»Die Systematik der gegenseitigen Unterdrückung überwinden«

berlin_rojava konfBericht von der Berliner Konferenz zur kurdischen Frage in Syrien
Martin Dolzer, Soziologe, 19.04.2013

Am 17. April fand im Berliner Abgeordnetenhaus die Konferenz »Die Lösung der kurdischen Frage im zukünftigen Syrien – Ein Beitrag für Dialog, Demokratie und Frieden« statt. PolitikerInnen und ExpertInnen aus Syrien, der Türkei, Kurdistan und Europa diskutierten über die Perspektive einer demokratischen und friedlichen Lösung der kurdischen Frage in Syrien. Mehr als 200 TeilnehmerInnen gingen nach einer intensiven Tagung mit tiefen Erkenntnissen und Denkanstößen nach Hause.

Die VeranstalterInnen, Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit und der Dialog-Kreis, hatten in Zusammenarbeit mit dem Schirmherren, dem Berliner Senatsabgeordneten Robert Schaddach (SPD), eingeladen. Da die ReferentInnen aus unterschiedlichsten Spektren stammten, wurde ein intensiver Einblick in die Situation in Syrien, die Entwicklungen in den kurdischen Provinzen des Landes (Westkurdistan) und die Interessen der regionalen und internationalen Akteure möglich. Dass die Entwicklungen in Westkurdistan mit dem Friedensprozess in der Türkei zusammenhängen und nur ein respektvoller Umgang der verschiedenen Ethnien und Religionsgruppen miteinander eine positive Zukunft in Syrien bewirken kann, war dabei Konsens.

Dr. Khaled Issa skizzierte die Ausgangslage. Die kurdische Bevölkerung hat in Westkurdistan unter Leitung des »Kurdischen Hohen Rates« (DBK) und der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) demokratische Rätestrukturen aufgebaut, an denen sämtliche Ethnien und Religionsgruppen beteiligt werden. Die PYD wird von mehr als 60% der KurdInnen unterstützt, arbeitet aber solidarisch mit weiteren 20 im »Kurdischen Nationalrat« organisierten Parteien im DBK zusammen. Salafisten, die Al-Nusra-Front und weitere bewaffnete islamistische Akteure versuchen, diese stabile Region Syriens in den Bürgerkrieg zu ziehen, zu destabilisieren und die demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen zu zerstören. Diese Angriffe wurden bisher von den Volksverteidigungseinheiten (YPG) zurückgeschlagen, die zuerst von der PYD gebildet wurden und mittlerweile von sämtlichen regionalen Bevölkerungsgruppen gemeinsam getragen werden.

Die Türkei, Saudi-Arabien und Katar unterstützen die destruktiven Akteure mit Waffen und Infrastruktur. Auch EU und USA versuchen, eigene Interessen durchzusetzen, und unterstützen in unterschiedlicher Intensität derartige Akteure. Die syrische Regierung greift mittlerweile an mehreren Orten, z.?B. in der Millionenstadt Heleb (Aleppo) kurdische Stadtteile an. »Es gibt Kräfte, die die Demokratisierung nicht hinnehmen wollen. Wir müssen uns gleichermaßen gegen Teile der Freien Syrischen Armee (FSA) wie auch gegen Truppen Assads wehren«, skizzierte Salih Muslim, Kovorsitzender der PYD.

»Ursprung der heutigen Konflikte war die kolonialistische Aufteilung der Region nach dem Ersten Weltkrieg«, betonte Khaled Issa. Die Grenzen zwischen dem Iran, Irak, Syrien und der Türkei wurden mit dem Reißbrett gezogen. Schrittweise entzogen die Regierungen den KurdInnen und weiteren Minderheiten ihre Rechte. In Syrien betraf das in hohem Maß auch ChristInnen. Seit 1962 führten die Regierungen im kurdischen Norden des Landes eine gezielte Arabisierung durch. Das hatte neben ethnischen auch wirtschaftliche Ursachen. 90?% des syrischen Erdöls, 60?% des Getreides, 70?% der Baumwolle und 30?% des Olivenöls werden hier produziert.

Insbesondere Salih Muslim sowie der Kovorsitzende und Parlamentsabgeordnete der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) aus der Türkei, Selahattin Demirtas, verdeutlichten, dass die Ideologie und Praxis der Demokratischen Autonomie, wie sie von der PYD und auch der BDP in der Türkei umgesetzt wird, zu einer Demokratisierung und Stabilisierung der Region führe und positive Auswirkungen nach sich ziehen könne. Die Befreiung von der Fixierung auf nationalstaatliche Konzepte und die Besinnung auf das eigene Selbstbewusstsein seien zentrale Momente des Ansatzes. Dass dabei die gemeinsame Organisierung des Alltags und die Bewältigung der Probleme – statt der Anhäufung und des Erhalts von Macht – im Zentrum der Politik stehen, sei für jeden Menschen von Vorteil, so das Fazit. Schon jetzt suchten syrische InlandsmigrantInnen Schutz in Westkurdistan. »Dort hat die Revolution im Jahr 2004 begonnen, seitdem haben wir kontinuierlich und dynamisch gearbeitet«, so Muslim. Bis 2011 wurden unzählige politisch tätige KurdInnen in den Gefängnissen Syriens gefoltert. »Als KurdInnen müssen wir überall gegen Negativpropaganda ankämpfen. Aus instrumentellen Gründen werden wir der Zusammenarbeit entweder mit Assad oder mit der FSA beschuldigt.«

Die syrische Journalistin Dilsah Osman bekräftigte, dass das Entwicklungsniveau einer Gesellschaft am Grad der Befreiung der Frau sichtbar werde. Durch den Aufbau von Rätestrukturen und Frauenbildungseinrichtungen, die Überwindung der Mehrfachheirat und eine 40%-Beteiligung an allen demokratischen Strukturen habe die Frauenbefreiung in Syrien eine große Dynamik bekommen. In Ägypten und Tunesien seien nur 6?%, in der syrischen Nationalen Koalition 3?% und in Schweden 39?% Frauen in politischen Gremien vertreten, zog Osman den Vergleich.

Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) hat bei ihrer Einschätzung der kurdischen Frage einen Paradigmenwechsel vollzogen. Die KurdInnen werden nicht mehr als TerroristInnen stigmatisiert, sondern als möglicher Stabilitätsfaktor in der Region betrachtet. Eine gemeinsame Vision des türkischen Außenministers Davutoglu und Abdullah Öcalans erkennt Günter Seufert, Referent des regierungsnahen Think Tanks. Syrien sei ein Schlüssel zur Region und deshalb so umkämpft. Die Situation sei aufgrund der vielen unterschiedlichen regionalen und internationalen Interessen sehr kompliziert. Das bekräftigte auch der Journalist Michael Lüders.

Dr. Norman Paech zeigte sich skeptisch gegenüber der Politik R. T. Erdogans. Noch immer sind tausende von JournalistInnen, AnwältInnen, PolitikerInnen und MenschenrechtlerInnen inhaftiert. Die Türkei strebe nach einer hegemonialen Position in der Region und betreibe in Zusammenarbeit mit der NATO eine äußerst aggressive Politik gegenüber Syrien – insbesondere gegenüber den kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen, so der Völkerrechtler. Die Antwort auf die Frage, warum die AKP gerade jetzt auf die Forderungen nach einem Friedensdialog eingeht, die Abdullah Öcalan schon seit mehr als zehn Jahren erhebt, sei leicht zu beantworten. Die Stärke der KurdInnen und deren Selbstverwaltung in Syrien sei die hauptsächliche Ursache – zudem die Erkenntnis Erdogans, dass seine eigene Position nur auf diese Weise gestärkt werden kann.

Die NATO habe sich nie besonders um Menschenrechte, sondern stets um die Durchsetzung eigener Machtinteressen und die Absicherung eigener Ressourcen gekümmert. Für den Erfolg des Friedensprozesses sei unbedingt notwendig, dass die Bundesregierung und die EU ihre Verbotspolitik und die Diffamierung der Politik der KurdInnen und der PKK als terroristisch überwinden. Die §?129b-Prozesse in der BRD und die Kriminalisierung der ExilpolitikerInnen seien eine Art europäische Variante der KCK-Verfahren und stünden einer friedlichen Entwicklung im Weg. Für einen Dialog sei die Anerkennung der Akteure statt deren Stigmatisierung als Feind notwendig. Auch Andreas Buro vom Dialog-Kreis vertrat eine ähnliche Ansicht. Den Begriff Terrorismus gegen ein Volk zu verwenden, das jahrzehntelang mit Assimilation und Vernichtung konfrontiert wurde, sei absurd.

Auf einem weiteren Podium diskutierten u.?a. der außenpolitische Sprecher der Partei DIE LINKE, Jan van Aken, Martin Glasenapp von medico international und Memo Sahin vom Dialog-Kreis den »Beitrag der EU zur Friedensfindung und zur humanitären Notlage in Syrien«. »Um Frieden zu ermöglichen, müssen die Waffenexporte der BRD unbedingt aufhören, syrische Flüchtlinge in der BRD anerkannt werden«, so van Aken.

Auf einer Pressekonferenz in der Mittagspause betonte Selahattin Demirtas, dass der Friedensprozess in der Türkei ein langer Weg sei. »Wir müssen die in der Region durch den Einfluss der Kolonialpolitik vorherrschende Systematik der gegenseitigen Unterdrückung überwinden. Die KurdInnen sind mit einem U-Boot zu vergleichen, das nach hundert Jahren Leben und Widerstand im Untergrund jetzt in voller Schönheit auftaucht. In Gesprächen mit R. T. Erdogan haben wir betont, dass der Frieden in Syrien auch mit einem Frieden in der Türkei beginnt. Um die notwendige gesellschaftliche Atmosphäre zu schaffen, müssen vertrauensbildende Schritte unternommen werden.« Die Exilpolitikerin Songül Karabulut vertrat die Auffassung, dass eine Zusammenarbeit mit der für Demokratie, Frauengleichberechtigung und kontinuierliche Emanzipation stehenden kurdischen Bewegung für alle Bündnispartner eine historische Notwendigkeit sei und nur ein Gewinn sein könne.

Die Konferenz war erkenntnisreich und sinnvoll. Das Interesse war so groß, dass es gut wäre, eine weitere Veranstaltung mehr TeilnehmerInnen zugänglich zu machen. Denn es ist essentiell, dass in Deutschland und Europa eine breite Basis in den Diskussionsprozess einbezogen wird und politischen Druck ausübt, um eine demokratische Entwicklung in allen Teilen Kurdistans zu ermöglichen und die Kriminalisierung der KurdInnen in Europa zu überwinden. Die Themen und diskutierten Inhalte waren so gehaltvoll, dass auch eine zweitägige Beschäftigung mit ihnen produktiv gewesen wäre.

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