Wir brauchen die Einführung einer demokratischen Ordnung

yaşar-kemalAufruf von Yasar Kemal an das kurdische und türkische Volk, 15.06.2013

Der weltberühmte Schriftsteller Yasar Kemal hat ein Grußwort an die historisch wichtige „Einheits- und Lösungskonferenz für Nord-Kurdistan“ in Amed (15.-16.06.2013) geschickt. „Dies ist ein Aufruf. Ihr seid angesprochen. Es liegt in unserer Macht, die Ehre, das Brot und die kulturelle Vielfalt unseres Landes zu retten. Lasst uns Hand in Hand für eine echte demokratische Ordnung kämpfen“, so seine Worte an das kurdische und türkische Volk.

Yasar Kemal erklärte, die Demokratie sei eine Notwendigkeit und eine Ordnung des Gleichgewichts: „Eine Kultur zu vernichten bedeutet, einen Teil unserer Menschlichkeit zu vernichten.“ Zum Thema Recht auf muttersprachliche Bildung sagte der berühmte Schriftsteller: „Eine Sprache kann nicht alleine durch Sprechen weiterleben. Damit eine Sprache lebt, muss es in dieser Sprache Bildung, Akademien und Institute geben.“

Das Grußwort von Yasar Kemal lautet:
Verehrte TeilnehmerInnen der Konferenz für Demokratie und Frieden,
ich kann heute nicht unter Ihnen sein. Ich möchte Sie mit den gleichen Gedanken ansprechen, mit denen ich bereits bei der letzten Konferenz und bei jeder Gelegenheit gesprochen habe. Ich hoffe, die Zeit kommt, in der diese Worte nicht mehr notwendig sind …
Ich habe es schon immer gesagt und sage es jetzt auch: Unsere Welt ist ein Kulturgarten mit Tausend Blumen. Jede Blume hat ihre spezifische Farbe und Geruch. Und unsere Welt ist genau wegen dieser tausend Blumen reich und vielfältig. Die Kulturen haben sich stets gegenseitig bereichert. Der Austausch der Kulturen bedeutet nicht, dass sie sich unterdrücken, sondern dass sie sich bereichern. Wenn eine Blume vernichtet wird bedeutet das, dass die Welt um eine Farbe, einen Geruch und eine Bereicherung gebracht wird. Ein Volk, das seiner Kultur beraubt wird, ist verloren, ist nicht kreativ und ist dem Tod geweiht. Eine Kultur zu vernichten bedeutet, einen Teil unserer Menschlichkeit zu vernichten.
Eine Gesellschaft kann nur so stark und gerecht sein wie sie auch tolerant ist, sie ist so unkreativ und schwach wie sie auch ungerecht ist. Und Rassismus ist die schlimmste Krankheit. Hinter dem Untergang der Menschheit, dem Hass in den Herzen der Menschen, steckt der Rassismus. Der Rassismus hat einen großen Anteil daran, dass in der Türkei Meinungsfreiheit und Demokratie verhasst sind und Tragödien stattgefunden haben, die uns noch viele Generationen nicht verzeihen werden.
Wir brauchen die Einführung einer demokratischen Ordnung ohne das vorgaukeln einer Demokratie und ohne die Fortführung unmenschlicher Unterdrückung. Demokratie ist eine Notwendigkeit. Demokratie ist die Ordnung des Gleichgewichts. Es ist eine Ordnung, in der Menschen ehrenvoll leben können ohne dass jemand seiner elementaren Menschenrechte beraubt wird.
Ehrenvoll leben zu können bedeutet gleichzeitig, dass man auch seine Sprache und Kultur ehrenvoll pflegen kann. Dies ist ein elementares Menschenrecht. Und eine Sprache kann nicht alleine durch Sprechen weiterleben. Damit eine Sprache lebt, muss es in dieser Sprache Bildung, Akademien und Institute geben.
In Meinem Buch „Dies ist ein Aufruf“ habe ich alle meine Artikel zur kurdischen Frage zusammengefasst, die ich seit mehr als 20 Jahren veröffentlich hatte. Ich möchte Ihnen einen Teil aus dem Vorwort wiedergeben: Wir haben zwar viele Fehler gemacht, es gibt aber keinen Grund zur Hoffnungslosigkeit. Damit sich die Menschen eines Landes für ein humanes Leben, das Glück und das Schöne entscheiden können, geht das nur durch globale Menschenrechte und Meinungsfreiheit. Die Forderung nach ihrer Sprache und ihrer Ehre gehört zu den elementarsten Rechten …
Es gibt kein Problem, das in einer echten Demokratie nicht gelöst werden kann, wenn jeder in diesem Land das Recht auf seine Sprache, Religion und alle Menschenrechte hat und in Ehre leben kann. Vor allem zwischen Türken und Kurden, die ständig in die Ausweglosigkeit gedrängt werden, sich dem aber durch geschwisterliche Bande widersetzen …
Das türkische Volk, das kurdische Volk, alle Völker dieser Region, die eine kulturelle Bereicherung bedeuten, mein Wort richtet sich an euch alle … Wenn wir heute in diesem Land weniger kreativ sind, unser Gewissen verstummt ist, Gewalt in allen Bereichen unseres Lebens uns überrollt und wir keiner Institution mehr vertrauen, so sind das die Folgen eines schmutzigen Krieges, der seit einer Generation fortdauert und Wunden in unserer Menschlichkeit hinterlassen hat.
Ich sage, es liegt in unserer Hand, diese Wunden zu heilen. Es liegt in unserer Macht, die Ehre, das Brot und die kulturelle Vielfalt unseres Landes zu retten. Lasst uns Hand in Hand für eine echte demokratische Ordnung kämpfen.

Dies ist ein Aufruf. Ihr seid angesprochen.

Yasar Kemal, 15.06.2013

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