Ezidsche Frauen fordern Anerkennung der Selbstverwaltung

Weltweit wurde am Dienstag mit Kundgebungen an den inzwischen von vielen Ländern anerkannten Genozid an den Ezid:innen in Şengal vom 3. August 2014 erinnert. Vor sieben Jahren waren etwa 7.000 ezidische Frauen und Mädchen durch die Terrormiliz Islamischer Staat entführt und auf Sklavinnenmärkten verkauft, misshandelt und vergewaltigt worden. Rund 2.700 bis 2.800 von ihnen werden bis heute vermisst. Darum muss auch von einem Femizid gesprochen werden.

Verschleppte Jungen wurden zu Selbstmordattentätern ausgebildet. Mindestens 10.000 Menschen wurden Schätzungen nach getötet, über 400.000 aus ihrer Heimat vertrieben.

Dem Aufruf des Ezidischen Frauenrates SMJE im Gedenken an den Femizid und Genozid für fünf Minuten das Leben anzuhalten, sind an vielen Orten Mitglieder der ezidischen Community und ihre Unterstützer:innen nachgekommen.

In Hamburg sprach auf einer Kundgebung des Rojbîn Frauenrates spontan die 19-jährige Ezidin Zîlan, Überlebende der Angriffe vom 3. August. Damals war sie zwölf Jahre alt. Mit brüchiger Stimme berichtete sie über Kinder, die während der Flucht in die Berge verdurstet sind. Sie berichtet, dass ihr Großvater vor ihren Augen ermordet und ihre Cousine und ihre Tante vom IS verschleppt wurden. „Der türkische Staat lässt uns nie in Ruhe. Stellt euch vor, ihr müsst plötzlich alles zurücklassen. Das ist uns passiert, nur weil wir ezidische Kurden sind. Und wir erleben das noch immer, auch in Efrîn und Kobanê. Ich finde keine Antwort auf die Frage nach dem ‚Warum?‘. Ich war erst zwölf Jahre alt und hatte niemandem etwas getan.“

Vielen sind die Bilder ins Gedächtnis gebrannt, wie die damals für die Region zuständigen Peşmerga der Demokratischen Partei Kurdistans – KDP mit ihren schweren Waffen aus der Region abzogen und die Ezid:innen schutzlos zurückließen. Zuvor hatten sie der ezidischen Bevölkerung  sogar mit dem Versprechen sie zu schützen, die Waffen abgenommen.

Die PKK hatte bereits am 28. Juni 2014 nach einem Aufruf Abdullah Öcalans ein zwölfköpfiges Guerillateam zur Verteidigung von Şengal entsandt. Zwanzig Tage vor dem Angriff nahmen die Peşmerga drei Mitglieder der Gruppe und einen ezidischen Unterstützer fest. Die übrigen Guerillakämpfer:innen zogen auf den Şengal-Berg und begannen mit der Organisierungsarbeit der Jugend. Als am 3. August der IS-Angriff begann, verteidigte eine neunköpfige Guerillagruppe, die Zehntausenden auf den Şengal-Berg geflohenen Menschen.

Ezidische Jugendlichen schlossen sich der Verteidigung des Berges an. Nachdem die Guerillagruppe ohne Essen und Trinken mehrere Tage gegen die Angriffe des IS Widerstand geleistet hatte, kamen am 6. August zwei Einheiten der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava den Guerillas zu Hilfe. Gemeinsam richteten sie einen Sicherheitskorridor ein, um die auf den Şengal-Berg geflohenen Ezid:innen nach Rojava zu evakuieren. Über diesen Korridor konnten mit der Zeit mehr als 200.000 Menschen nach Rojava gelangen. So konnte ein noch größeres Massaker verhindert werden.

„Wenn es einem einzigen Dutzend Kämpfern möglich war, diesen Völkermordangriff zu stoppen, hätten tausende ezidische Jugendliche den Überfall auf Şengal selbst abwehren und ihre Gemeinschaft vor dem Völkermord bewahren können. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass dieser Genozid nur geschehen konnte, weil die Ezid:innen damals nicht über eine Selbstverwaltung und eigene Selbstverteidigungskräfte verfügten“, erklärte die Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans (KCK) zum Jahrestag des Angriffs.

