Das System von Imrali

ayse_batumluAyse Batumlu, Rechtsanwältin und Kolumnistin

Eine Szene aus der Vergangenheit: Im türkischen Parlament des 12. März wird über die Hinrichtungen beraten. Die Anhänger von Demirel schreien „drei für drei“. Die, die Menderes an den Militärs nicht rächen konnten, heben ihre Hände für die Hinrichtung der drei Sprösslinge. Die Junten sind darum bemüht, ihre Morde durch andere Morde zu verdecken oder zu „entgelten“. Die 68er-Generation bezahlt die Morde der Junten mit ihrem Leben …1

Und danach, das vom 12. September2 „freigelassene“ Parlament! Was wird in den geheimen Korridoren besprochen, welche Verhandlungen werden geführt, das wissen wir nicht. Aber es ist, als ob der Rachefeldzug gegen die 68er-Generation immer noch weitergeht. Während die Leichen der Menderes vom Imrali-Friedhof geholt und in „Grabmäler“ verbracht werden,3 wird der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan lebend in ein „Einzelgrab“ in Einzelhaft gesperrt.

Das wahre Imrali-System wird errichtet
Dieses Mal hat Imrali eine andere Funktion als in der Vergangenheit und der frühere Ablauf überlässt seinen Platz einem Mechanismus, wie es ihn kein zweites Mal auf der Welt gibt. Um dies zu erreichen, werden die Architektur der Insel, der Verkehr, die Sicherheitsmaßnahmen und der rechtliche Status alle neu gestaltet.

Imrali untersteht, wie Ihr wisst, dem Justizministerium, ist aber keine Justizvollzugsanstalt, die den für andere Vollzugsanstalten geltenden normalen Gesetzen unterliegt, sie ist einer speziellen Abteilung zugeordnet und komplett außerhalb des Rechtssystems errichtet …
Sie wird einem Zentrum namens Krisenleitungszentrum des Ministerpräsidenten untergeordnet, von dem niemand weiß, aus welchen Leuten es besteht, und das praktisch vom Generalsekretariat des Nationalen Sicherheitsrats MGK koordiniert wird.
Dieses „Zentrum“, das nur im Ausnahmezustand oder bei Katastrophen für einen vorübergehenden Zeitraum einzurichten ist, nahm im Imrali-System einen dauerhaften Zustand an. Bis es vor kurzem neu strukturiert wurde (und die Isolation noch mehr verstärkt wurde) und es als Imrali-Justizvollzugsanstalt in das Justizministerium integriert wurde. Natürlich hat diese Veränderung keine Neuerung im positiven Sinne gebracht. Ganz im Gegenteil, obwohl die Ansprechpartner und Antragsmechanismen klarer wurden, ist die Isolationshaft verschärft worden, alle Anträge blieben ergebnislos. Das Recht auf rechtliches Gehör und Verteidigung eingeschlossen, wurden alle Rechte ohne das Bedürfnis nach oder die Pflicht zu irgendeiner Erklärung eingefroren, so wie sie höchstens in faschistischen Regimen Ausdruck fänden.

In Imrali herrscht, genau wie in der Phase des Prozesses, auch in der Phase der Isolation eine personalisierte Rechtspraxis, Rechtlosigkeit. Der Hauptgrund dafür ist die seit zehn Jahren von der AKP-Regierung betriebene Vernichtungspolitik des Staates Türkei gegenüber der kurdischen Freiheitsbewegung.

Der Bankrott des Imrali-Systems …
Das mit so vielen speziellen Bemühungen „errichtete“ Imrali-System ist der größte „Fehler“ des türkischen Staates und der USA. Diejenigen, die dachten, sie könnten den Anführer des kurdischen Volkes „gefangen nehmen“, benutzen und so das kurdische Volk in die Knie zwingen, die dachten, sie könnten Öcalan mit Todesdrohungen ausnutzen, die sind seinem – mit dem seines Volkes vereinigten –
Widerstandswillen begegnet. Das Imrali-System, das dafür ausgelegt worden war, diesen Willen zu brechen, erlebt seit 13 Jahren eine Pleite.
Das Imrali-System ist bankrottgegangen, weil der sehr geehrte Herr Öcalan dem „Zellengrab“ widerstanden hat, weil die legale kurdische Bewegung ihn in Schutz genommen hat, obwohl ihr gesagt wurde „Haltet Abstand zu ihm!“, weil die PKK ihn als einzigen Ansprechpartner [in der kurdischen Frage] betrachtet und ihre Linie stets beibehalten hat, weil Millionen von Kurden ihn als ihren Willensträger bezeichnet haben und für ihn eingetreten sind.
Die Schwierigkeiten dieses Widerstandes sind indiskutabel. Dass er seit Jahren mit keinem Menschen Berührungskontakt hatte, einen Händedruck eingeschlossen, dass all sein Tun, jeder Augenblick aufgezeichnet wird, dass er keines seiner Rechte wahrnehmen kann, dass vor allem die Kommunikationskanäle jederzeit beschränkt werden – wenn man sich all dies vor Augen hält, dann kommt man zu dem Schluss, dass dieses Szenario mehr zum Ziel hat als nur seine Vernichtung; es hat die Vernichtung und Assimilation des gesamten kurdischen Volkes zum Ziel. Dass er gegen diese „weiße Folter“ einen klaren Kopf bewahrt, alles genau abwägen kann, und seine Fähigkeit, die in seiner Person dem kurdischen Volk gestellten Fallen zu erahnen, das wird von den Architekten dieser Folter mit Angst und Erstaunen registriert. Dieser unglaubliche Widerstand hat das beispiellose Foltersystem zum Einsturz gebracht.

