Warum keine humanitäre Hilfe an die Flüchtlinge in Rojava fließt

rojava-ambargo-resmiHumanitäre Hilfe als Waffe
Devriş Çimen, Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e. V.

Syrien ist längst nicht mehr der Ort, an dem ein Aufstand stattfindet, Syrien entwickelte sich in ein Schlachtfeld eines internationalen Stellvertreterkrieges. Neben mehr als 140 000 Menschen, die seit März 2011 getötet wurden, sind Millionen Flüchtlinge die Opfer dieser grausamen Tragödie.

Auch die Genf-II-Konferenz hat zu keinem vernünftigen Ergebnis geführt. Das Agieren der regionalen und internationalen Konfliktparteien beschränkt sich auch nach Genf II weiterhin im Wesentlichen auf die Unterstützung ihrer Bündnispartner in Syrien. Mit Waffen, Kämpfern, Geld, Infrastruktur etc. werden die Auseinandersetzungen weiter angeheizt, statt mit ernsthaften Gesprächen nachhaltige Lösungen zu suchen und zu fördern.

Radikale Islamisten rekrutieren Kämpfer in allen Teilen der Welt für den Heiligen Krieg (»Dschihad«) auch im Norden und Nordosten von Syrien, in Rojava, wo KurdInnen und andere Ethnien leben. Die dortige Bevölkerung ist ins Zentrum eines schmutzigen Krieges zwischen dem Regime und verschiedenen dschihadistischen Gruppen gerückt worden. Der Krieg und damit die Zerstörung gehen weiter, obwohl in den kurdischen Regionen eine demokratische Selbstverwaltung aufgebaut wurde und in vielen weiteren Regionen Syriens Teile der Freien Syrischen Armee (FSA) ihren bewaffneten Kampf auf Bitten der Bevölkerung eingestellt haben. Auch dort kämpfen hauptsächlich die ausländischen Söldner islamistischer Ausrichtung weiter. Das Sterben geht weiter und die Fluchtbewegungen halten an.

Flucht und Flüchtlinge
Rund 40 Prozent der syrischen Bevölkerung befinden sich auf der Flucht. Das heißt: Neben den rund drei Millionen Menschen, die in die Nachbarländer (allein in die Türkei und in den Libanon jeweils rund eine Million), und etwas mehr als zehntausend, die nach Europa geflohen sind, gibt es mehrere Millionen Binnenflüchtlinge. Laut UN sind insgesamt neun Millionen SyrerInnen auf der Flucht.[1] Viele der Binnenflüchtlinge fliehen in die Region Rojava, die als weitgehend sicher gilt. Rojava konnte bisher vor den schwersten Auswirkungen des Krieges aufgrund des Beharrens auf einer politischen Lösung des Konflikts und der entschlossenen Verteidigung der Region sowohl gegenüber den Regime-Kräften als auch gegenüber islamistischen Banden weitgehend geschützt werden. In Rojava, das aus den Kantonen Cizîre, Efrîn und Kobanê besteht, wurden seit 2012 mehr als 1,2 Millionen Binnenflüchtlinge aufgenommen.[2]  Die nötigen internationalen Hilfslieferungen für die Binnenflüchtlinge können u. a. nicht stattfinden, weil die Verantwortung dafür von einem auf den anderen geschoben wird. Auch die Flüchtlinge in Rojava finden in diesem »diplomatischen und politischen« Wirbel keine entsprechenden Ansprechpartner für eine angemessene Unterstützung. Dort hat man die Flüchtlinge aufgenommen, damit sie nicht zwischen den Mühlsteinen der Dschihadisten und dem Assad-Regime zermalmt werden. Ein solches Vorgehen entspricht den humanistischen Ansprüchen und ist das Mindeste, was getan werden muss. Doch wie weiter, wenn Rojava zwischen Embargo und politischen Sanktionen mit der Verantwortung für die Flüchtlinge alleingelassen wird? Die Türkei und auch die Autonome Region Kurdistan im Nordirak (Südkurdistan) setzen alles daran, die Grenzen noch undurchdringlicher zu machen.

