Cemil Bayık, Co-Vorsitzender des Exekutivrats der KCK, über die Entwicklungen in (Nord-Syrien) im Kontext der Rakka-Offensive, 20.08.2017
Rakka ist als die Hauptstadt des sog. Islamischen Staates bekannt. Ähnlich wie bei der Befreiung von Mossul wird auch die vollständige Befreiung Rakkas vom IS lange Zeit in Anspruch nehmen. Jedoch wardie Art des Krieges in Mossul eine andere als die in Rakka. Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) schreiten sehr vorsichtig voran, damit die Zivilbevölkerung in Rakka so wenig Schaden wie möglich nimmt. Eine Annäherungsweise wie in Mossul wäre nicht richtig. In Mossul sind hunderte Zivilisten bei Luftangriffen und Artilleriebeschüssen getötet worden. Aus diesem Grund verhalten sich die Kräfte der SDF in Rakka sehr vorsichtig. Im Irak gab es vielleicht nicht viele Reaktionen. Auch der IS tötet im Irak tagtäglich dutzende von Menschen. In dieser Hinsicht gab es keine sehr lauten Stimmen gegen die Tötung von so vielen Zivilisen durch das Bombardement von Kriegsflugzeugen oder durch die Panzer des irakischen Staates. Auch wenn das Thema in Abständen immer wieder Mal auf die Tagesordnung kam, wurde im Kampf gegen den IS ein Auge zugedrückt. Aber in Rakka gibt es eine andere Situation. Zuallererst gibt es eine andere Herangehensweise und ein anderes Verständnis von Krieg seitens der SDF-Kräfte. Zudem agieren die SDF-Kräfte vorsichtig, da ein solches Vorgehen in Rakka von Seiten der anti-kurdischen Kräfte als schwarze Propaganda genutzt werden würde. So stürzt sich allein die Türkei auf jede nur mögliche negative Schlagzeile, um sie im Sinne der eigenen politischen Interessen auszuschlachten. Es heißt, dass 80% der Kämpfer der SDF in Rakka arabischer Abstammung sind. Viele sind Jugendliche aus Rakka. Deshalb haben sie absolut kein Interesse daran, dass die Stadt in der sie geboren und zusammen mit ihren Familien aufgewachsen sind, im Zuge der Befreiung völlig zerstört wird. Der SDF agiert vorsichtig, damit Rakka bei der Befreiung nicht zu sehr von der Zerstörung heimgesucht wird. Denn vor allem arabische Jugendliche kämpfen in der SDF. Deshalb muss verstanden werden, dass Rakka Schritt für Schritt befreit werden wird.
Es ist offensichtlich, dass nach Kobanê das Schicksal vom IS besiegelt war. Die Türkei hat den IS auf Kobanê gehetzt. Sie hatten die Absicht dadurch die Rojava-Revolution zu ersticken, eine lange Grenzlinie mit dem IS zu haben und hierüber Einfluss über Syrien und den Mittleren Osten auszuüben. Doch dieser Plan wurde in Kobanê durchkreuzt. Die Niederlage in Kobanê war der Anfang vom Ende des IS. Die Niederlage in Mossul ist eine Folge der Niederlage in Kobanê. Auch der Rückzug und das Ende des IS in anderen Gebieten haben mit der Niederlage in Kobanê begonnen. Die wichtigsten Kämpfer haben sie in Kobanê und dem Kampf gegen die Kurden verloren. Der IS ist im gewissen Sinne in die Falle der Türkei geraten. So wie die Türkei versucht hat den IS zu nutzen, um die Rojava-Revolution zu ersticken und über Syrien ihren Einfluss auf den Mittleren Osten auszuweiten, hat der große Schlag gegen den IS auch den Weg für dessen endgültige Niederlage geebnet. In dieser Hinsicht ist es nicht zu erwarten, dass der IS in Syrien wieder kommen kann. Das gilt umso mehr nach den Schlägen der Selbstverteidigungseinheiten von Rojava und der Niederlage in Minbic. Die Niederlage in Rakka ist für den IS unausweichlich.
Ein langer Widerstand des IS in Rakka ist nicht möglich
Der IS hat seine Wurzeln im Irak. Erst später hat er sich auch über Syrien breitgemacht. Doch ihr Zentrum lag im Irak. Dort befanden sich auch ihre Geheimdienstkreise und bestimmte militärische Einheiten aus der Saddam-Ära, von welchen der IS Unterstützung erfuhr. Demzufolge wird sich ihre Organisation nach dem Niedergang in Syrien wohl auch wieder in den Irak zurückziehen. Denn dort liegt ihr Rückzugsgebiet. Deshalb wird der Krieg zwischen dem IS und dem irakischen Staat wohl auch weiter andauern. Auf der anderen Seite werden die Kräfte und verschiedene sunnitische Kreise, die sehen, dass der IS sich in Syrien nicht halten wird, mit der Unterstützung des IS versuchen, sowohl die Schiiten im Irak zu schwächen, als auch den Einfluss des Irans zu brechen.
In Rakka wird der IS jedenfalls nicht lange Widerstand leisten können. In Syrien wird es im Allgemeinen nicht mehr möglich sein, dass der IS, die Al-Nusra Front, die Muslimbrüder oder andere Banden expandieren können. Auch wenn die Türkei nun offensichtlich in Idlib die Al-Nusra Front unterstützt, um die anderen islamistischen Gruppen auszulöschen und dann die Präsenz des syrischen Al-Kaida Ablegers zur Verhandlungsmasse mit dem Iran und Russland zu machen, können wir mit Sicherheit davon ausgehen, dass die islamistische Gruppierungen in Syrien ihren Zenit längst überschritten haben. Das sieht auch die Türkei.
