Zu Beginn des neuen Jahres wollen wir noch einmal einen Blick zurück ins Jahr 2023 werfen und einen – sicherlich nicht vollständigen – Jahresrückblick auf die Ereignisse in Kurdistan geben. Das vergangene Jahr war zweifellos nicht einfach für die Kurdinnen und Kurden weltweit. Die kolonialistischen Staaten in Kurdistan haben ihre Angriffe auf die Errungenschaften des Widerstandes eskalieren lassen. Sie haben ihre Absicht, den Kampf der Kurdinnen und Kurden um Selbstbestimmung, Freiheit und Gleichberechtigung zu zerschlagen, mit allen Mitteln verfolgt.
Gelungen ist ihnen das allerdings nicht. Allen Angriffen zum Trotz konnte sich der kurdische Freiheitskampf auch im Jahr 2023 behaupten. In Kurdistan und seinen Nachbarregionen gibt es nach wie vor eine gesellschaftliche Kraft, die sich für eine gerechte und freie Welt einsetzt. Auch wenn das Jahr 2023 weitgehend von Abwehrkämpfen geprägt war, verbreiteten sich die Gedanken und Ideen dieser gesellschaftlichen Kraft mittlerweile weit über den Nahen und Mittleren Osten hinaus in die ganze Welt. Ob in Rojhilat und im Iran, in Şengal oder Mexmûr, in den Metropolen Nordkurdistans oder in Nord- und Ostsyrien – auch im vergangenen Jahr ist es dieser Kraft gelungen, sich gegen ganze Staaten, deren „Sicherheitsapparate“ und staatliche Verbündete zu behaupten. In dem folgenden dreiteiligen Beitrag wollen wir einen Rückblick auf einige Schlaglichter dieses Jahres werfen, das in Kurdistan ganz im Zeichen von Krieg und Widerstand stand. Wir beginnen mit den Monaten Januar bis April.
Januar 2023
Internationale Delegation: Isolation auf Imrali muss aufgehoben werden
Die Isolation des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali war ein Thema, das uns das ganze Jahr 2023 begleitete. Bereits im Januar reiste eine Gruppe von 36 Jurist:innen, Journalist:innen und Akademiker:innen aus sieben verschiedenen Ländern als „Internationale Delegation gegen Isolation“ in die Türkei. Am Ende der Reise veröffentlichte die Delegation eine Erklärung, in der es heißt: „ Wir mussten feststellen, dass das Imrali-System in der Türkei zu einer Regierungsmethode geworden ist.“ Die Delegation forderte unter anderem das CPT (Europäisches Komitee zur Verhinderung von Folter) erneut auf, angesichts der dringenden und besorgniserregenden Situation der absoluten Isolation auf Imrali Verantwortung zu übernehmen. Die Feststellung der Delegationsteilnehmer:innen, dass nicht nur Abdullah Öcalan und die politischen Gefangenen isoliert sind, sondern die gesamte gesellschaftliche Opposition in der Türkei, liest sich im Rückblick wie eine traurige Vorahnung, an der sich im Laufe des Jahres wenig geändert hat. „Das Leben als Ganzes befindet sich im Belagerungszustand. Ein Ausweg aus dieser Belagerung ist nur durch einen gemeinsamen juristischen, politischen und sozialen Kampf möglich“, so die Deklaration der Delegationsteilnehmer:innen.
Februar 2023
Erdbeben offenbart koloniale Realitäten in Kurdistan
Im Februar dieses Jahres ereignete sich in der syrisch-türkischen Grenzregion ein schweres Erdbeben, das weite Teile der kurdischen Siedlungsgebiete verwüstete. Über 50.000 Menschen kamen dabei ums Leben, ein großer Teil von ihnen waren Kurd:innen, sowohl auf türkischem als auch auf syrischem Staatsgebiet. Häuser fielen wie Sandburgen in sich zusammen, Straßen waren nicht mehr passierbar.
