Im April dieses Jahres erschien im Aram-Verlag das Buch »Özgür Yaşamı İnşa Diyalogları«. 17 AutorInnen aus verschiedenen Teilen dieser Erde haben über die Gedanken Abdullah Öcalans geschrieben. Es wird demnächst auch auf Deutsch und Englisch erscheinen.
Auch ich habe einen Beitrag zu diesem Buch verfasst. Aus diesem Grund bin ich wohl nicht die geeignetste Person, um eine Bewertung vorzunehmen. Mein Text jedoch ist erst durch die Inspiration entstanden, die ich aus dem Projekt geschöpft habe, und diese Inspiration möchte ich mit euch teilen.
Das Buch gibt die theoretischen Diskurse Abdullah Öcalans mit den bedeutendsten Intellektuellen der Geisteswissenschaften wieder und es werden keineswegs nur Diskurse allein aus abstrakten Gedanken abgebildet. Es weist eine große Ähnlichkeit mit den Schriften Abdullah Öcalans auf, die er unter den immensen Beschwerlichkeiten der Isolationshaft auf der Gefängnisinsel Imralı mit viel Mühe und aufgrund seiner großen Erfahrung anfertigte, und zugleich so, wie auch seine Gedanken, reißt es die bestehenden Grenzen des Möglichen ein. So, wie jeder Vorschlag und jede Schrift von Abdullah Öcalan in der Welt etwas verändert, eine Bewegung, einen Aufbruch, eine Entstehung bewirkt, haben auch die AutorInnen dieses Buches im Kern das Ansinnen, eine Bewegung, einen Aufbruch zu schaffen.
Die Bemühung, eine Revolution des Mittleren Ostens zu universalisieren
Es wird sich mit der Theorie und den Ansätzen Öcalans auf der Grundlage der von ihm verwendeten Terminologie auseinandergesetzt, dabei werden die Verhältnisse und Bedingungen, unter denen diese Begriffe entstanden sind, nicht außer Acht gelassen. Somit wird Öcalan gegen die vom Staat(-ensystem) und der kapitalistischen Moderne präferierte positivistische Wissenschaft und das imperialistische Rechtssystem verteidigt. Wir sind als Kollektiv zusammengekommen, um allen einen Zugang zu Öcalan zu ermöglichen, indem wir die Universalität der Theorie und Politik Abdullah Öcalans betonen und herausarbeiten. In diesem Sinne trägt »Das freie Leben aufbauen« gegenüber einem herkömmlichen Buch eine größere politische und historische Bedeutung – eine revolutionäre mittelöstliche Führungspersönlichkeit und dessen Bewegung werden universalisiert und mit der akademischen Welt assoziiert. Ich denke, das ist auch der inspirierendste Aspekt an diesem Buch.
Den ersten Teil schreibt die Internationale Initiative »Freedom for Abdullah Ocalan – Peace in Kurdistan«, die auch Herausgeberin des Bandes ist. Mit ihrem schon zwanzig Jahre andauernden und unermüdlichen Einsatz verbreitet sie die Geisteshaltung Öcalans auf Konferenzen, Sitzungen, aber auch, indem sie gemeinsam mit der Sache nahestehenden AkademikerInnen diskutierten und Projekte anstießen, die Synergien erzeugten, was wiederum einen unermesslichen Wert darstellt für die Realisierung dieser Arbeit. Den wichtigsten Part des erstens Teils machen die Vorworte zu den Büchern von Öcalan aus. Sie wurden von den AutorInnen verfasst, auf die sich Öcalan oft bezieht bzw. die er zitiert, wie John Holloway, Immanuel Wallerstein, Barry Gills und Antonio Negri, so wird auch das Band der Verbundenheit miteinander vertieft.
