„Der Aufstand im Iran ist die demokratische Revolution der Völker“

Zilan Tanya, Ko-Vorsitzende der „Freien und demokratischen Gesellschaft aus Ostkurdistan“ (KODAR), zu den Hintergründen und Perspektiven der aktuellen Proteste in Ostkurdistan und dem Iran; 08.01.2018

In einem Interview mit der Nachrichtenagentur ANHA beantwortete die Ko-Vorsitzende der „Freien und demokratischen Gesellschaft aus Ostkurdistan“ (KODAR), Zilan Tanya, Fragen zu den andauernden Protesten der Menschen im Iran, die seit dem 29. Dezember 2017 in verschiedenen Städten andauern.

Am 29. Dezember 2017 begannen in Ostkurdistan und Iran Protestaktionen, die sich auf viele Städte ausbreiteten. Was ist der Grund für diese Proteste?

Dieser Aufstand hat begonnen, um Freiheit und grundlegende Rechte zu erlangen. Die Situation im Iran und Ostkurdistan ist eine Fortsetzung des regionalen Aufstandes. Zudem ist der Aufstand das Ergebnis der Politik des 38 Jahre alten iranischen Regimes. Über diese Jahre hinweg hat der Iran sich durch eine zentralistische und faschistische Diktatur behauptet. Das Regime hat in allen Bereichen versucht seine Mentalität der Gesellschaft aufzudrücken und zu einer gesellschaftlichen Kultur zu transformieren. Der gegenwärtige Aufstand ist aus Protest gegen die faschistische Mentalität entstanden, die sich gegen die Forderungen, Ideen und das Leben der Menschen richtet. Wir können beobachten, dass das herrschende Regime die Gesellschaft in ihrem freien Willen einschränkt. Die Gesellschaft hat dem Regime mehrfach Chancen eingeräumt und sich aufgelehnt. Doch das herrschende Regime ist keinen Schritt auf die Menschen zugegangen. Trotz Versprechungen wurden die Erwartungen der Gesellschaft nicht befriedigt.
Die Gesellschaft im Iran ist eine bewusste Gesellschaft und hat wiederholt seine Forderungen offen zum Ausdruck gebracht. Da das Regime keinen Schritt auf die Menschen zugeht, sind die Reaktionen der Gesellschaft legitim und rechtens. Man muss diese Reaktion der Gesellschaft unterstützen. Dieser Aufstand ist ein Aufstand für Demokratie und gegen Faschismus und Diktatur.

Ähnelt der Aufstand im Iran dem „arabischen Frühling“? Was für Unterschiede gibt es?

In den letzten Jahren wurden wir Zeugen von grundlegenden Veränderungen im Mittleren Osten. In vielen Ländern, insbesondere in arabischen Ländern, gab es Volksaufstände gegen die faschistischen und diktatorischen Systeme. Diese Aufstände haben das Niveau von Revolutionen erreicht und viele Veränderungen mit sich gebracht. Die Aufstände sind miteinander verkettet. Der Iran wurde von keiner Revolution heimgesucht und es gab dort bisher keine Veränderungen. Deshalb erfüllt die Gesellschaft nun ihre Aufgaben für die Demokratie. Wir können sagen, dass die Ereignisse im Iran eine Fortsetzung der Demokratisierungsphase und Revolutionen im Mittleren Osten sind. Die Phase im Iran ist die Phase der demokratischen Revolution der Gesellschaften des Iran.

Wenn sich in einem Land eine Revolution ereignet, beklagen die Regierenden die Rolle äußerer Kräfte. Auch das iranische Regime hat das getan. Wie sehr stimmt diese Erklärung des iranischen Regimes mit der Realität überein?

Die jetzige Situation hängt mit der inneren Situation zusammen, vor allem mit der Politik und Mentalität des iranischen Regimes. Das Regime stützt sich auf den Konfessionalismus und zwingt den Menschen eine Konfession, eine Sprache, eine Kultur und eine Flagge auf. Das iranische Regime hat die Vielfalt der Gesellschaften im Iran verleugnet und einen weißen Genozid angewandt. Zudem ließ man die Menschen hungern. Das Regime im Iran hat die Kultur, die Werte, Identität und den Willen der Gesellschaft verleugnet. Es hat politische, demokratische und intellektuelle Persönlichkeiten erhängt und ermordet. Das Regime hat mit diesen Maßnahmen beabsichtigt die Gesellschaft in die Knie zu zwingen und mit Befehlen zu verängstigen. Doch die Gesellschaft im Iran hat ein historisches und philosophisches Bewusstsein. Deshalb fordert sie die Freiheit und setzt sich für ihre Jahrtausende alte Identität und Kultur ein.  Auch außerhalb gibt es Protestaktionen gegen die herrschenden Systeme im Mittleren Osten. Der Iran ist eines dieser Systeme. Aus diesem Grund sind Interventionen von außen zu sehen. Jeder weiß, dass der Iran unter einem wirtschaftlichen Embargo steht. Die herrschenden Systeme versuchen immer den Revolutionen die Luft zu nehmen und verbinden die Volksrevolution mit äußeren Kräften. Damit versuchen sie ihre eigene Praxis gegen die Politik und Kultur zu rechtfertigen und zu legitimieren. Doch das iranische Regime kann sich nicht vor den Folgen seiner eigenen Politik mit Rhetorik schützen. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation sowie die politische Repression sind die Hauptgründe für die Proteste. Wir sehen, dass die Gesellschaft aus diesen Gründen auf die Straßen gegangen ist und Freiheit statt Diktatur fordert.

