Der Anschlag in Ankara und die Lösung der kurdischen Frage

Mitten im Parlamentsviertel vor dem türkischen Innenministerium von Ankara hat sich am vergangenen Sonntagmorgen ein Anschlag ereignet. Nach Angaben der türkischen Regierung wurden dabei zwei Sicherheitskräfte verletzt, die beiden Attentäter kamen ums Leben. Kurz darauf bekannte sich das zentrale Hauptquartier der Volksverteidigungskräfte (Navenda Parastina Gel, NPG) zu dem Anschlag. In dem Bekennerschreiben heißt es: „Diese Aktion war ausdrücklich für die Eröffnung des Parlaments und gegen ein Gebäude in dessen Nähe vorgesehen, das als Massaker- und Folterzentrum gilt.“ Der Anschlag sei als ausdrückliche Warnung an die Machthaber in Ankara zu verstehen.

Plötzlich ist der Konflikt ganz nah

Kurz nach dem Anschlag bombardierte die türkische Luftwaffe den Nordirak (Südkurdistan), angeblich als Vergeltung. Doch nicht erst seit letztem Sonntag werden die Gebiete bombardiert. Denn der Angriffskrieg der Türkei im Nordirak zieht sich mittlerweile über mehrere Jahre hin. Seit 2021 führt der türkische Staat grenzüberschreitende Operationen durch, die mit dem Völkerrecht nicht vereinbar sind. Als im Juli 2022 acht Zivilisten bei türkischem Artilleriebeschuss in einem Touristengebiet bei Dohuk ums Leben kommen, werden die Proteste gegen das Vorgehen Ankaras lauter. Doch der Krieg in Kurdistan tobt auch danach in all seiner Grausamkeit weiter. Die Drohnenangriffe in Nordsyrien (Rojava) und im Südkurdistan sind ebenso Teil einer menschenverachtenden Kriegsführung des türkischen Staates wie der Einsatz geächteter chemischer Kampfstoffe in den Guerillastellungen der PKK in den Bergen Kurdistans. Während die kurdische Gesellschaft mit Demonstrationen, Presseerklärungen, diplomatischen Gesprächen und anderen demokratischen Mitteln versucht, auf das Kriegsgeschehen in ihrer Heimat aufmerksam zu machen, blendet die internationale Staatengemeinschaft den Konflikt völlig aus.

Erst vor wenigen Tagen wurde der KNK-Vertreter Deniz Bülbün am helllichten Tag in seinem Büro in Hêwler (Erbil, Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak) von türkischen Todesschwadronen erschossen. Bülbün setzte sich für die nationale Einheit in der kurdischen Politik ein, die das Erdoğan-Regime zu brechen versucht, um einen innerkurdischen Krieg zu provozieren. Am Tag nach dem Anschlag in Ankara wurden dann zahlreiche HDP-Aktivist:innen in Istanbul festgenommen. Mit diesem Vorgehen versucht die türkische Regierung nicht nur die demokratische Opposition im Land zu lähmen, sondern auch die Proteste gegen ihre Kriegspolitik zum Schweigen zu bringen. Nicht zuletzt flankierte das Erdoğan-Regime Aserbaidschan bei seinem militärischen Vorgehen gegen die Armenier:innen in Bergkarabach/Arzach auf. 108 Jahre nach dem Genozid an den Armenier:innen erleben wir erneut eine von der Türkei gesteuerte antiarmenische Politik. Diese Nachrichten finden kaum Eingang in die deutschsprachige Öffentlichkeit.

Dabei galten die kurdischen Kräfte bis vor einigen Jahren als wichtigste Partner:innen im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat. Heute werden dieselben Einheiten vom türkischen Staat angegriffen, während die Kurd:innen systematisch aus ihren Heimatgebieten in Nordsyrien vertrieben werden. Doch die westliche Staatengemeinschaft, die EU und allen voran die Bundesregierung stehen in diesem Krieg an der Seite ihres NATO-Partners Türkei.

Der Anschlag in Ankara hat diesen Krieg schlagartig wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Westliche Staatenvertreter:innen verurteilten den Angriff unisono. Doch was ist die Antwort auf das Attentat im türkischen Regierungsviertel? Wie kann ein Ausweg aus der Gewaltspirale aussehen, die Kurdistan und den gesamten Nahen Osten seit 2015 fest im Griff hat? Wie kann eine weitere Eskalation, der türkische Drohnenkrieg in Kurdistan und die systematische ethnische Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus ihren Heimatgebieten gestoppt werden? Auf diese Fragen müssen Antworten gefunden werden, um eine friedliche und nachhaltige Lösung für einen Krieg zu finden, der schon viel zu viele Menschenleben gefordert hat.

Den Weg zum Dialog öffnen

In der deutschsprachigen Berichterstattung über den Anschlag in Ankara tauchte ein bemerkenswerter Satz auf, der den Schlüssel zu einem Ausweg aus der Gewaltspirale aufzeigt: „2015 war ein Friedensprozess zwischen der Türkei und der PKK gescheitert.“ Das Scheitern dieses Friedensprozesses war ein trauriger Wendepunkt in der langen Geschichte des Konflikts. Damals hatte der türkische Präsident Erdoğan die Verhandlungen einseitig für beendet erklärt. Die Hoffnung auf eine friedliche Lösung war zuvor so nahe wie lange nicht mehr. Verhandlungspartner war damals der inhaftierte PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan. Seine Vorschläge von der Gefängnisinsel Imrali weckten nicht nur Hoffnungen auf eine friedliche Lösung des Konflikts, sondern auch zahlreicher anderer akuter politischer Probleme in der Türkei und im Nahen Osten.

Inzwischen ist es zweieinhalb Jahre her, dass Öcalan das letzte Mal Kontakt mit der Außenwelt hatte – ein kurzes Telefonat im März 2021. Seine Verwandten durften ihn das letzte Mal im März 2020 besuchen, und seine Anwältinnen und Anwälte konnten ihn das letzte Mal im August 2019 auf Imrali sprechen. Millionen Kurdinnen und Kurden und ihre Freundinnen und Freunde fürchten um seine Sicherheit und sein Wohlergehen. Die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft ist mehr als notwendig, um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf dieses drängende Problem zu lenken und auf konkrete Maßnahmen zu drängen.

Der Anschlag in Ankara macht die Dringlichkeit einer Wiederaufnahme der Friedensgespräche mehr als deutlich. Der Dialog mit der kurdischen Seite ist der einzige Schlüssel zur Lösung des Konflikts. Abdullah Öcalan hat in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass er zu einer solchen Lösung bereit ist.

Wenn die internationale Staatengemeinschaft ernsthaft an einem Frieden in Kurdistan, der Türkei und dem Nahen Osten interessiert ist, muss sie den Druck auf die türkische Regierung erhöhen, damit das Erdoğan-Regime seine Kriegshandlungen einstellt und die Isolation Öcalans beendet. Nur so können Anschläge wie in Ankara in Zukunft verhindert werden. Denn die Türkei unter Erdoğan ist nicht nur ein Problem für die Kurd:innen, sondern auch ein vehementer Störfaktor in der internationalen Politik.


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