Omer Hojebrî, aus dem Kurdistan Report Nr. 182, November/Dezember 2015
Die Nationalstaaten des Nahen und Mittleren Ostens, die auf dem herrschenden Weltsystem gründen, befinden sich im Niedergang. Als Resultat werden sie entweder strukturelle Änderungen herbeiführen müssen oder in sich zerfallen. Bei einem dieser Staaten handelt es sich um den Iran. Ähnlich wie das AKP-Regime in der Türkei hat die iranische Führung die Fähigkeit zu Veränderungen, sowohl nach innen als auch nach außen, eingebüßt. Das iranische Regime ist stattdessen bestrebt, seine Herrschaft, solange es geht, aufrechtzuerhalten, und spielt in diesem Sinne auf Zeit. Die Kämpfe in der Region spiegeln den Dritten Weltkrieg wider, in dem wird auch das Schicksal des Iran bestimmt. Aus diesem Blickwinkel betrachtet handelt es sich bei ihm um einen wichtigen Akteur im derzeitigen Chaos des Nahen und Mittleren Ostens.
Der Iran steckt seit mehreren Jahren in Verhandlungen mit führenden Staaten der internationalen Staatengemeinschaft. Seit Jahren ist man bestrebt, das Nuklearproblem mit ihm zu lösen. Dabei zeichnet sich seine Herangehensweise ab: Sobald die von den USA geführten Staaten Stärke zeigen, setzt der Iran auf eine weiche Rhetorik. Sobald jedoch die Politik des Westens in der Region Schwachstellen zeigt, stellt er sich hinter seine größten Unterstützer Russland und China sowie einige Staaten in der Region, die den Status quo aufrechterhalten wollen, und polarisiert nicht nur mit seinen Aussagen, sondern forciert radikales politisches Vorgehen. Vor allem wird dann auf die Unterstützung radikal-islamistischer Gruppierungen gesetzt, während im Inland Menschenrechte mit Füßen getreten, Oppositionelle an den Galgen gebracht werden. Derartige Massaker werden nicht versteckt, sondern bewusst öffentlich verübt. Aktuell ist der Iran auf Versöhnungskurs mit den westlichen Staaten, während die Peitsche im eigenen Land immer heftiger zuschlägt. Forderungen nach der Einhaltung von Menschenrechten und demokratischen Grundrechten, politischer und gesellschaftlicher Freiheit wurden zum Opfer der derzeitigen politischen Konjunktur. Das hat er sich in den Atomverhandlungen geschickt zunutze gemacht. Natürlich ist die Charakterlosigkeit des Weltsystems ausschlaggebend, in dem es nur um die eigenen Interessen der jeweiligen Staaten geht.
In der Zeit von 2014 bis Anfang 2015 schauten die führenden Weltmächte der militärischen Expansion des sogenannten Islamischen Staats (IS) nur zu. Eine klare Haltung gegen ihn war nicht wirklich zu erkennen. Der Iran hingegen forcierte seine Machtbestrebungen in der Region. Um das schiitische Regime im Irak zu unterstützen, wurden vor den Augen der Weltöffentlichkeit Sepah (Revolutionärsgarden und Kontra-Einheiten) in den Irak geschickt. In Syrien wurden sowohl eigene Soldaten eingesetzt als auch erhebliche logistische Unterstützung geleistet. Über Baschar al-Assad wurde die Unterstützung der Huthi im Jemen-Krieg erklärt. Auf ähnliche Art und Weise wurden die SchiitInnen in Bahrain unterstützt, auch dort war man bestrebt, einen schnellen Regierungswechsel herbeizuführen. Der Iran ist schon seit Langem bemüht, politischen Profit aus der Unterdrückungspolitik Bahrains gegen die SchiitInnen zu schlagen. Infolge der Aggressionspolitik des Iran gegen vor allem arabische (Nachbar-)Staaten in der Region kann mittlerweile von einem Konfessionskrieg zwischen SunnitInnen und SchiitInnen gesprochen werden. Dabei kann gesagt werden, dass der Iran in dieser Zeit sowohl in politischer als auch in militärischer Hinsicht seine Position hat stärken können. Auch nach der Wahl 2013 in der Autonomen Region Kurdistan (KRG) im Nordirak nahm der Iran dort Einfluss. Nach erheblichen Stimmeinbußen der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) kam es zu einer politischen Krise, weil über Monate hinweg keine Regierung gebildet werden konnte. In der Folge griff der Iran ein und führte die kurdischen Parteien aus Hewlêr (Arbil) und Silêmanî (Sulaimaniyya) zusammen. Es entstand ein neues Regierungssystem in Südkurdistan, nach iranischem Interesse.