In Rojava wurde das Projekt der demokratischen Selbstverwaltung am 6. Januar 2014 durch einen Gesellschaftsvertrag gefestigt.[3]  Zwei Wochen später wurden regionale Übergangsregierungen gebildet, an denen sämtliche Bevölkerungs- und Religionsgruppen beteiligt wurden. Eine solche demokratische Struktur könnte Vorbild für die Lösung der Konflikte in Syrien sein, um die Gesellschaft mit einer friedlichen Zukunftsperspektive aus dem jetzigen Chaos zu transformieren. Gerade das ist jedoch Regionalmächten und Dschihadisten aus dem Al-Qaida-Netzwerk ein Dorn im Auge. Die Türkei, Saudi-Arabien und Katar unterstützen die dschihadistischen Gruppen mit allem, um eine Stabilisierung der kurdischen Regionen Syriens mit allen Mitteln zu verhindern. Folge davon sind anhaltende Massaker an der Zivilbevölkerung. Auch das Assad-Regime will eine weitere stabile Entwicklung dieser Region, auch für die jetzt dort lebenden Binnenflüchtlinge, verhindern.

Daher hat sich die humanitäre Notlage in Syrien und Rojava mittlerweile zu einer Tragödie entwickelt.

Doch in diesem beschriebenen Trauerspiel geschieht eine weitere Tragödie, deren Ursache in den vermeintlichen Regelungen der Staatengemeinschaft – besser gesagt in der am politischen Kalkül orientierten Auslegung der Regeln – liegt. Laut UN ist Syrien noch ein Staat, dessen »Souveränität« nicht verletzt werden darf. Als Grund dafür, dass keine humanitäre Hilfe nach Rojava möglich sei, wird angegeben, dass Rojava seitens des Zentralstaates unter Assad nicht offiziell anerkannt wurde. Das Assad-Regime lässt eine direkte humanitäre Hilfe an die befreiten Regionen Syriens nicht zu. Dass es sich dabei um einen Vorwand handelt, ist ziemlich offensichtlich. Aus anderen Regionen der Welt wissen wir, dass sich über Hilfsorganisationen und NGOs Hilfslieferungen organisieren lassen – wenn es politisch gewollt ist. Dafür gibt es unzählige Beispiele. Die UN-Nothilfekoordinatorin Valerie Amos sagte am 16.12.2013 in einer Erklärung: »Im vierten Jahr dieser entsetzlichen Krise rechnen wir damit, dass 2014 rund drei Viertel aller Syrer humanitäre Unterstützung benötigen. Die internationale Staatengemeinschaft, die Vereinten Nationen, der Rote Halbmond und NGO-Partner werden weiter lebensnotwendige Hilfe für alle Schutz suchenden Frauen, Kinder und Männer des Konflikts zur Verfügung stellen.«[4]

Die internationale Unterstützung?
Wir alle wissen, dass zu Beginn des Krieges die Solidarität mit den Regierungsgegnern sehr groß gewesen ist. Es ist fraglich, ob – und wenn warum – die finanzielle und logistische Unterstützung der Freien Syrischen Armee (FSA) und der syrischen Opposition nach UN-Verständnis völkerrechtlich nicht angezweifelt wurde, die humanitäre Hilfe an NGOs in Rojava im Gegensatz dazu schon.

Wenn wir davon ausgehen, dass das Assad-Regime seine Legitimität längst verloren hat und politisch Syrien nicht mehr allein vertreten kann (auf dieser Grundlage fand die Genf-II-Konferenz statt), dann sollte dieses Verständnis doch auch für humanitäre Hilfe gelten.

In Rojava wurde das Assad-Regime größtenteils aus den Städten und Kommunen gedrängt. Lediglich in Qamişlo (Qamischli) sind der Grenzübergang zur Türkei und der Flughafen noch unter Kontrolle der Zentralregierung. Dort leben neben den KurdInnen und anderen Bevölkerungsgruppen auch einige regimetreue arabische Stämme und Familien. Das ist ein Grund dafür, dass die KurdInnen sensibel mit der dortigen Situation umgehen. Die Volksverteidigungseinheiten YPG könnten den Flughafen von den Regimekräften befreien, aber das würde mit Sicherheit die Bombardierung der ganzen Region durch das Regime nach sich ziehen und würde tausende Menschenleben kosten.

Doch in der Autonomieregion Cizîre, in deren Hauptstadt Qamişlo, sind ansonsten die demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen organisiert und dienen den Interessen und Belangen der Bevölkerung der Region. Es gibt dort z. B. Kommissionen, die sich um die Binnenflüchtlinge aus anderen Städten wie Rakka, Deir a Zor, Homs, Damaskus, Al Hasake usw. kümmern. Darüber hinaus setzen sich diese Kommissionen für humanitäre Hilfe ein und versuchen mit den vorhandenen Mitteln Krankenhäuser oder Institutionen, die das Gesundheitswesen organisieren, zu versorgen.

