Immer noch auf der Suche nach der Wahrheit

Mahmut Şakar über die drei in Paris ermordeten kurdischen Revolutionärinnen; für den Kurdistan Report Januar/Februar 2018

Am 9. Januar 2013 wurden die drei kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez im Kurdistan-Informationszentrum im Herzen von Paris ermordet. Kurz darauf wurde bekannt, dass es sich bei dem Mörder Ömer Güney um einen türkischen Nationalisten handelte. Nach einem langjährigen Aufenthalt in Deutschland hatte er sich in die kurdische Gesellschaft und deren Institutionen in Paris eingeschlichen. Dokumente belegen heute, dass Güney für den türkischen Geheimdienst MIT (Millî İstihbarat Teşkilâtı) arbeitete und in Kontakt stand mit Personen der höchsten Leitungsebene des MIT. Tonaufnahmen und offizielle Dokumente, die öffentlich wurden, lassen keinen Zweifel daran, dass es sich um einen »Terroranschlag« des türkischen Staates handelte.

Gleich zu Beginn der Untersuchungen verbreiteten Vertreter der türkischen Regierung und türkischer Medien die Behauptung, bei dem Mord handele es sich um eine »interne Abrechnung«. Auch französische Vertreter waren ähnlicher Ansicht und stellten die kurdische Gesellschaft in den Fokus der Untersuchungen. In die in der Türkei gleichzeitig angelegten Untersuchungsdossiers, die später unter die Geheimhaltung fallen sollten, fanden auch einige Berichte in Paris ansässiger türkischer Diplomaten an die oberen Gerichte Eingang. Darin wurde vermittelt, dass der türkische Staat wegen der Untersuchungen beruhigt sein könne.

Im Verlauf der Ermittlungen änderte sich später aufgrund einiger Belege, die von der offiziellen Lesart abwichen, die Richtung der Untersuchungen. Kurz nach dem Mord war Ömer Güney als Tatverdächtiger identifiziert und in Gewahrsam genommen worden. Von französischer Seite wurde verlautbart, Güney habe den Mord begangen. Es ist wichtig zu betonen, dass die Ermittlungen bereits zu Beginn äußerst dilettantisch bzw. absichtlich oberflächlich betrieben wurden. So sind das Auto und die Wohnung Güneys nicht gründlich durchsucht worden. Mit jeder neuen Entwicklung im Verlauf der Ermittlungen wurden die Durchsuchungen nur stückweise vorgenommen.

Entscheidend für die Ermittlungen war die Veröffentlichung eines Telefongesprächs vom 12. Januar 2014. Darin diskutieren Güney und Vertreter des MIT über die als mögliche Anschlagsziele in Frage kommenden Personen und tauschen sich über Methoden und Absicherungsmaßnahmen aus. Kurz darauf wurde am 14. Januar in einem MIT-Dokument der Auftrag für die Ermordung Sakine Cansız‘ vermerkt. Laut einem Bericht des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel« werteten deutsche Geheimdienste die Unterlagen als authentisch. Auch die Unterzeichner des Dokuments wurden von den Geheimdiensten als die tatsächlich für die PKK Verantwortlichen beim MIT identifiziert.1

Im Zusammenhang mit den Ermittlungen gibt es noch einen weiteren erwähnenswerten Aspekt. Insbesondere der französische Geheimdienst weigerte sich trotz einer Anweisung der zuständigen Ermittlungsrichterin, in Verbindung mit den Ermittlungen stehende Dokumente zu teilen, und unterließ somit die notwendige Unterstützung. Es ist zudem bemerkenswert, dass aus der Wohnung der Ermittlungsrichterin ein Computer entwendet wurde, auf dem Ermittlungsakten gespeichert waren.

Im Bericht der Untersuchungsrichterin und in der Anklageschrift finden sich eindeutige Belege für die Verwicklung des türkischen Geheimdienstes in die Morde. Ömer Güney wird in der Anklageschrift beschuldigt, als Mitglied einer terroristischen Vereinigung die Morde verübt zu haben. Daher sollte er im Rahmen der Gesetze zum Kampf gegen den Terrorismus angeklagt werden. Auch wenn Güney diese Vorwürfe bis zuletzt bestritt, verfügt die Richterin über zahlreiche Belege, die eine ausschließlich persönliche Motivation für den Mord ausschließen. Sie stellt im Ermittlungsdossier zudem explizit fest, dass zur Vermutung einer »internen Abrechnung« in den ersten sechs Monaten zwar ermittelt wurde, aber ergebnislos.

