwärtig insbesondere Regionen Afrins zur Zielscheibe von Luftangriffen und Artilleriebeschuss wählt, die bis heute über ein reiches, lebendiges Erbe neolithischer Kultur und kommunaler Lebensformen verfügen. Hier befinden sich Dörfer wie der Ort Zehra, in denen bis heute gemeinschaftlich gearbeitet, gekocht und gegessen wird; in denen Geld eine untergeordnete Rolle spielt und ethische Werte wie Solidarität und Teilen hoch geschätzt werden. In diesen Gemeinschaften spielen Frauen häufig eine wichtige Rolle. Es gibt starke Frauenpersönlichkeiten, die als Ratgeberinnen der Gemeinschaft respektiert werden. Frauen, die Wissen über natürliche Heilmethoden über Generationen hinweg bewahrt und weitergegeben haben. Viele Dörfer und heilige Stätten Afrins wurden nach Frauen benannt, wie beispielsweise Girê Cindirêse [»Hügel der spinnenden Frau«], Kevirê Bûkê [»Stein der Braut«], Şikefta Qîzika [»Höhle der Mädchen«], Xirabê Şemsê [»die Ruine von Schemse«] oder Zinarê Zînê [»der Felsen von Zine«]. Jeder dieser Orte hat eine eigene Geschichte, viele erzählen von der Schaffenskraft und dem Widerstand von Frauen. So berichten die Menschen aus der Umgebung von Kevirê Bûkê, dass dort vor langer, langer Zeit eine junge Frau gegen ihren Willen habe verheiratet werden sollen. Jedoch habe sich die junge Frau dagegen zur Wehr gesetzt und ausgerufen: »Lieber will ich zu Stein werden, als diesen Mann zu heiraten!« Daraufhin seien sie und ihr Pferd erstarrt und versteinert. Bis heute wird dieser Stein als ein heiliger Ort von den Menschen aus der Region aufgesucht. Er wird zugleich als Mahnung verstanden, den Willen junger Frauen zu achten, um kein Unglück über sie zu bringen. In der Region Mabata erzählen Frauen von einem Dorf, in dem Frauen eine eigene Sprache entwickelt haben und sie nur an ihre Töchter weitergeben.
Trotz einer langen Reihe unterschiedlicher Besatzer- und Kolonialstaaten, die in den vergangenen drei Jahrtausenden versuchten, die Region zu beherrschen, haben die Menschen in Afrin viele Elemente vorstaatlicher Gesellschaftsformen in ihrer Lebens- und Widerstandskultur bewahren können. Da sich die verschiedenen Formen sexistischer, rassistisch-nationalistischer und religiös-fundamentalistischer Unterdrückung bislang als ungeeignet erwiesen, die Spuren der Frauengeschichte sowie der matriarchalen und egalitären Kultur vollständig auszulöschen, versucht der türkische Staat dies nun mit seinen Bomben, Granaten und Mörderbanden. Mit dem Ziel, das gemeinschaftliche Leben der verschiedenen religiösen Gruppen zu zerstören, wurden êzîdische Dörfer in den Regionen Şêrawa, Şera und Cindirêsê, christliche Heiligtümer sowie alevitische Dörfer in der Region Mabeta von Afrin zum Angriffsziel erklärt.
Mit der Vernichtung von Zeugnissen vorstaatlicher, matriarchaler Kulturen beabsichtigen die herrschenden Eliten zugleich den revolutionären Kampf von Frauen in Kurdistan zu zerschlagen, der sich auf diese kulturellen, egalitären Werte bezieht. Insbesondere in den letzten fünf Jahren intensivierte der türkische Staat seine Versuche, die durch die Frauenbewegung in Kurdistan angestoßenen revolutionären Dynamiken zu liquidieren. Hiervon zeugen u. a. die gezielten Attentate des türkischen Geheimdienstes auf Führungspersönlichkeiten der kurdischen Frauenbewegung. So wurden unsere Genossinnen Sara, Rojbîn und Ronahî am 9. Januar 2013 in Paris ermordet, um die sich verbreitende ideologische Kraft, die internationale Organisierung und Mobilisierung junger Frauen der Frauenbefreiungsbewegung aufzuhalten. Unsere Freundinnen Sêvê, Pakîze und Fatma wurden am 5. Januar 2015 in Silopî durch Todesschwadronen des türkischen Staates ermordet, um die gesellschaftliche und politische Kraft der Frauen mundtot zu machen. Die mit diesen Morden einhergehenden Massaker des türkischen Staates in Cizîrê und Sûr sollten den Willen der Bevölkerung brechen. Um die auf dem Gedanken der Frauenbefreiung basierenden autonomen Selbstverwaltungsstrukturen in Nordkurdistan zu zerschlagen, wurden ganze historische Stadtteile und gewachsene Lebensstrukturen zerbombt und eingerissen. Zwei Jahre später bombardierte die türkische Luftwaffe mit Dutzenden von Kampfjets das Hauptquartier der Frauenverteidigungseinheiten YPJ in Qerecox/Rojava. Während der entschlossene Kampf der YPJ gegen die menschenverachtenden IS-Banden in Kobanê internationale