Eine Stadt, die ausgelöscht wurde…

Nurcan Baysal, Nachrichtenportal T24, 04.01.2017

Nach einem Monat mache ich mich wieder auf den Weg nach Şirnex (Şırnak).

Ab dem Ortseingang von Nisebin (Nusaybin) beginnen die Straßenkontrollen. Die Betonklötze, welche die Straßenkontrollen absichern sollen, sind mit türkischen Fahnen bemalt.

Ich besuche zunächst den Ort Dergûl (Kumçatı). Hierher und in die umliegenden Dörfer waren viele Einwohner aus Şirnex nach der Zerstörung ihrer Stadt gezogen. In Dergûl lebten sie in Zelten, bis diese durch die Staatsbediensteten niedergerissen wurden. Ich hatte den Ort bereits besucht, als es die Zelte noch gab. Nun findet man nur noch vereinzelt Zelte.  Die Leute haben nun gemeinsam angefangen kleine Häuser zu errichten. Viele Menschen sind auch bei Bekannten in den Dörfern untergekommen. Wir besuchen auch die Dörfer, um mit einigen Menschen dort ins Gespräch zu kommen. Dann gibt es noch das Camp, das errichtet wurde, als die Êzîden aus Shengal flohen. Nun leben da rund 28 bis 30 Familien aus Şirnex. Eigentlich handelt es sich um die Überreste eines Camps. Denn viele Unterkünfte haben keine Türen, zerbrochene Fenster und manche sogar noch nicht einmal ein ganzes Dach. In diesen Baracken müssen die Menschen den Winter überstehen.

Nach Dergûl reisen wir weiter nach Şirnex. Doch die Weiterreise gestaltet sich schwierig.

Früher begegnete einem am Ortseingang von Şirnex ein Schild, auf dem stand „Şırnak ist eine von 81 Provinzen der Türkischen Republik“. Nun begegnen wir einem Schild, auf dem lediglich steht „Şırnak ist eine türkische Provinz“. Mal schauen, was uns nach diesem Schild begegnet.

Nach Şirnex zu gelangen gleicht der Überquerung der Brücke von as-Sirāt ((As-Sirāt ist eine Brücke im islamischen Glauben, die von den Verstorbenen überquert werden muss, um in das Paradies zu gelangen. Die Brücke ist dünn wie ein Haar und unter ihr befindet sich der Abgrund zur Hölle. Quelle: Wikipedia))

Vor dem Ortseingang bildet sich eine kilometerlange Autoschlage. Auch wir warten geduldig in unserem Fahrzeug. Man kommt nur sehr langsam voran, denn jedes Auto wird detailliert durchsucht. Nach einer halben Stunde beschließen wir wie viele andere Leute auch, den Wagen abzustellen und zu Fuß in die Stadt zu laufen.

Dann kommen wir bei einem weiteren Kontrollpunkt zwischen den Gewerbegebiet und der Universität von Şirnex an. Eigentlich wirkt dieser Ort viel mehr wie ein Grenzübergang zwischen zwei Staaten. Wir kommen auf einem Platz an, der umzäunt ist mit Stacheldraht und Betonblöcken. Es gibt vier Durchgänge an diesem „Grenzübergang“. An jedem Durchgang, an die man sich aufstellen kann, gibt es eine Kotrollkabine. Hier werden die Personen, die in die Stadt wollen, einzeln durchsucht. Die Polizistin, die uns kontrolliert, telefoniert gleichzeitig mit ihrer Mutter. Am Ende sagt sie ihrer Mutter am Hörer, dass sie nun weiterarbeiten muss. Dann erscheint ein zweiter Polizist hinter dem Stacheldraht, dem unsere Ausweise übergeben werden. Er verschwindet wieder, um über Funk unsere Identitäten zu überprüfen und erscheint nach 15 Minuten mit den Ausweisen wieder. Diejenigen, die ihren Ausweis erhalten, wirken erleichtert, weil sie die Prozedur nun endlich überstanden haben und nun den Kontrollübergang passieren dürfen. „Wir haben die Brücke von as-Sirāt überquert“, sagt jemand neben mir.