Das Erdbeben war vielleicht nicht zu verhindern, wohl aber die hohe Zahl der Todesopfer und das Ausmaß der Schäden. Und auch nach dem Erdbeben verhielten sich der türkische und der syrische Staat ganz im Sinne von Kolonialmächten und stellten offen ihre Verachtung für die Opfer dieser Naturkatastrophe zur Schau. In den kurdischen Städten und Dörfern kam mitten im eisigen Winter über 48 Stunden lang keine Hilfe an, weder Krankenwagen noch Feuerwehr oder Lastwagen mit Hilfsgütern. Tausende Menschen und Kinder starben unter den Trümmern. Ähnlich katastrophale Zustände herrschten nach dem Erdbeben in der arabisch geprägten Stadt Hatay. Die offensichtliche Vernachlässigung der kurdischen, alevitischen oder arabisch-alawitischen Erdbebengebiete durch den türkischen Staat war nicht zu übersehen. Wollten Opposition und Zivilgesellschaft darauf mit selbstorganisierter, spendenbasierter Katastrophenhilfe reagieren, mussten sie mit staatlichen Repressionen rechnen.
In Syrien wurden Hilfstransporte kurdischer Organisationen und der nordostsyrischen Selbstverwaltung in die Erdbebengebiete vom Baath-Regime blockiert. Tagelang wurden die Hilfskonvois an Checkpoints der syrischen Regierung aufgehalten. Die Opfer des Erdbebens in der von der Türkei völkerrechtswidrig besetzten Region Efrîn im Nordwesten Syriens hingegen waren weitgehend sich selbst überlassen. Und der türkische Staat selbst schreckte nicht davor zurück, die vom Erdbeben betroffenen Gebiete Nordsyriens kurz nach der Naturkatastrophe mit Drohnen zu bombardieren.
März 2023
Der Monat des Widerstands
Der März ist in der kurdischen Gesellschaft traditionell ein widerständiger Monat. Er beginnt mit dem internationalen Frauenkampftag am 8. März und mündet schließlich im Widerstandsfest Newroz am 21. März. Den 8. März haben die Frauen in Kurdistan unter der Losung „Mit Jin-Jiyan-Azadî zur Frauenrevolution“ gefeiert. Nicht nur in Kurdistan, sondern auf der ganzen Welt zeigten an diesem Tag Menschen ihre Solidarität mit der Jina-Revolution und dem Widerstand der Frauen und der Gesellschaft in Rojhilat (Ostkurdistan) und dem Iran.
Seinen Höhepunkt erreichte der gesellschaftliche Widerstand am Newrozfest, das für die Völker des Nahen und Mittleren Ostens das Fest des Frühlingsbeginns und des neuen Jahres darstellt. Newroz symbolisiert zugleich auch den Widerstand gegen Unterdrückung und Tyrannei. In diesem Sinne gingen in ganz Kurdistan Millionen Menschen auf die Straßen und forderten Freiheit, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung.
Der kollektive Widerstandswille, der an diesem Tag in Kurdistan grenzübergreifend zum Ausdruck kommt, muss die Besatzerstaaten aufgeschreckt haben, denn die autoritären Regime reagierten mit grausamer Gewalt. In Amed (Diyarbakir) wurden im Zusammenhang mit dem Widerstandsfest Newroz mindestens 160 Menschen von der türkischen Polizei festgenommen. Die Newroz-Feiern in Rojhilat wurden von Angriffen iranischer Regimetruppen begleitet. Etwa 50 Menschen sollen durch den Einsatz von Schrotmunition und Tränengas verletzt worden sein, darunter auch Frauen und Kinder. Und in Cindirês, in der von der Türkei besetzten Region Efrîn in Nordsyrien, haben dschihadistische Milizionäre während einer Newroz-Feier vier Menschen erschossen, weitere Personen wurden verletzt.