Während der Verhandlungen mit den westlichen Staaten attackierte der Iran gemeinsam mit den Assad-Truppen Hesekê (al-Hasaka) und Serê Kaniyê (Ras al-Ayn), mit dem Ziel, die freiheitlichen Kräfte von Rojava und die kurdischen Errungenschaften zu schwächen. Ebenso wurden in Ostkurdistan in Kirmaşan (Kermanschah) und Sine (Sanandadsch) mehrfach KämpferInnen der YRK (Einheiten von Ostkurdistan) angegriffen, während zeitgleich iranische Truppen an der Grenze vor Qandil und Xinerê mobilisiert wurden. Dabei ging es nicht nur um psychologische Kriegsführung auf höchstem Niveau geführt, sondern auch um ein Signal für die kommende Phase.
In diesem Jahr, in dem das Atomabkommen mit den P5+1 abgeschlossen wurde, hielt sich der Iran in der Region für einige Monate zurück. Das Abkommen ist bestimmten Zugeständnissen geschuldet, die er jahrelang als Verrat und Kapitulation betrachtet hatte. Die erfolgten erst, nachdem die internationale Staatengemeinschaft beschlossen hatte, aktiv gegen den IS vorzugehen.
In der Zeit kurz vor dem Abkommen schwieg der Iran zum Vorgehen der internationalen Anti-IS-Koalition, hielten sich seine Soldaten im Irak zurück. Auch die Unterstützung für die Huthi im Jemen wurde gemindert. Er wählte erneut die Methode der weichen Politik nach außen und der harten Hand nach innen. Im Inland wurden sämtliche Menschenrechte mit Füßen getreten, die staatliche Repression weiter forciert. Die Wälder Ostkurdistans wurden vermehrt niedergebrannt. Die Zahl verletzter bzw. ermordeter SchmugglerInnen in den iranischen Grenzregionen ist rapide gestiegen. Die Zahl der Festnahmen und Inhaftierungen politischer und gesellschaftlicher AktivistInnen hat sich vervielfacht. Dutzende kurdische Jugendliche wurden festgenommen. Einige politisch aktive KurdInnen wie Sîrwan Nîjawî und Mensur Arwend wurden erhängt.
Parallel zu dieser schmutzigen Politik des Iran wurden auch die Angriffe des AKP-Regimes in Nordkurdistan intensiviert. Mit dem Bezwingen der Wahlhürde durch die Demokratische Partei der Völker (HDP) verlor die AKP ihre Mehrheit und konnte nicht mehr allein die Regierung stellen. Daraufhin reagierte sie mit dem Abbruch des Lösungsprozesses und einem brutalen Krieg in Nordkurdistan. Die Haltung der Türkei und des Iran gegenüber der kurdischen Bevölkerung in Rojava, Nord- und Ostkurdistan ist kein Produkt des Zufalls. Vielmehr ist ein koordiniertes Vorgehen zu erkennen. Beide Staaten zielen darauf ab, den kurdischen Freiheitswillen zu schwächen und die kurdische Freiheitsbewegung zu liquidieren. Weil nur so der Status quo, der auf Leugnung und Vernichtung basiert, gewahrt werden kann.
Nach dem Nuklearabkommen zeichneten sich die ersten Diskrepanzen innerhalb des iranischen Regimes ab. Verschiedene Blöcke machten sich mit aggressiver Rhetorik bemerkbar. Mit der Bekanntgabe der Nuklearverhandlungen in Genf durch den iranischen Außenminister Mohammad Dschawad Zarif, der zeitgleich als Unterhändler im Atom-Deal fungierte, bildeten sich im Iran zwei politischen Fraktionen. Bei der einen handelt es sich um den reformistischen und liberalen Block, der das Abkommen positiv bewertete und als Sieg des Iran interpretierte. So wurde Außenminister Zarif als Nationalheld empfangen. Dieser Block hat durch den Deal seine Aussichten für die anstehenden Parlamentswahlen im nächsten Jahr verbessert.