Da wir unseren Wagen zurückgelassen hatten, mussten wir nun ins Stadtzentrum laufen. Wir versuchen uns bei Laune zu halten, indem wir uns weismachen wollen, dass ein langer Spaziergang uns gut tut. Dennoch ist der Spaziergang nicht sehr angenehm, weil es viel bergauf geht und das Wetter sehr frostig ist. Rechts von uns sehen wir auf einer freien Fläche Unmengen von weggeschmissenen Möbelstücken. Mein Wegbegleiter, ein Freund aus Şirnex, erklärt mir, dass es dabei um Möbelstücke handelt, die aus den Wohnungen der Menschen geplündert und dann verschrottet wurden.

Eine Stadt, die zu 70% zerstört ist

Nach einiger Zeit holt uns ein Bekannter mit seinem Fahrzeug ab. Wir fahren in die zerstörten Teile der Stadt. Rund 70% des Stadtzentrums sind völlig zerstört. Acht von zwölf Stadtteilen der Stadt Şirnex gibt es nicht mehr. Die Orte, an denen ich Mal eingekauft hatte, der Teegarten, an dem ich so gerne mit Freunden zusammensaß…all das gibt es nicht mehr. Bahçelievler, der ehemals größte Stadtbezirk von Şirnex  mit rund 12.000 Einwohnern, ist nun nicht viel mehr als eine ebene Leerfläche. Eine ganze Stadt…einfach wie ausradiert.

Die Zerstörung in Şirnex gleicht nicht den Zerstörungen in den anderen Städten. Cizîr (Cizre), Silopî, Hezex (İdil), Nisebin, Amed-Sur (Diyarbakir-Sur), Gever (Yüksekova)…überall dort ist die Zerstörung nicht so grausam wie in Şirnex. Ich bin aufgrund des Anblicks, der mir hier begegnet, völlig schockiert.

Ich begegne Aycan Irmez, der HDP-Abgeordneten aus Şirnex. Sie spricht von der systematischen Vernichtung einer Stadt. Hier wurde die Ausgangssperre, die am 14. März ausgerufen wurde ganze acht Monate später erst, also am 14. November wieder aufgehoben. Die militärischen Operationen hier waren bereits am 3. Juni zu einem Ende gekommen. In der Zeit danach begann die Zerstörung der Stadt. Der Gouverneur von Şirnex spricht von 2.044 zerstörten Gebäuden in der Stadt. Die HDP-Abgeordnete erklärt mir, dass in der Statistik des Gouverneurs sechs- bis achtstöckige Wohnanlagen als ein zerstörtes Gebäude beziffert werden. Insgesamt seien deshalb rund 10.000 Wohnungen völlig vernichtet worden.

„Am 3. Juni endeten die militärischen Auseinandersetzungen. Vom 3. Juni bis zum 14. November wurden hier Wohnungen und Läden zerstört. Die übrig gebliebenen Möbelstücke wurden wie Siegesbeute verteilt. Die Familien erklärten nach dem 3. Juni, dass sie ihr Eigentum haben wollen. Die Familien stellten hierfür Anträge.  Auf die Anträge wurde geantwortet, dass der Besuch ihrer Wohnung den Familien gestattet werde, wenn diese bereit seien, beim Besuch eine türkische Fahne an die Außenfront ihrer Wohnung zu aufzuhängen. Manchen wurde der Besuch von einer Stunde in der Wohnung gestattet, anderen gerade einmal eine halbe Stunde oder zehn Minuten. Die Menschen haben aufgesammelt, was sie in dieser Zeit aufsammeln konnten. Dann mussten sie ein Protokoll unterzeichnen, dass sie ihr Eigentum entgegengenommen hätten.“