Im März 2023 hat sich die völkerrechtswidrige Besetzung des selbstverwalteten Kantons Efrîn durch die Türkei zum fünften Mal gejährt. Seit der Besatzung sind Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, wie das oben genannte Massaker am Newrozfest in Cindirês, trauriger Alltag. Neben klassischer Kolonialpolitik steht eine Politik der ethnischen Säuberung und der systematischen geographischen Umverteilung der Bevölkerung im Vordergrund. Die kurdische Bevölkerung wurde vertrieben, ein großer Teil lebt bis heute unter schwierigen Bedingungen in Flüchtlingslagern in der benachbarten Enklave Şehba. Die Besatzung dauert seit fast sechs Jahren an und die Annexion der ehemals kurdischen Autonomieregion wird von der internationalen Staatengemeinschaft ignoriert. Efrîn war einst zu 90 bis 95 Prozent von Kurd:innen bewohnt und galt bis zur türkischen Invasion als einer der letzten sicheren Zufluchtsorte für Binnenvertriebene in Syrien. Aufgrund der Militärgewalt mussten über 300.000 Kurd:innen fliehen. An ihrer Stelle siedelt das Erdogan-Regime gezielt arabische Flüchtlinge nicht nur aus anderen Teilen Syriens, sondern laut Berichten auch aus Palästina an. Häufig handelt es sich um Angehörige dschihadistischer Milizen und deren Familien. Efrîn gilt auch als sicherer Unterschlupf für hochrangige IS-Mitglieder. Die verbliebenen kurdischen Einwohner:innen hingegen werden täglich von der „Syrischen Nationalen Armee“, einem dschihadistischen Heer, das von der Türkei und Katar finanziert wird, terrorisiert.
April 2023
Drohnenangriffe der Türkei und Repression in Deutschland
Der türkische Drohnenterror hat uns das ganze Jahr 2023 begleitet. Unter Missachtung der Souveränität des Irak und Syriens und mit Billigung internationaler Mächte wie den USA oder Russland bombardierte der türkische Staat immer wieder kurdische Siedlungsgebiete. Schutz vor diesen Angriffen ist kaum möglich, da nie klar ist, wo und wann der nächste Drohnenangriff erfolgt. Forderungen nach einem Ende der menschenverachtenden Angriffe des türkischen Staates oder nach einer Luftschutzzone über Nord- und Ostsyrien werden von internationalen Organisationen bis heute ignoriert.
Im April 2023 fand in der südkurdischen Stadt Silêmanî (Sulaymaniyah) ein besonders perfider Drohnenangriff des türkischen Staates statt. Ziel des Angriffs am 7. April war der Generalkommandant der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD, en. SDF), Mazlum Abdi. Dessen Besuch in Südkurdistan diente dazu, Kooperationsmöglichkeiten mit den Peschmerga-Einheiten der Patriotischen Union Kurdistans (YNK) im Kampf gegen den IS auszuloten. Auch wenn bei diesem Angriff durch Zufall und Glück niemand zu Schaden kam, forderten weitere Drohnenangriffe des türkischen Staates im Jahr 2023 Hunderte Menschenleben.
Im gleichen Monat erreichte die Repression des deutschen Staates gegenüber kurdischen Aktivist:innen einen vorläufigen Höhepunkt. Verfahren nach §129 a/b gegen kurdische Aktivist:innen hatten massiv zugenommen, begleitet von gezielten Aktionen zur Kriminalisierung organisierter kurdischer Strukturen. Am 19. April wurden Vereinsräume in Darmstadt durchsucht, ebenso das Büro der „Föderation der demokratischen Vereine – KAWA e.V.“, im Zusammenhang mit einer Gedenkveranstaltung vor drei Jahren. Die Durchsuchungen verliefen ergebnislos, alle Festgenommenen wurden freigelassen, lediglich einige Fahnen und Transparente wurden beschlagnahmt. Die gesuchte verbotene PKK-Fahne befand sich allerdings nicht darunter.
Im zweiten Teil des Jahresrückblicks widmen wir uns den Monaten Mai bis August 2023.