Die Politik der Spaltung der kurdischen Bewegung
Die Regierung, deren Vernichtungskonzept damit zunichte war, versuchte nun durch das Kappen der ohnehin eingeschränkten Kommunikation mit Imrali und die darauffolgende Propagierung ihrer „neuen Strategie“ [vgl. Interview Karayilan S.?10] die BDP in eine neue Falle zu treiben, indem sie diese zwingen wollte, ihre Verbindungen zu Imrali und Kandil aufzugeben. Doch seit 13 Jahren hat die legale kurdische Bewegung in ihrem Widerstand klar gezeigt, dass sie in derartige Fallen nicht hineintappt; sie ist sich darüber bewusst, dass diese Bemühungen zur Spaltungs- und Vernichtungsstrategie gehören und dass sie sich dieser alten Krankheit nicht hingeben wird.

Da gibt es noch die Desinformation „Kandil hat Öcalan lebendig begraben“, den Versuch, Öcalan und seine Organisation gegeneinander auszuspielen. Auf der einen Seite ist die Rede von Befehlen Öcalans und deshalb werden die Besuche der Anwälte verboten, auf der anderen Seite wird behauptet, die PKK befolge nicht Öcalans Befehle, und so versucht, die heutige „Grabestaktik“ der Verantwortung der Organisation zuzuschieben. Manche Liberale werden zum Werkzeug dieses Plans, indem sie einerseits den Personenkult um Öcalan kritisieren und andererseits bei jeder Gelegenheit betonen, Kandil höre nicht auf Imrali. Die psychologische Kriegsführung dieses Chores ist genau das, was die Regierung, die eine kurdenlose Lösung anstrebt, sich wünscht.

Es klappt aber nicht. Das Volk hat ihn mit drei Millionen Unterschriften zu seinem Willensträger erklärt, Tausende Menschen wurden bestraft, weil sie ihn „sehr geehrter Herr Öcalan“ genannt hatten, und trotzdem haben Tausende damit weitergemacht und so die Verbote durchbrochen, jetzt skandiert das Volk auf allen Plätzen „Freiheit für Öcalan!“.
Im Zellengrab von Imrali ist nur noch sein Körper gefangen. Seine Gedanken haben die Freiheit erlangt. Um diese Gedanken herum verfassen Tausende Jugendliche Schriften, internationale Foren sprechen lobend über seine Werke und Ideen. Das geschlechtsfreiheitliche Gesellschaftsideal organisiert Millionen von Frauen, das ökologische Gesellschaftsparadigma trotzt in Mesopotamien, wo die Menschheit ihren ersten Weizen aß, der kapitalistischen Moderne.