Obwohl nicht näher benannt wird, mit welcher terroristischen Vereinigung Güney in Kontakt gestanden haben soll, werfen seine Beziehungen mit dem MIT Fragen auf. Der Telefonverkehr, veröffentlichte Dokumente des MIT und Tonaufnahmen lassen vermuten, dass der MIT in den Mordanschlag in Frankreich verwickelt war. Aufgrund der Weigerung der Türkei, die Ermittlungen mit Informationen zu unterstützen, konnte die genaue Art und Weise der Verwicklung des MIT nicht näher bestimmt werden.

In den Verfahrensakten schreibt die Richterin, dass »aufgrund zahlreicher Merkmale der Prozedur eine Verwicklung des MIT in die Anstiftung und Vorbereitung des Mordanschlags zu vermuten ist«. In der Anklageschrift findet sich der Verdacht, der Mordverdächtige Ömer Güney sei als Agent tätig gewesen. Es wird zudem darauf verwiesen, dass er sich in der Türkei an geheimen Treffen beteiligt habe. In der Anklageschrift wird nicht eindeutig geklärt, ob die MIT-Agenten auf offizielle Anweisung höchster Stellen handelten oder mit der Absicht, den Friedensprozess zu sabotieren.

In einer Analyse unterstreicht das Führungsmitglied der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) Cemil Bayık, dass der MIT selbst eine Verwicklung in die Morde eingestanden habe: »Der MIT hat selbst gesagt: ›Der Mord wurde von uns ausgeführt. Das bestreiten wir nicht.‹ Es hieß zudem, dass es verschiedene Flügel innerhalb des MIT gebe und sie den Mord ausgeführt hätten. Die Personen, mit denen wir gesprochen haben, sagten aus, sie selbst seien nicht in die Morde verwickelt gewesen.«2

Ein bedeutender Teil der Ermittlungen befasst sich mit dem Fluchtversuch Güneys im Jahre 2013. Während eines Besuchstermins im Gefängnis hatte der Inhaftierte seinem Besucher Ruhi Semen trotz Gesprächsüberwachung einen Notizzettel übergeben. Semen konnte daraufhin Frankreich ungehindert verlassen.

Aufgrund dieses Vorfalls wurde ein zweites Verfahren gegen Ömer Güney eröffnet. Doch sein Gehilfe Ruhi Semen wurde nicht in die Ermittlungen einbezogen. Trotz dieses offensichtlichen Tatbestands wurde Güney weiterhin als einziger Verdächtiger angeklagt. Mit Verweis auf seinen Gesundheitszustand wurde der Prozess immer wieder verschoben und der Termin schließlich auf den 23. Januar bis 23. Februar 2017 festgelegt. Mit dem Tod Güneys am 17. Dezember 2016 wurde die Ermittlungsakte geschlossen.

Auf den Antrag der Anwälte, die Ermittlungen im Zusammenhang mit neuen Angeklagten erneut aufzunehmen, wurde bis heute nicht reagiert.

Im Ergebnis wurde für die Durchführung dieses Massakers nur ein einziger Angeklagter verantwortlich gemacht, obwohl er sich Staaten wie der Türkei, Frankreichs, Deutschlands, Hollands und Belgiens logistisch bedient hatte, und die Akte wurde geschlossen. Die Realität hat einen engstirnigen Ansatz eingeholt, der in der Anklage die Einflüsse des MIT nicht berücksichtigt und den Fall nicht als einen gerechten aufnimmt. Frankreich denkt darüber nach, seine eigene Verantwortung abzugeben.

Die Enttäuschung in der kurdischen Gesellschaft angesichts dieser Situation ist groß. Viele vermuten, dass die zwischenstaatlichen Beziehungen ausschlaggebend dafür sind, dass die tatsächlichen Umstände des Mordanschlags nicht aufgeklärt wurden. Das Gerechtigkeitsempfinden des kurdischen Volkes wurde schwer in Mitleidenschaft gezogen.

Doch die Suche nach der Wahrheit dauert auf verschiedenen Wegen an. Regelmäßig finden sogenannte »Gerechtigkeitsmärsche« gegen die Pariser Morde statt und Mahnwachen. Insbesondere Frauen beteiligen sich an diesen Aktionen.

Am wichtigsten ist es, dass im Namen des gesellschaftlichen Gewissens versucht wird, die Suche nach der Gerechtigkeit fortzusetzen, die vom europäischen Rechtssystem nicht gewährleistet wurde. In Paris wird am 15. und 16. März 2018 ein Tribunal stattfinden, auf dem sich gegen die Pariser Morde und weitere Massaker am kurdischen Volk in den Jahren 2015 und 2016 gerichtet werden soll. In der Gegenwart echter Richter, die das Gewissen der Gesellschaft bilden, wird die Suche nach Gerechtigkeit fortdauern.


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