Enge FreundInnen des kurdischen Freiheitskampfes wie Norman Paech und der verschiedene Ekkehard Sauermann gehen auf die Gedanken Öcalans ein, zudem nehmen sie eine historische Einordnung der Verschleppung Öcalans durch ein Komplott, in das internationale Mächte verstrickt waren, und der Bedeutung der getroffenen Entscheidungen dieser Kräfte im Hinblick auf Öcalan für eine neue globale imperialistische Politik im 21. Jahrhundert vor. Sauermann, der sich einerseits als Marxist definiert, greift andererseits aber die Kritiken Öcalans am Marxismus auf und setzt sie in eine fortführende Beziehung zueinander.
Andere demokratische Bewegungen
Im zweiten Teil setzt sich der berühmte anarchistische Schriftsteller Peter Lamborn Wilson mit den Thesen Öcalans über das Neolithikum und die sumerische Zivilisation auseinander. Wilson hat einen besonderen Stellenwert für unser Buch. Das Besondere an ihm ist, dass er in seinen Bestrebungen, eine anarchistische Analyse vorzunehmen, die Historie Mesopotamiens in den Mittelpunkt stellt, und während seiner Arbeiten stieß er auf die Schriften Öcalans und fand einen ihm vertrauten Geist.
Des Weiteren werden in dem Kapitel von Donald H. Matthews zusammen mit Thomas Jeffrey Miley die Bewertungen Öcalans der monotheistischen Religionen und von Muriel González Athenas die Beurteilungen des sozialen Geschlechts in der Menschheitsgeschichte einer kritischen Betrachtung mit einem vertiefenden Anspruch unterzogen.
Die Schriften im dritten Teil stellen einen Dialog des Südens mit dem Süden dar. Hier schreiben Radha D’Souza, Raúl Zibechi und Andrej Grubačić, die uns auf eine Reise mitnehmen vom Süden Asiens über den Balkan bis nach Lateinamerika. In ihren Texten führen sie die Grundsätze der auf dem Mittleren Osten fußenden Theorie Öcalans fort und führen unterschiedliche Bewegungen auf, die ebenfalls ein Leben in Freiheit schaffen wollen.
Radha D’Souza, die sich auf eine indische Philosophie der Autonomie und der Freiheit bezieht und Einblick in regionale Quellen hat, zeichnet uns ein differenziertes und äußerst divergentes Bild von dem auf dem Hinduismus beruhenden nationalen Befreiungskampf. Raúl Zibechi gibt uns einen Einblick in die Kämpfe der Stämme Südamerikas um eine andere Welt, eine andere Gesellschaft und eine andere Theologie, wobei er in eine fiktive Diskussion mit Öcalan tritt. Sollte es auch nur für einen Augenblick sein, so reißt er damit dennoch die Mauern von Imralı ein.
Was mich am meisten bewegt hat in diesem Teil des Buches, war der Text von Andrej Grubačić. Weil er sich auf eine Zeit bezieht, die noch gar nicht so weit weg ist und dadurch aber auch seine eindrucksvolle Schreibweise erfassbar werden lässt. Er geht auf die Vorstellungen der KommunistInnen in Serbien ein, die in der Phase des Zusammenbruchs des Osmanischen Reichs, entgegen den imperialistischen Bestrebungen für die Türkei als Nachfolgerstaat und dem auf dem Balkan wütenden Nationalismus, eine autonome, selbstverwaltete Föderation für den Balkan und Anatolien vorschlagen.
Sie sehen Volksfeste vor, die sich der Demokratie verpflichten. Was wiederum auch von BäuerInnen und ArbeiterInnen auf den Schlachtfeldern Europas mit Leidenschaft verteidigt wurde, von den MarxistInnen in Europa jedoch als nichtig angesehen wurde. Gemeinsam mit dem Untergang des Osmanischen Reichs entstanden in Serbien, Griechenland, Armenien und in vielen anderen Teilen kommunistische Bewegungen, die diese Idee vertraten, der nun in Kurdistan mit mesopotamischem Einfluss neues Leben eingehaucht wurde und die zusammen mit den Worten von Grubačić von Neuem zu faszinieren beginnt.
