„Südkurdistan kann sich ein Beispiel an der Demokratischen Föderation Nordsyrien nehmen“

Bese Hozat, Kovorsitzende des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Firat (ANF) über die Ausrufung der demokratischen Autonomie in Şengal und zu dem geplanten Referendum in Südkurdistan (Nordirak), 13.09.2017

Wie bewerten Sie das Projekt der demokratischen Autonomie in Şengal?

 Der Rat von Şengal hat das Projekt der demokratischen Autonomie der Öffentlichkeit bekannt gegeben. Das war äußerst wichtig. Die Eziden sind in ihrer Geschichte insgesamt 73 Genoziden ausgesetzt gewesen. Der letzte Genozid wurde durch die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) verhindert. Es war eine entsetzliche Tragödie. Man möchte die älteste Religion und Kultur der Geschichte auslöschen. Hierzu schweigen oder eine Auge zuzudrücken ist gewissenslos, unmoralisch und kommt einer Abkehr von der Menschlichkeit gleich.

Welchen Einfluss kann die autonome Verwaltung Şengals bei dem (Wieder-)Aufbau von Mossul haben? Kann es ein Modell für den Irak und Südkurdistan darstellen?

Sowohl für Südkurdistan, als auch für den Irak stellt die Demokratische Autonomie Şengals einen großen Demokratiegewinn dar. Das demokratisch-autonome Şengal wird sowohl Südkurdistan, als auch den Irak demokratisieren. Natürlich reicht es nicht aus, dass einzig Şengal das System der demokratischen Autonomie aufbaut; allein wird Şengal nicht alle Probleme Südkurdistans und des Iraks lösen können. Aber es bestehen keine Zweifel an der Tatsache, dass die jüngsten Entwicklungen in Şengal der Demokratisierung den Weg geebnet hat. Gemeinsam mit Şengal können die autonomen Gebiete in Ninova und Mossul, ja sogar ein auf dieser Linie entstehendes demokratisch föderales System aus mehreren autonomen Provinzen, im Irak enormen Entwicklungen den Weg ebnen. Dieser Prozess wird dem 5.000 jährigem Chaos und den seit Jahrhunderten andauernden schrecklichen ein Ende bereiten.

In Südkurdistan steht ein Referendum auf der Tagesordnung. Warum glauben Sie, wurde es während dieser Phase auf die Tagesordnung gesetzt?

 Wie Sie wissen, hat die KDP (Demokratische Partei Kurdistans) das Referendum auf die Tagesordnung gesetzt. Die KDP hat solch eine Agenda geschaffen, um einen Ausweg aus der Sackgasse, in der sie sich befindet, zu finden und die Opposition zum Schweigen zu bringen. Im Südkurdistan gibt es sehr ernsthafte politische, ökonomische und gesellschaftliche Probleme. Diese Probleme haben ein kritisches Niveau erreicht. Im Süden ist seit beinahe zwei Jahren das Parlament inaktiv. Die Goran-Bewegung wird – obwohl sie eigentlich Teil der Regierung ist – außerhalb der Regierung gedrängt. Es wird ihr nicht einmal erlaubt nach Erbil (Hewlêr) zu gehen und sie ist jeden Tag mit großen Bedrohungen konfrontiert. Obwohl auch die YNK (Patriotischen Union Kurdistan) Teil der Regierung ist, wird ihr Einfluss eingeengt; sie steht unter großem Druck. Eine unabhängige Justiz gibt es sowieso nicht. Alle Kompetenzen wurden auf die KDP, genauer gesagt auf die Barzanî-Familie, konzentriert. In Südkurdistan geht die Macht und Regierung von nur einer Familie aus. Man kann nicht von einem System sprechen. Die geringsten Anzeichen für Opposition werden gewaltsam erstickt.

Auf der anderen Seite hat die türkische Regierung Südkurdistan geradezu besetzt. Die türkische Armee hat in Südkurdistan 24, vielleicht sogar noch mehr militärische Stützpunkte. Sie haben Dutzende Geheimdienstzentren. Die türkische Armee führt jeden Tag Operationen im südkurdischen Gebiet durch und bombardiert die Region aus der Luft. Die ökonomischen Ressourcen Südkurdistans sind von der türkischen Regierung besetzt. Die faschistische Regierung der AKP und MHP hält sich mit dem Gewinn, den sie aus dem Handel mit diesen Ressourcen erzielt, auf den Beinen.

Unsere Gesellschaft ist sich dessen bewusst und hat eine große Wut über diese Umstände. Auch die Politik der KDP gegenüber Nordkurdistan und Rojava führt bei unserem Volk zu Unbehagen. Denn die Unterstützung der KDP für die genozidale Politik der AKP-MHP-Regierung ist eine Tatsache. Es ist offensichtlich, dass die am 3. März und am 24. April durchgeführten Angriffe auf Şengal und Rojava vom türkischen Staat und der KDP gemeinsam geplant wurden. Diese offene Partnerschaft hat sich des Öfteren in Kurdistan und der Region gezeigt.