Doch es fehlen die nötigen Ressourcen. Die autonomen Regionen blieben aufgrund ihrer Stabilität und des Zusammenhalts der Bevölkerung größtenteils vom Krieg verschont. Es scheint fast so, als würden die Türkei, die Autonomieregierung im Nordirak (Südkurdistan) und die internationale Staatengemeinschaft nach dem Motto handeln: »In diesen Regionen wurde nicht genügend Krieg geführt, also werden wir sie durch ein Embargo von Hilfsgütern und das Schließen der Grenzen bestrafen.« Neben den 1,3 Millionen Menschen, die in Cizîre leben, haben dort über 500 000 Binnenflüchtlinge Zuflucht gefunden.[5]  Dies sind meist Kinder und Frauen, die in großen Gebäuden, Schulen, Turnhallen oder bei Familien aufgenommen wurden. Die Situation der Binnenflüchtlinge ist aus den genannten Gründen prekär. Es mangelt sowohl an Nahrung, Trinkwasser und medizinischer Versorgung als auch an geeigneten Unterkünften. Auch die nötigen Flüchtlingscamps für Unterkünfte können in der Region nicht aufgebaut werden, weil man keine Ausstattung und keine Erfahrung besitzt – und zudem keinerlei Unterstützung der internationalen Hilfsorganisationen, wie des UNHCR, dort ankommt.

Wenn das UNHCR Hilfe für die Region organisiert, dann kommt diese nicht in die Strukturen, die sich um die humanitäre Notlage in der Region kümmern, sondern sie geht an die Hilfsorganisationen des Assad-Regimes – also die Mitverursacher von Flucht und Notlage. Auf diese Weise werden die Menschen dazu genötigt, dass Assad-Regime auf Knien um Hilfe anzubetteln. So wird die humanitäre Hilfe zu einer weiteren Waffe, die den Ausgang der Auseinandersetzung beeinflusst und die Würde der Menschen verletzt.

So sei es auch bei den letzten zwei Hilfslieferungen nach Qamişlo gewesen, sagte der Europasprecher der Partei der Demokratischen Union (PYD) Abdulsalam Mustafa am 16. April 2014 in Strasbourg nach einer Pressekonferenz im Europaparlament. Im Dezember 2013 startete ein Transportflug des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR mit Hilfsgütern für 50 000 Bürgerkriegsflüchtlinge.[6]  Zusätzlich kam es zu einer Lieferung des UN-Welternährungsprogramms (WFP) – Nahrungsmittel für 30 000 Menschen wurden über einen Zeitraum von einem Monat nach Qamişlo geflogen. Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF hat zudem Medizin, Trinkwasser und Sanitärausrüstung geschickt. Im März 2014 haben 79 Lastwagen der UN, beladen mit Hilfsgütern, das Bürgerkriegsland Syrien über die Türkei erreicht.[7]  Das Regime von Baschar al-Assad habe erstmals nach drei Jahren Konflikt Hilfslieferungen über die Grenze mit dem nördlichen Nachbarland erlaubt, erklärte ein Sprecher des UN-Büros zur Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA) am 25. März in Genf.

Laut UNHCR arbeitet die Organisation für die Versorgung der Binnenflüchtlinge in Syrien mit lokalen Nichtregierungsorganisationen und dem Syrischen Arabischen Roten Halbmond zusammen. Warum das UNHCR in einem Kriegsland, in dem die offizielle Regierung versagt hat, nicht mit von der Bevölkerung aufgebauten Organisationen arbeitet, die sich um die Binnenflüchtlinge kümmern, bleibt für uns alle eine offene Frage.
Würden die Konfliktparteien des Stellvertreterkrieges in Syrien sich so ernsthaft für die humanitäre Hilfe einsetzen, wie sie Waffen und Kämpfer nach Syrien transportieren, würde die Lage der Binnenflüchtlinge sich sehr schnell verbessern.

Es ist widersprüchlich, wenn man dem Assad-Regime im Ausland jede Legitimität aberkennt, es diplomatisch ausgrenzt und bekämpft, aber im Land selbst dessen Position stärkt. Es ist Realität, dass der basisdemokratische Aufbau in Rojava international nicht unterstützt wird. Stattdessen wird über den letzten Stützpunkt des alten Regimes in der Region, den Flughafen von Qamişlo, das Assad-Regime unterstützt.