Anerkennung und Solidarität erfahren hat, betrachtet der türkische Staat gegen Unrecht und Unterdrückung kämpfende Frauen als eine »terroristische Bedrohung seiner nationalen Interessen«. Mit der Absicht, die Verteidigungskraft der Frauen zu zerschlagen, konzentrierte die türkische Armee im vergangenen Jahr ihre Luftangriffe auf Stellungen und Kommandantinnen der Frauenguerilla YJA Star in den Bergen Kurdistans. Das gleiche Ziel verfolgen die systematischen sexistischen Angriffe türkischer Soldaten und Spezialeinheiten auf Freiheitskämpferinnen. Der Staat meint, seine faschistisch-patriarchale Ordnung aufrechterhalten zu können, indem seine Soldaten und Söldner gefangengenommene oder ermordete Freiheitskämpferinnen vergewaltigen, foltern, ihre Körper zerstückeln und entkleidet zur Schau stellen. Auch bei ihren jüngsten Angriffen auf den Kanton Afrin verübten türkische Soldaten und von der türkischen Armee befehligte dschihadistische Gruppierungen diese von Frauenhass, Menschenverachtung und Männlichkeitswahn geprägten grausamen Verbrechen. Sie sind darauf ausgerichtet, den Freiheitswillen und die Menschenwürde aller Frauen und der gesamten Gesellschaft zu brechen. Jedoch sind diese Rechnungen des türkischen Staates nicht aufgegangen. Denn in vier Jahrzehnten des Freiheitskampfes der Frauenbewegung in Kurdistan haben sich Frauen ein kollektives Bewusstsein über die Ziele und das Wesen patriarchaler, staatlicher Unterdrückungs- und Herrschaftsmethoden erarbeitet. Und so wurde ein jeder Angriff mit einer neuen Welle des Widerstandes und neuen Aufbrüchen beantwortet.
Die Frauen in Afrin können sich auf eine Tradition des Widerstandes und der kommunalen Selbstverwaltung beziehen, die durch die Organisierung der kurdischen Freiheitsbewegung in Rojava seit den 1980er Jahren Schritt für Schritt gestärkt wurde. Hierdurch stellten sie sich der patriarchalen und kolonialen Entfremdung entgegen. Sie lernten sich selbst, ihre eigene Kultur und Sprache wertzuschätzen. Insbesondere die Analysen Abdullah Öcalans zu Themen wie Frauengeschichte, Frauenbefreiung als Grundlage gesellschaftlicher und nationaler Befreiung oder der Frauenbefreiungsideologie, die viele Frauen in Afrin lesen oder auf Videoaufnahmen ansehen konnten, stärkten das Selbstbewusstsein. Dieser Bewusstseinsprozess war die Grundlage der Frauenorganisierung und der Frauensolidarität, auf die die Gründung der Frauenbewegung Kongra Star aufbauen konnte und an die die Jineolojî anknüpft.
Seit den Umbrüchen in Syrien und dem Beginn der Revolution in Rojava gelang es der Frauenbewegung Frauen aus allen Teilen der Gesellschaft zu mobilisieren und zu organisieren. Während es vielen Frauen zuvor kaum möglich gewesen war, allein das Haus zu verlassen, geschweige denn an Entscheidungen mitzuwirken, waren und sind Frauen zu einer treibenden Kraft des Aufbaus der demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava und in der Demokratischen Föderation Nordsyrien geworden – so auch in Afrin. Frauen aller Altersschichten beteiligten sich von Anfang an aktiv am Widerstand gegen die Angriffe der von der Türkei gelenkten Al-Nusra-Banden. Am 29. Mai 2013 verlor als erste YPJ-Kommandantin Silava (Meryem Mihemed) ihr Leben bei der Verteidigung des Kantons Afrins. Sie wurde zum Vorbild für Hunderte junge Frauen, die sich aus Afrin den Frauenverteidigungseinheiten anschlossen. So wie Arîn Mirkan aus Afrin zum Symbol des Widerstandes der YPJ bei der Verteidigung von Kobanê gegen das Vorrücken der faschistischen IS-Banden wurde, setzte sich die YPJ-Kämpferin Avesta Xabûr mit ihrem Leben dafür ein, den Einmarsch der faschistischen türkischen Armee in die Region Afrin beim Dorf Hemam zu verhindern. Der Geist und der Mut des Widerstands gegen Invasion und Besatzung haben sich unter Frauen aus allen Teilen der Bevölkerung Afrins verbreitet. Zehntausende Frauen haben zu den Waffen gegriffen, um ihr Leben, ihr Land und ihre Zukunft zu verteidigen. Trotz pausenloser Bombardierung ihrer Wohnviertel, angesichts von Tod und Zerstörung, erklären sie, dass sie sich nicht von ihrer Erde vertreiben lassen werden. Sie sind sich dessen bewusst, dass sie in Afrin eine Frauenrevolution und die Sehnsucht von Frauen auf der ganzen Welt nach einem selbstbestimmten Leben in Freiheit und Würde verteidigen. Deshalb lautet ihr Aufruf an Frauen weltweit: »Women Rise Up For Afrin!«