Das Referendum wurde also in dieser politischen Atmosphäre auf die Tagesordnung gesetzt. In Wirklichkeit wollte die KDP ihr Image auffrischen und lancierte dieses Thema, weil sie an erster Stelle in Südkurdistan, aber auch in ganz Kurdistan, ernsthaft hinterfragt wird. Sie wollte die Opposition zum Schweigen bringen. Die KDP versucht jeden Kritiker mit dem Vorwurf „Du bist gegen ein unabhängiges Kurdistan“ zum Schweigen zu bringen. Es ist dieselbe Taktik, die auch die AKP verfolgt. Genauso wie die AKP jede Kritik mit den Vorwürfen „Du bist ein Terrorist, die Türkei hat ein Existenzproblem, du denkst nicht an das Wohl der Türkei“ zum Schweigen bringt, bringt die KDP jeden der sie kritisiert mit den Vorwurf „Du bist gegen ein unabhängiges Kurdistan“ zum Schweigen. So lässt sie die gesamte demokratische Opposition verstummen.

Der Nationalstaat hat eine nahezu 400-jährige Geschichte. Im Mittleren Osten hat er eine nahezu 100-jährige Geschichte. Kein einziger Nationalstaat hat den Völkern und den in ihren Staatsgrenzen lebenden Gemeinschaften Freiheit und Demokratie gebracht. Im Gegenteil haben die Nationalstaaten zu noch mehr Grausamkeit, Folter, Unterdrückung und Leid geführt. Die Völker haben in einem ständigen Kriegszustand gelebt. Den großen Mächten und den übrigen Staaten gegenüber befanden sie sich auf politischer, ökonomischer und militärischer Ebene in tiefer Abhängigkeit.

Dass in Südkurdistan ein Nationalstaat gegründet werden soll, wird weder unserem Volk in Südkurdistan, noch den Kurdinnen und Kurden allgemein Freiheit bringen. Für die kurdische Gesellschaft wird es keinen Gewinn und keinen Fortschritt darstellen. Es wird dazu führen, dass sich die Kurdinnen in einem noch größeren Krieg und Leid wiederfinden. Es wird einen kurdisch-arabischen Krieg auf den Plan rufen, der sich auf dutzende Jahre erstrecken wird. Es wird dazu beitragen, dass eine ausbeutende Klasse in Kurdistan entsteht. Diese Ausbeuterklasse wird nicht davor zurückschrecken, die Kurdinnen und Kurden aufs Äußerste auszubeuten.

In Südkurdistan wäre ein demokratisch-föderales System die demokratischste und freiheitlichste Option. Es ist die Lösung aller Probleme. Aus dieser Sicht kann sich Südkurdistan die Demokratische Föderation Nordsyrien als Vorbild nehmen.

 Außerdem denke ich, dass es wichtig ist, folgendes hervorzuheben: Die Zukunft Südkurdistan geht ganz Kurdistan etwas an. Es betrifft alle vier Teile Kurdistans, denn die Entwicklung eines Teils beeinflusst direkt die übrigen Teile. Aufgrund dessen ist der Platz für solch schicksalsbestimmende Entscheidungen der Nationalkongress. Die Situation Südkurdistans und das Referendum sollten auf dem Nationalkongress debattiert werden, um auf diesem Wege eine Entscheidung zu fällen. Eine andere Form ist nicht demokratisch und entspricht dem einseitigen Beharren auf partikulare Interessen.

Wer kann behaupten, dass die Entscheidung für das Referendum der KDP auf demokratischem Wege zustande kam? Lassen wir den Nationalkongress beiseite; die Entscheidung basiert nicht einmal auf der Entscheidung des Parlaments. Die Gesellschaft in Südkurdistan hat bei dieser Entscheidung keinen Rolle gespielt und kein Wort dazu sagen können. Diese Entscheidung ist die alleinige Entscheidung der KDP und ihre Methode ist antidemokratisch.

Die Kurdinnen und Kurden haben in allen vier Teilen das Recht ihr eigenes Schicksal zu bestimmen und demokratisch und frei zu leben. Unser Volk hat dafür dutzende Jahre sehr große Opfer gebracht. Unser Volk sollte so leben, wie es verdient. Auf der Grundlage welches Systems unser Volk wirkliche Freiheit und Demokratie erreichen kann, muss es mit einem gemeinsamen nationalen Willen entscheiden. Der Ort dafür ist der Nationalkongress.


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