Warum die Isolation?
Die AKP und ihr Ideengeber USA haben die kurdische Volksbewegung als eine klassische nationale Befreiungsbewegung interpretiert. Sie dachten, in der kurdischen Bewegung verhielte es sich so ähnlich, wie es in anderen nah-/mittelöstlichen Gesellschaften sehr verbreitet ist, dass man dem Anführer treu untergeben ist und wenn der zum Schweigen gebracht wird, dann auch die Dynamik der ihm verbundenen Bewegung dahin ist. Aus diesem Grunde hat man Öcalan zum Schweigen zu bringen versucht.
Sie haben sich geirrt. Denn die kurdische Volksbewegung weist einen qualitativen Unterschied zu den klassischen Volksbefreiungsbewegungen auf. Sie hat die härtesten Demokratisierungsprozesse hinter sich. Die Bevölkerung ist von unten nach oben organisiert worden. Genau das ist die Grundstruktur von Serhildans [Volksaufständen]. Das, was Öcalan geschaffen hat, ist nicht, dass die Organisation und ihre Ideale von Millionen verinnerlicht werden, sondern dass die Millionen mit der Leitung, der Organisation und den Idealen eins werden und alles zusammen zu einer Synthese verschmilzt. Die Methode, ihn mundtot machen zu wollen – von der Bevölkerung einmal abgesehen –, hat den Öcalanisierungsprozess weiter vertieft.
Die Hauptstütze dieser Phase ist die Realität des geschlechtsfreiheitlichen Gesellschaftsparadigmas. In der patriarchalischsten Gesellschaft des Mittleren Ostens vollzieht sich ein grandioses Erwachen der Frau, der Frau, die auf die Straßen geht und ihre Freiheit in jedem Haus, Schritt für Schritt kämpfend, erobert und so den Untergang der klassischen Führer- und Männerherrschaft gewährleistet.
Der Mann ist die Krise des herrschenden Staates, genau diese ist durch den Prozess der Frauenbefreiung vertieft worden. In diesem Zusammenhang stellte der Widerstand der Frau die größte Hürde dar auf dem Wege, die Gesellschaft zum Schweigen zu bringen, indem Öcalan zum Schweigen gebracht werden sollte. Die Regierung bereitet sich auf einen langfristigen Krieg vor, der Iran, Israel, die arabischen Länder und Syrien einschließt. Krieg ist die Fortsetzung der Innen­politik mit anderen Mitteln. Aus diesem Grunde verfolgt der türkische Staat die Strategie „Krieg im Innern, Krieg in der Region“. Auf den Krieg nach außen bereitet er sich vor, indem er die Feinde im Inneren auszuschalten sucht. Deshalb meint er, Verhandlungen mit Öcalan seien nicht nötig, um eine Friedensphase einzuleiten, und will ihn zum Schweigen bringen. Denn nur Öcalan kann den Frieden herbeiführen. Nur Öcalan kann Kandil an den Verhandlungstisch bringen. Aber weil die Regierung keinen Frieden will und sich auf einen umfassenden Krieg vorbereitet, unterzieht sie Öcalan einer umfassenden Isolation.

Statt des letzten Wortes …
Es wurde bereits ausgeführt, dass das Imrali-System eine Pleite erlitten hat und dass die kurdische Bevölkerung mit einer Überzeugung, die sie keinen Schritt mehr zurückweichen lässt, überall die Parole „Freiheit für Öcalan!“ zum Ausdruck bringt. Diese Forderung ist der Hinweis auf einen Schlüsselschritt bei der Lösung einer historischen, sehr weitläufigen Frage.

Die seit über 30 Jahren geprobte Politik der Verleugnung, Vernichtung und Assimilation hat alle Völker der Türkei an den Rand des Abgrunds gebracht.
Der beste Weg da heraus ist: die Beendigung der militärischen und justiziellen Operationen, eine Abkehr von der verstaubten Politik der Vergangenheit, das gleichberechtigte Zusammenleben der Völker in der Verfassung abzusichern und so ins Leben zu rufen.
Es sind jedoch 300 Tage vergangen seit dem Abbruch aller Kommunikationskanäle mit Öcalan, als dem wichtigsten Akteur, mit dem der Staat sprechen sollte. Dies ist äußerst gefährlich. Denn es kann eine schlimmere Atmosphäre der Konfrontation hervorrufen als in der Vergangenheit.

Um dieser gefährlichen Phase ohne Schäden zu entgehen, ist der beste, konkreteste und für den Frieden der strategischste Vorschlag die Forderung „Freiheit für Öcalan!“.

Fußnoten:
1) Nach dem ersten kemalistischen Militärputsch in der Türkei vom 27.05.1960 wurden 1961 drei Politiker (der durch den Putsch gestürzte ehemalige Ministerpräsident Adnan Menderes und zwei seiner Minister) auf der Gefängnisinsel Imrali gehängt. Mit dem zweiten Militärputsch in der Türkei am 12.03.1971 wurde die Regierung von Ministerpräsident Süleyman Demirel gestürzt. Am 06.05.1972 wurden die drei Führungskader Hüseyin Inan, Deniz Gezmis und Yusuf Aslan der aus der 1968er Studentenbewegung entstandenen revolutionären Organisation THKO (Volksbefreiungsarmee der Türkei) in Ankara hingerichtet.
2) Datum des dritten Militärputsches 1980; das türkische Parlament arbeitet noch heute auf der Grundlage der im Wesentlichen unveränderten Verfassung der Putschgeneräle.
3) Im öffentlichen Umgang wurde Menderes seit den 1980er Jahren rehabilitiert, seine Gebeine und die der beiden mit ihm Gehängten 1990 in ein eigens errichtetes Mausoleum in Istanbul überführt.

Kurdistan Report Nr. 161 Mai/Juni 2012

Schreibe einen Kommentar