Fazit
Zynisch betrachtet könnte man sagen: Offiziell existieren die KurdInnen nicht. Auch die UN haben sie nicht offiziell als völkerrechtliches Subjekt anerkannt. Warum sollte man sie also offiziell unterstützen? Das wäre gegen die gemeinsamen Regelungen, die bei den Staatengründungen in der Region 1919 bis 1932 getroffen wurden, und auch von den UN anerkannt werden. Wer keinen eigenen Staat hat, wird auch nicht als Subjekt gesehen. Anders kann man diese ignorante Haltung der Staatengemeinschaft nicht verstehen.

Der Mittlere Osten wird momentan neu aufgeteilt – im schlimmsten Fall neokolonial, jenseits der Bedürfnisse der Bevölkerung. Die KurdInnen, die »VerliererInnen« der Aufteilung des Mittleren Ostens vor einhundert Jahren, spielen heute eine ganz andere, selbstbewusstere Rolle, die offenbar den internationalen und regionalen Akteuren nicht in ihr Konzept passt.

Die Briten und Franzosen hatten den KurdInnen nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches einen eigenen Staat versprochen. Bei den Staatengründungen 1919 bis 1932 gingen die KurdInnen jedoch »leer« aus. Sie wurden nicht einmal in die Verhandlungen einbezogen. Nach langer Zeit des Leids, der Unterdrückung, geprägt von Assimilationspolitik und Gewalt, sind sie heute selbstbewusst in Syrien, in der Türkei, im Iran und im Irak und verlangen mit Recht Respekt, Anerkennung, Würde und die ihnen zustehenden Rechte.

Aber dies wurde offenbar nicht in die Pläne zur Neuaufteilung der Region einbezogen. Könnte das der Grund dafür sein, dass eine Anerkennung ihrer Selbstverwaltung sowie die humanitäre Unterstützung in ihrer Region nicht erfolgt?

 

[1] Syrien: 3 Jahre Krieg – 9 Millionen Menschen auf der Flucht

(http://www.uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/aktuelles/aktuelles-details/article/syrien-3-jahre-krieg-9-millionen-menschen-auf-der-flucht.html)

[2] Aufruf: Das kurdische Rojava in Syrien braucht Hilfe in der Not

(http://www.medico.de/themen/aktion/dokumente/hilfe-fuer-rojava/4605/)

[3] Modell für ein föderales und demokratisches Syrien – Der Gesellschaftsvertrag von Rojava

(https://civaka-azad.org/pdf/info7.pdf)

[4] Syrien-Krise: Größter UN-Spendenaufruf aller Zeiten

(http://www.uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/aktuelles/aktuelles-details/article/syrien-krise-groesster-un-spendenaufruf-aller-zeiten.html)

[5] Für die Ermöglichung humanitärer Hilfe in den kurdischen Provinzen Syriens – Rojava

(https://civaka-azad.org/index.php/analysen/westkurdistan-und-syrien/562-fuer-die-ermoeglichung-humanitaerer-hilfe-in-den-kurdischen-provinzen-syriens-rojava.html)

[6] WFP-Luftbrücke erreicht Hungernde im Nord-Osten Syriens

(http://de.wfp.org/neuigkeiten/pressemitteilungen/wfp-luftbr%C3%BCcke-erreicht-hungernde-im-nord-osten-syriens)

[7] Erste UN-Lastwagen rollen über die türkisch-syrische Grenze

(http://www.ippnw.de/presse/presse-2014/artikel/1d497602ce/erste-un-lastwagen-rollen-ueber-die.html)

Kurz vor Drucklegung dieser Ausgabe erreichte uns eine Meldung der Nachrichtenagentur ANF, dass die UN Arbeiten im Bereich der humanitären Hilfe in Rojava aufnehmen wolle: Die Kovorsitzende der Volksräte Westkurdistans (MGRK) Sinem Mihemed erklärte, dass sie Gespräche mit einer hochrangigen Delegation der UN geführt habe und dass diese zugesagt habe, Arbeiten im Bereich der humanitären Hilfe aufnehmen zu wollen. (ANF, 23.04.2014)

entnommen aus dem Kurdistan Report, Nr. 173

 

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