Der andere Flügel, der aus den religiösen Mullahs, den Sepah, radikalkonservativen IslamistInnen und anderen Führungskräften innerhalb des Systems besteht, hat das Abkommen sehr unterschiedlich aufgefasst. Vor allem die radikalkonservativen Geistlichen, die seit Jahren eine aggressive Rhetorik gegen die USA verwendet hatten, die sie als Feindin Gottes bezeichnen, brachten über die Medien ihren Protest zum Ausdruck. So wurde das Nuklearabkommen als Kapitulation des Iran beurteilt. Die Unterhändler in den Verhandlungen und Staatspräsident Rohani wurden gar als Verräter betitelt.
In der politischen Kultur des Regimes der Islamischen Republik Iran der letzten 36 Jahre ist vorgesehen, dass bei ernsthaften Widersprüchen im System das letzte Wort dem Religionsführer zukommt und dem alle unterworfen sind. Denn er wird laut Verfassung als Vertreter Gottes gesehen.
Religionsführer Ali Khamenei bewertete das Abkommen positiv. Doch mahnte er, dass die Diskrepanzen zwischen den Kräften im Inland, wie gering sie auch sein sollten, schnellstmöglich beseitigt werden müssten und niemand dulden dürfe, dass der Iran im Ausland an Prestige verliere. Allerdings hatte auch er das Abkommen mehrmals kritisiert. Die Doppelzüngigkeit im Iran nimmt weiter ihren Lauf. Sämtliche Kreise bewerten das Abkommen nach eigenem Interesse und sind mit ihrem Kalkül schon bei den Wahlen von 2016.
Der IS hatte innerhalb weniger Monate zahlreiche Regionen im Irak und in Syrien erobert. Ein Mythos, unaufhaltbar zu sein, verbreitete sich. Auch in Südkurdistan gewann er in relativ kurzer Zeit an Boden, besetzte Gebiete um Xaneqîn (Chanaqin), in Kerkûk (Kirkuk), Şengal (Sindschar) und um Maxmur herum. Die südkurdische Regierung geriet unter Druck, da die Peschmerga den Angriffen nicht standhalten konnten und hohe Verluste hinnehmen mussten. In Şengal wiederum leisteten die Peschmerga der PDK nicht einmal Widerstand und flohen vor dem IS und ließen die Bevölkerung schutzlos zurück.
Daraufhin machten sich FreiheitskämpferInnen des kurdischen Volkes unter der Führung der Guerilla nach Xaneqîn, Kerkûk, Maxmur und Rojava auf, um die Bevölkerung gegen die Angriffe des IS zu verteidigen. An zahlreichen Fronten wurde tapfer gekämpft, zum ersten Mal konnte sich eine Kraft effektiv gegen den IS stellen und ihn zurückdrängen. Sein Mythos war gebrochen. Das, was die Staaten Syrien und Irak nicht vermochten, realisierten die KämpferInnen der Volksverteidigungskräfte (HPG), der Einheiten der Freien Frauen (YJA-Star), der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG und YPJ). Zu dieser Zeit griff der Iran das kurdische Volk direkt an und die AKP es indirekt. Beide waren bestrebt, Profit zu schlagen aus den internationalen und regionalen Widersprüchen im Hinblick auf die KurdInnen und Syrien.
Der BürgerInnenkrieg in Syrien dauert seit drei Jahren an. Dessen Zukunft ist weiterhin äußerst unklar. Das Einzige, was klar scheint, ist, dass eine neue Regierung gebildet wird.