Dennoch versucht die Regierung in Ankara für Chaos in Syrien zu sorgen, um die eigene Position aufzuwerten. Die aktuellen Geschehnisse rund um Idlib sind ohne Zweifel ein Spielchen der Türkei. Dies erkennt wohl auch Syrien, Russland und die USA. Doch während die islamistischen Banden in Syrien eine nach der anderen ihrem Ende entgegen schreitet, wird auch die Türkei zweifelsohne ihren Einfluss auf den Krieg in Syrien einbüßen.
So wird der IS in nicht allzu ferner Zukunft nicht nur in Rakka, sondern auch in Deir ez-Zor untergehen. Die Gruppe wird daraufhin versuchen ihre Existenz im irakisch-syrischen Grenzgebiet verzweifelt aufrechtzuerhalten. Diese Gebiete sind in weiten Teilen Wüste. Der IS wird versuchen, mit den taktischen Vorteilen der Wüste ihr Dasein in den sunnitisch-irakischen Grenzgebieten zu Syrien fortzusetzen. Doch in den großen Metropolen Syriens ist ihr Dasein an einen Endpunkt angelangt. Die Organisation wird also in die Gebiete zurückkehren, in denen sie groß geworden ist. Dort wird sie versuchen, die Unterstützung der Lokalbevölkerung zu erlangen, um ihrem eigenen Ende zu enteilen.
Der zukünftige Charakter von Syrien wird durch die Befreiung von Rakka bestimmt
Die Befreiung von Rakka wird von historischer Bedeutung sein. Denn die Stadt wird nicht nur für die Rojava-Revolution und die Föderation Nordsyrien von großer Bedeutung sein, sondern für die gesamte Zukunft Syrien. Rakka ist eine vornehmliche Stadt und verfügt u.a. über eine kurdische Minderheit. Mit der Befreiung der Stadt wird eine demokratische Verwaltungsstruktur in Rakka das Alltagsleben der Bevölkerung koordinieren. In dieser Verwaltung werden Araber, Kurden und andere gesellschaftliche Teile der Stadt gemeinsam ihre Zukunft in die Hände nehmen. Was hieraus resultieren wird, ist eine Stärkung des arabisch-kurdischen Bündnisses. Dieses Bündnis besteht defacto jetzt schon. Denn die Kurden und Araber im Norden Syrien führen einen gemeinsamen Kampf gegen den IS. Vielleicht klingt das nicht allzu sehr in den Medien durch, aber hunderte arabische junge Menschen sind in diesem Kampf gefallen. Was sich in diesem Kampf herausbildet, ist die gemeinsame Perspektive einer demokratischen Nation, einer demokratisch-konföderalen Selbstverwaltung im Norden Syriens. Die Befreiung von Rakka wird dieses Konzept des gemeinsamen Lebens auf eine neue Ebene tragen.
Auch die anberaumten Wahlen in Nordsyrien werden in diesem Lichte organisiert. Diese Wahlen werden nicht allein in den von Kurden bewohnten Kantonen abgehalten werden. Sie werden in allen Teilen der Föderation Nordsyrien stattfinden. In den kurdischen Kantonen werden die Kurden mit ihrer Identität und ihrer Kultur sich selbst verwalten. In den Gebieten, in denen die Suryoye leben, werden sie sich auf dieselbe Weise selbst verwalten. Und auch in den arabischen Gebieten wird die arabische Bevölkerung aufbauend auf der kommunalen Demokratie ihre Autonomie organisieren. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass es rein arabische oder kurdische Verwaltungseinheiten geben wird. Überall wird sich die dort lebende Bevölkerung in ihrer Pluralität selbst organisieren und selbst verwalten. Es mag sein, dass die Kurden in den Kantonen insgesamt eine Mehrheit bilden. Aber diese rein numerische Mehrheit bedeutet nicht, dass sich die Kurden gegenüber den anderen Gruppen in einer vorherrschenden, hegemonialen befinden werden. Jeder wird überall gleichberechtigt und frei sein.
Rakka wird ein wichtiges Modell sein
Rakka wird in diesem Sinne mit seinen Volksräten und seiner autonomen Verwaltung ein wichtiges Vorbild werden. Rakka wird durch die Menschen von Rakka verwaltet. Wer sind diese Menschen. Es sind Araber, Kurden, Suryoye und andere. Niemand wird von außen kommen und die Leitung über die Stadt übernehmen. Allein die eigene Bevölkerung wird auf demokratischer Basis die Stadt leiten. Auf diese Weise wird es nicht dazu kommen, dass die Mehrheit einer Stadt über die Minderheiten herrscht. Aktuell wird Minbic (Manbidsch) von den Menschen der Stadt selbst verwaltet. Die Mehrheit der Bevölkerung in der Stadt ist arabischer Herkunft. In Rakka wird sich die Bevölkerung auch selbst verwalten. Auch hier wird die Mehrheit aus Araberinnen und Arabern bestehen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die anderen Volksgruppen in der Stadt nichts zu sagen haben werden. Sie werden Teil der Selbstverwaltung sein.
Die Föderation Nordsyriens sieht ohnehin ein System vor, in welchem sich die Städte selbst verwalten. Die Föderation wird also keine zentralistische Struktur sein. Sie wird auf lokalen Autonomien und lokalen Demokratien beruhen. Dieser Charakter der Föderation wird zweifellos auch auf die übrigen Teile Syriens ausstrahlen. Deshalb wird ein zentralstaatlich-hegemoniales Syrien nicht mehr möglich sein. […]
Die vorliegende Analyse ist zuerst am 18.08.2017 unter dem Titel “Geleceği Reqa belirleyecek” in der Yeni Özgür Politika erschienen.