Inspiration für alle, die nach Alternativen suchen
Im letzten Teil hat mich vor allem der Text von David Graeber tief beeindruckt. Denn Graeber konzeptualisiert die Schriften Öcalans über die Mythologie und schafft es so, das Diskussionsniveau weiter anzuheben. Die Frauenfrage wird in den Thesen Öcalans nicht als Nebenwiderspruch in Anbetracht anderer Identitäten behandelt, sondern als Haupteinheit, um ein Verständnis für die Welt zu erhalten. In Anbetracht dessen, dass die Leistung der Frau nicht zählbar, verbrauchbar und handelbar ist, ist sie ein Geschenk, an das kein Maßstab angelegt werden kann. Die wesentliche Ursache dafür, dass die Arbeit der Frau wertlos wurde, oder für den durch den Kapitalismus erschaffenen Tauschhandel. Die Methodik Öcalans ist nicht nur deshalb revolutionär, sondern weil sie bestrebt ist, eine fortwährende Intervention gegen die eigene Vorherrschaft zu führen. Sie erzeugt nicht nur eine gesellschaftliche Dialektik, zur selben Zeit hat sie die in der Gesellschaft und in der Bewegung auftretende Dialektik bedingt.
Diejenigen, die das Buch bewertet haben, sind der Meinung, dass es mit seinen Texten einen Beitrag zu einem Diskurs liefert, an dem sich eine breite LeserInnenschaft beteiligen wird, und hoffen, dass alle Menschen dieser Welt, die auf der Suche nach einer Alternative sind, inspiriert werden. Ich denke, dass dieses Werk, die Schriften und Gedanken Abdullah Öcalans, einer breiten LeserInnenschaft eine Perspektive bietet, und für all diejenigen, die in Mesopotamien, Anatolien und im Mittleren Osten auf der Suche nach einer Alternative sind, bietet es neue Ansätze und stellt eine Inspirationsquelle dar.
Das freie Leben aufbauen
Dialoge mit Abdullah Öcalan
Kurzbeschreibung
Erstmals findet in deutscher Sprache eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Denken und Schreiben Öcalans und seinem politischen Einfluss statt. In diesem besonderen Band sind 18 Autor*innen, Aktivist*innen, Philosoph*innen und Wissenschaftler*innen vertreten, deren Ideen im Verhältnis zu Öcalans Schriften untersucht und debattiert werden. Das breite Spektrum namhafter Autor*innen beleuchtet verschiedene Aspekte der Theorie und Praxis des einflussreichen kurdischen Denkers, der sich seit mehr als zwanzig Jahren in Isolationshaft auf der türkischen Gefängnisinsel Imralı befindet.
Äußerst facettenreich werden in Das freie Leben aufbauen die Ideen diskutiert, die zur Revolution in Rojava führten: Vom demokratischen Konföderalismus bis zur Frauenrevolution, von der Geschichtsphilosophie bis zur Krise des Kapitalismus, von Religion bis Marxismus und Anarchismus wird das freiheitliche gesellschaftliche Denken mit der Philosophie Öcalans in Beziehung gesetzt, das sich radikal gegen Kapitalismus, Patriarchat und den Staat stellt.
Die Beiträge für diesen Sammelband stammen aus der Feder verschiedenster internationaler Autor*innen wie John Holloway, David Graeber, Immanuel Wallerstein, Antonio Negri, Peter Lamborn Wilson (Hakim Bey), Norman Paech, Muriel Gonzáles Athenas, Andrej Grubačić, Raúl Zibechi, Fabian Scheidler, Mechthild Exo, Michael Panser, Abdullah Öcalan u. a.
Orginaltitel:
Özgür Yaşamı İnşa Diyalogları
Erschienen bei Unrast
International Initiative Edition
Erscheinungsdatum 10/2019
Umfang: 335 Seiten
ISBN paperback
9783897710764
Preis: 18 €