Die Aktivisten tragen Transparente mit der Aufschrift „Lass Syrien und den Libanon, höre uns zu“. Was will man damit für eine Botschaft geben?

In den vergangenen neun Jahren sind sowohl Protestaktionen zu Tage getreten, als auch Projekte zur Demokratisierung des Iran unterbreitet worden. Demokratische Bewegungen wie die PJAK (Partei für ein freies Leben in Kurdistan) und KODAR haben in Einklang mit den Gesellschaften im Iran und ihrer Vielfalt Projekte für eine demokratische Lösung vorgelegt. Doch das iranische Regime hat diese Projekte bekämpft und keinerlei Schritte in Richtung einer Lösung unternommen. Das iranische Regime wollte im Jahr 2010, als die jüngsten Veränderungen im Mittleren Osten begannen, das Projekt des „schiitischen Halbmonds“ umsetzen. Damit wollte es seine Position in der Region ausbauen und die Zeit des Imperiums wiederbeleben. Deshalb wollte der Iran seine Politik gegen andere Länder umsetzen. Er hat sich von inneren Problemen losgesagt und für äußere Projekte eingesetzt. Anstatt den Problemen der Menschen Gehör zu schenken, wurde die Gesellschaft des Irans für Projekte des Regimes außerhalb des Landes geopfert. Selbstverständlich hat die Gesellschaft das Recht das Regime zu bestrafen und Demokratie und Veränderungen zu fordern. Auch hat sie das Recht, die Politik, die der Iran im Namen der iranischen Gesellschaft führt, zu hinterfragen. Mit Slogans auf den Protestaktionen wird das Ende der vom Regime außerhalb des Landes geführten Politik gefordert. Die Menschen fordern die Lösung der inneren Probleme. Es hat keinen Nutzen für das Regime die Aktionen mit äußerlichen Kräften in Verbindung zu bringen. Das iranische Regime hat seine Chance vergeben. Die Botschaft ist, dass das Volk die iranischen Verantwortlichen für ihre Außenpolitik bestrafen wird. Das ist eine zentrale Forderung auf den Aktionen und wird das iranische Regime früher oder später zum Handeln zwingen.

Warum haben die Aktionen in großen Städten wie Maschhad begonnen, das eines der politischen Zentren des Iran ist?

Die großen Zentren sind die strategischen Orte, in denen die Politik des Iran entscheidend geprägt wird. Das iranische Regime fußt auf diesen Städten. Die Probleme rührten dem Regime nach aus anderen Städten. Der Beginn des Volksaufstandes in diesen Städten zeigt, dass die Politik des Regimes bankrottgegangen ist. Aus diesem Grund haben Protestaktionen in Städten wie Maschhad, Ghom und Teheran eine große Wirkung im Iran. Es zeigt, dass die Bestrebung des iranischen Regimes, seine Mentalität in diesen Städten auszubreiten, ins Leere verlaufen ist. Die Forderung nach dem Rücktritt von Rohani und die Verbrennung von Chomeini und Chamene’i-Poträts bedeutet, dass die einzige Lösung ein grundlegender Wandel der iranischen Verhältnisse ist.

Was kann für die Demokratisierung des Irans getan werden, wenn die Aktionen im Iran andauern?

Die begonnene Phase ist in jeder Hinsicht bedeutend. Es hängt sowohl mit dem inneren und äußeren Zustand des Irans zusammen. Deshalb muss diese Situation gut beobachtet werden. Der Staat muss die Forderungen der Menschen ernst nehmen und eine Veränderung in Richtung Demokratie vornehmen. In allen Bereichen, der Verfassung zuerst, müssen Schritte unternommen werden. Der Staat muss mit kurdischen und iranischen Vertreten in einen Dialog treten und die Grundlagen für einen politischen Wandel schaffen. Ohne Zweifel stehen wir an der Seite der Gesellschaften in Ostkurdistan und dem Iran. Wir sind ideologisch, politisch und gesellschaftlich zu allem bereit, damit die Menschen ihre Rechte erlangen und können auch demokratische Lösungsprojekte vorlegen. Unser primäres Ziel ist ein demokratischer Iran und die Gründung eines demokratischen und freien Kurdistans. Wir verfolgen die Situation aus nächster Nähe und werden entsprechend der Entwicklungen unsere Position Schritt für Schritt festlegen.


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