Mutmaßlicher Täter des Massakers von Paris kurz vor Prozessbeginn tot aufgefunden: Kein Vergessen, kein Vergeben! Wir fordern Gerechtigkeit!

Cenî – Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V., 09.01.2017

Am 9. Januar 2013 sind die drei kurdischen Politikerinnen Sakine Cansız, Leyla Doğan und Leyla Şaylemez mitten in Paris ermordet worden. Im Januar 2017 sollte der Prozess zur Aufklärung dieses politischen Mords starten. Doch kurz vor Prozessbeginn ist der Hauptangeklagte Ömer Güney in seiner Zelle tot aufgefunden worden.

Sakine Cansız war eine herausragende Persönlichkeit und lebende Legende im kurdischen Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung. Geboren wurde sie 1958 in der kurdischen Stadt Dersim, welche die letzte Station einer Reihe von kurdischen Aufständen gegen türkische Unterdrückungspolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts darstellt und 1937/38 einem Genozid zu Opfer gefallen ist. Sakine Cansız engagierte sich früh politisch und gehörte 1978 zu den Mitgründerinnen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Im Zuge des Militärputschs 1980 wurde sie verhaftet und ins Militärgefängnis von Diyarbakir gebracht. Mit extremer Form von Folter, die jegliche Vorstellungskraft bricht, sollte der Widerstand gebrochen werden. Auch Sakine Cansız wurde physischer, psychischer und sexueller Folter ausgesetzt. Aber sie beugte sich nicht und wurde zur bahnbrechenden Führerin des Widerstands in den Gefängnissen gegen das faschistische Regime in der Türkei. Nach ihrer Haftentlassung führte sie ihren Kampf in den Bergen Kurdistans und in den Städten Europas fort und kämpfte unermüdlich für die Befreiung der Frau und die Freiheit sowohl ihres eigenen Volks als auch der Menschheit gegen jegliche Art von Unterdrückung.

Fidan Doğan war Repräsentantin des Kurdischen Nationalkongress (KNK). Sie hatte sich 1999 als 17jährige dem kurdischen Befreiungskampf angeschlossen und sowohl in Paris als auch in Brüssel maßgeblichen Beitrag geleistet, um den Kampf der KurdInnen der Weltöffentlichkeit näherzubringen und den Grund für internationale Zusammenarbeit zu legen. Die 24jährige Leyla Şaylemez war Teil der kurdischen Jugendbewegung. Sie trug den Nom de guerre „Ronahi“, was Licht bedeutet. Sie leistete große Arbeit in der autonomen Organisierung von jungen Frauen.

Am 9. Januar 2013 befanden sich alle drei Frauen im Kurdistan Informationsbüro im Stadtzentrum von Paris. Überwachungskameraaufnahmen zeigen, wie Ömer Güney zur Tatzeit mit einer Tasche in der Hand in das Büro geht. Der mutmaßliche Täter hat dort Sakine Cansız, Leyla Doğan und Leyla Şaylemez mit einer Schusswaffe ermordet. Dieser politische Mord hat sowohl in der kurdischen Bevölkerung als auch in der Weltfrauenbewegung unvergleichliche Wut und Trauer ausgelöst. Nur wenige Tage nach der Ermordung der drei Frauen sind in Paris über 100 Tausend Menschen auf die Straße gegangen. Der Leichnam der Frauen ist in der kurdischen Hauptstadt Diyarbakir von mehreren Millionen Menschen empfangen worden.

Wenige Tage nach der Tat ist Ömer Güney als Hauptverdächtiger verhaftet worden. Tonaufnahmen belegen, dass er vom türkischen Geheimdienst MIT damit beauftragt worden ist, führende kurdische PolitikerInnen in Europa zu ermorden. Nachforschungen haben außerdem gezeigt, dass es sich bei ihm um einen verdeckten Ultranationalisten handelt, der in Süddeutschland in Kontakt mit dem türkischen Geheimdienst getreten ist und mit dem Auftrag politischer Morde nach Paris gegangen ist. Ömer Güney besaß die deutsche Staatsangehörigkeit und hat sich in Deutschland im Milieu türkischer Ultranationalisten betätigt. Dass dies dem Verfassungsschutz nicht bekannt gewesen sein soll ist zu bezweifeln.

In diesem Sinne kommt neben den französischen Behörden Deutschland große Verantwortung und Mitschuld zu. Nicht nur, dass deutsche und französische Behörden diesen politischen Mord nicht verhindert haben. Hinzu kommen die dubiosen Umstände, unter denen der mutmaßliche Täter gestorben ist. Obwohl die französische Staatsanwaltschaft ihre Anklageschrift zum 9. Juli 2015 fertiggestellt hat, wurde der Prozessbeginn erst für Januar 2017 angesetzt. Die französischen Behörden waren sich hierbei des ernsten gesundheitlichen Zustands des Angeklagten bewusst.

Haben sie den Prozessbeginn ständig aufgeschoben, damit der mutmaßliche Täter vor Prozessauftakt verstirbt und dieser politische Mord so nicht aufgeklärt wird? Und welche Rolle spielt hierbei die Ernennung des damaligen türkischen Vize-Geheimdienstleiters als türkischen Botschafter in Paris im Sommer 2015?

Seit drei Jahren kämpfen wir kurdische Frauen für Gerechtigkeit. Jeden Mittwoch demonstrieren wir für die Aufklärung des Massakers von Paris. Wir werden unter keinen Umständen zulassen, dass auch dieser politische Mord in den Aktenschränken in Vergessenheit gerät. Wir werden solange kämpfen, bis alle Dimensionen dieser kaltblütigen Tat aufgeklärt sind und alle Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen sind.

Kein Vergessen, kein Vergeben! Wir fordern Gerechtigkeit!


Informationsdossier zum vierten Jahrestag der Morde an drei kurdischen Politikerinnen in Paris

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