Assad darf nicht Teil der neuen Regierung werden. Der Iran, China und Russland haben bisher immer ihre Unterstützung für das Assad-Regime erklärt und eine Regierung ohne ihn ausgeschlossen. Der russische Staatspräsident Wladimir Putin ließ sich von der Duma das militärische Eingreifen in Syrien legitimieren. Es gibt sowohl Kritik als auch Unterstützung für die russischen Luftangriffe. Mit dem aktiven russischen Eingreifen in den Syrienkonflikt verbinden manche Kreise den offiziellen Beginn des Dritten Weltkriegs.
Nach den ersten Luftangriffen Russlands in Syrien hat der Iran seine Unterstützung für die Huthi im Jemen nochmals verstärkt. Nach dem Tod etlicher iranischer Pilger in Mekka kam es erneut zu Spannungen zwischen dem Iran und Saudi-Arabien. Kurz darauf stellten der Iran und Bahrain ihre diplomatischen Beziehungen ein und die Spannungen zwischen Teheran und den arabisch-sunnitischen Staaten verschärften sich.
Das Einzige, was derzeit klar erscheint, ist, dass sich bei einer Verschlechterung des Verhältnisses zwischen den Unterstützern des IS (Qatar, Bahrain, Saudi-Arabien und Türkei) und den Unterstützern Assads (Iran, China und Russland) die Syrien-Krise und die Gefechte ebenso noch verschärfen.
Beide Blöcke im Iran, sowohl der radikale als auch der reformistische, unterscheiden sich nur in ihrer politischen Rhetorik, nicht aber in ihrer Praxis. Charakteristisch für das Weltsystem der heutigen Zeit und seine Staaten ist, dass unterschiedliche Gruppierungen an die Macht gelangen, jedoch keine sonderlichen Unterschiede in Praxis und Politik festzustellen sind. Die Unterdrückungspolitik gegen Freiheit, Demokratie und Menschenrechte ändert sich nicht. In diesem Sinne sind die Parlamentswahlen im Iran im kommenden Jahr zu bewerten. Prognostiziert werden kann, dass der radikal-konservative Block dabei größere Chancen hat.
Nach der Lösung der Syrien-Krise werden sich aller Augen auf den Iran konzentrieren. Entweder wird er eigenständig eine Systemveränderung herbeiführen müssen, oder äußere und innere Einflüsse werden ihn dazu zwingen. Daher ist er auch an einem Machterhalt Assads interessiert und will den Status quo in Syrien wahren. Damit würden die Hoffnungen der Völker enttäuscht werden. Jahre des Krieges wären umsonst gewesen, Hunderttausende hätten umsonst ihr Leben gelassen.
Der Kampf der kurdischen Freiheitsbewegung und der Aufbau des neuen Gesellschaftssystems von Rojava verdeutlichen, dass eine Veränderung in Syrien unausweichlich ist. Eine Demokratisierung des Systems gemeinsam mit den KurdInnen ist notwendig. Alles andere würden sie nicht akzeptieren. Der Aufbau des Systems von Rojava in den letzten drei Jahren fungiert dabei als Garant. Denn die Veränderung Syriens wirkt sich auch auf die ganze Region aus und wird folglich den Fall des Status quo herbeiführen.
Der Iran hat seine Fähigkeit zur eigenständigen Umgestaltung verloren. Das System zieht seine Legitimation aus der regionalen Rückständigkeit. Seine Taktik und Strategie passt der Iran der globalen und regionalen Konjunktur an. Durch den Fall des Status quo wird dem Iran die Legitimationsgrundlage entzogen. Die Avantgarde dieses Transformationsprozesses ist zweifellos die kurdische Freiheitsbewegung. Dies drückt sich vor allem in der Repression in Form von Hinrichtungen, Folter und Haft gegenüber KurdInnen im Iran aus. Der ist sich bewusst, dass, wenn die KurdInnen in Syrien und der Türkei einen Status gewinnen, er gezwungen sein wird, sich auch zu verändern. Eine Veränderung würde jedoch den Verlust des bestehenden Systems mit sich bringen. Im Auge des Dritten Weltkriegs werden die KurdInnen die dynamische Kraft des Wandels darstellen und auch den Iran verändern.
Originallink des Artikels: http://kurdistan-report.de/index.php/archiv/2015/182/357-alles-andere-als-demokratisierung-waere-inakzeptabel