Immer noch wohnen Tausende Menschen auf der Hochebene in notdürftigen Zeltstädten. Viele haben Angst, zurück in ihre Dörfer oder Städte zu gehen. In der Tiefebene sollen sich 81 Massengräber befinden, in denen der IS die Leichen zusammengehäuft und mit Erde zugeschüttet hatte. Nur ein einziges wurde bisher geöffnet und DNA-Analysen an den Leichen durchgeführt. Dies stellt für die Überlebenden eine unerträgliche Situation dar. Auch deshalb, weil immer noch unklar ist, wer noch lebt, wer entführt wurde oder verschollen ist und wer in den Massengräbern liegt.  Dies festzustellen gibt es keine Mittel.

Fast 300.000 Ezid:innen leben in Flüchtlingscamps in Başur – auch als KRG (Kurdistan Regional Government) bekannt – unter der Kontrolle der KDP – und Zehntausende in Rojava. Die Rückkehrwilligen erhalten keinerlei Unterstützung. Eher im Gegenteil, sie werden daran gehindert, nach Şengal zurückzukehren, weil es angeblich dort noch nicht sicher sei. Dies wird jedoch vor allem behauptet, weil eine Selbstständigkeit der Ezid:innen nicht erwünscht ist. Es ist offensichtlich das Ziel der KRG und des Irak, dass die Ezid:innen nicht nach Şengal zurückkehren.

In Şengal wurde in den letzen Jahren ein Selbstverwaltungssystem auf der Basis von Frauen und Volksräten aufgebaut, welches das alltägliche Leben organisiert und versucht die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen. Auch das Bildungssystem wird hierüber neu aufgestellt, in den Schulen wird jetzt Kurdisch in lateinischer Schrift unterrichtet. Zum ersten Mal in der Geschichte ist die ezidische Lehre Teil des Schulunterrichts. Die Sicherheit der Bewohner:innen wird von den Asayîş und den ezidischen Selbstverteidigungseinheiten. YBŞ/YJŞ gewährleistet. Basierend auf der demokratischen Selbstbestimmung werden zudem Strukturen geschaffen, mit denen eine Geschlechterbefreiung erreicht werden soll. So sind alle Institutionen mit einer genderparitätischen Doppelspitze besetzt.

Auf Druck  der Türkei hat der Irak im Oktober 2020 bestimmt dass die ezidischen Selbstverteidigungseinheiten und die Selbstverwaltung aufgelöst werden sollen und stattdessen wieder die irakische Armee und die Peşmerga in Şengal für „Sicherheit“ sorgen sollen, genau die, die die Ezid:innen im August 2014 dem Femizid und Genozid überlassen hatten. Die türkische Luftwaffe fliegt immer wieder gezielte Luftangriffe Şengal, mit der Behauptung, die PKK anzugreifen, dabei gab es schon dutzende Tote.

Es ist klar, wenn Şengal nicht verteidigt und autonom verwaltet werden kann, gibt es auch die Ezid:innen als kulturelle Einheit nicht mehr. Denn Şengal ist ihr letztes zusammenhängendes Siedlungsgebiet nachdem 2018 die letzten 26 Dörfer in Afrîn durch die Türkei entvölkert wurden.

Zum Jahrestag des Genozids und Femizids erklärte der Dachverband des Ezidischen Frauenrates SMJE:

„Die Existenz und Freiheit der Ezid:innen ist ein Dorn im Auge Erdoğans und seiner imperialistischen Bestrebungen. Dies zeigt sich in den aktuellen Bedrohungen durch das am 9. Oktober 2020 ausgehandelte Abkommen zwischen der irakischen Regierung und der Regionalregierung Kurdistans (KRG) deutlich.

Der Aufbau eigener demokratischer Selbstverwaltungsstrukturen sowie Verteidigungskräfte sind die Garantie für die Sicherheit und das Fortbestehen der ezidischen Gemeinschaft und Kultur. Allein wir selbst können uns schützen, indem wir uns miteinander solidarisieren und zu einer organisierten Kraft werden. Vor allem als Frauen ist es wichtig, dass wir uns zusammenschließen und uns selbst auf Grundlage unserer eigenen Realität organisieren, um gegen unsere Unterdrückung in allen Lebensbereichen zu kämpfen. Wir wollen ein Leben ohne Gewalt, selbstbestimmt und frei. Daher fordern wir, dass das Selbstbestimmungsrecht der ezidischen Bevölkerung respektiert und anerkannt wird. Es ist an der Zeit, für ein würdevolles Leben“.

Originallink: http://anjaflach.blogsport.eu/

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