Eine Bewertung von Civaka Azad, 08.10.2014
Es herrscht nicht nur Krieg in Kobanê. Seit spätestens gestern herrscht auch Kriegszustand in Nordkurdistan und in der Türkei. Es erreichen uns immer wieder Nachrichten von getöteten Demonstranten. Es scheint als haben sich alle dunklen Kräfte in der Türkei, die in den 90er Jahren den schmutzigen Krieg in Kurdistan geführt hatten, wiedergefunden: Es führen türkischen Soldaten, das türkische Militär, Dorfschützer sowie Mitglieder und Anhänger der radikalislamistischen Hizbullah ((Nicht mit der Hisbollah zu verwechseln, welche im Libanon aktiv ist)) , die als paramilitärische Kraft in den 90er Jahren Terror auf den Straßen Kurdistans verbreitet hat und sich heute als politische Partei mit dem Namen Hüda-Par organisiert, einen gemeinsamen Kampf gegen Kurdinnen und Kurden, die überall auf die Straßen gehen. Es herrscht ein “serhildan” – ein Volksaufstand in Nordkurdistan. Und dieser Volksaufstand wir mit brutalsten Mitteln bekämpft. “Alle gewaltsamen Aktionen werden mit einem Vielfachen vergolten”, hatte gestern der türkische Innenminister Efkan Ala erklärt. Diese Aussagen scheinen ein Befehl gewesen zu sein. Denn seitdem erreichen uns fast stündlich Todesmeldungen. Es herrscht absoluter Ausnahmezustand in den Metropolen Nordkurdistans. In vielen Städten wurden Ausgangssperren verhängt. Die Schulen blieben heute geschlossen. In den Städten Kurdistans sind türkische Soldaten und Militärpanzer aufgezogen. Es herrscht eine Atmosphäre wie bei einem Militärputsch. Das Feuer von Kobanê hat also auf Nordkurdistan übergeschlagen.
Doch wieso gehen die Kurden in der Türkei nochmal auf die Straßen?
Eigentlich liegt die Antwort auf diese Frage auf der Hand. Die Türkei unterstützt den IS mit Waffen und Logistik und will unbedingt, dass Kobanê fällt. Während sie einen vermeintlichen Friedensprozess mit den Kurden in Nordkurdistan führt, führt sie zugleich aber auch einen Stellvertreterkrieg über den IS in Rojava. Dadurch will sie ihre Verhandlungsposition gegenüber den Kurdinnen und Kurden im eigenen Land stärken. Doch sie spielt nicht nur mit dem Feuer, dieses Feuer ist schon längst ausgebrochen; sie hat sich verkalkuliert. Sie hat vielleicht damit gerechnet, dass die Kurdinnen und Kurden im eigenen Land dem Fall Kobanês tatenlos zuschauen. Aber dass das nicht passiert ist, sehen wir seit gestern. Der Widerstand für Kobanê ist nämlich seit spätestens gestern kein Widerstand mehr, der nur allein in Kobanê geführt wird.
Falsche Berichterstattung in den deutschen Medien?
Das ist also der Grund, wieso die Kurden in Nordkurdistan und der Türkei auf die Straßen gehen. Doch merkwürdigerweise haben so gut wie alle Medien in Deutschland eine völlig andere Antwort auf die oben genannte Frage. Die Kurden würden aufgrund der Untätigkeit der Türkei beim Angriff der IS auf Kobanê auf die Straßen gehen, war vielfach heute in den deutschen Medien zu lesen und zu hören. Die Kurden gehen also auf die Straßen, leisten dort Widerstand gegen den türksichen Staatsterror und lassen dabei zu dutzenden ihr Leben, um die Türkei zu einer Militärintervention in Kobanê zu bewegen, lautet die Argumentation dieser Medienorgane. Dieser Argumentationsstrang ist blanker Hohn gegen die Menschen, die seit Tagen auf den Straßen von Nordkurdistan und der Türkei ihr Leben riskieren, um sich mit dem Widerstand von Kobanê zu solidarisieren. Die Menschen gehen nicht auf die Straßen, um die Türkei nach Kobanê zu bewegen. Sie gehen auf die Straßen, damit die Türkei endlich ihr Handeln und ihre schmutzige Politik in Kobanê und in ganz Rojava einstellt.
Vor diesem Hintergrund ist die Medienberichterstattung über Kobanê in Deutschland nicht nur merkwürdig und schlichtweg falsch, sie ist auch äußerst gefährlich. Denn die Türkei möchte seit Anbeginn des syrischen Bürgerkrieges militärisch im Nachbarland intervenieren. Ein wichtiger Grund hierfür sind die Selbstverwaltungsstrukturen der Kurdinnen und Kurden in Rojava. Diese möchte die AKP-Regierung schlichtweg nicht dulden. Deswegen fordert sie eine Pufferzone an der Grenze, für die dann die Türkei Sorge zu tragen hat. So könnte die Türkei nicht nur die Gebiete von Rojava kontrollieren, im besten Falle könnte sie die Region sogar perspektivisch in ihr eigenes Staatsgebiet einverleiben. Denn der syrische Staat ist ohnehin ein failed state und wer kann heute davon ausgehen, dass er in Zukunft mit seinen heutigen Grenzen noch funktionieren kann. So das Kalkül Ankaras. Zur Umsetzung dieser Pläne soll ein Plot generiert werden, bei dem türkische Soldaten kurz nach dem Fall Kobanês – mit dem Erdogan schon früher rechnete – in Rojava einmarschieren und scheinbar die Kurdinnen und Kurden dort retten. Dann treten sie als die Retter vor den Islamisten, die gerade noch in türkischen Krankenhäusern behandelt werden – wie auch Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth im ARD-Morgenmagazin anklagte – auf. Damit wäre aus Sicht der türkischen Regierung sowohl das Kurdenproblem beseitigt als auch der IS zurückgeschlagen, so dass sie sich nur noch auf Assad konzentrieren kann.
Und die heutige Berichterstattung in Teilen der deutschen Medien suggeriert tatsächlich, dass die Kurdinnen und Kurden verzweifelt und aus Wut wegen der Untätigkeit Ankaras in Nordkurdistan und der Türkei auf die Straßen gehen und sich dort Kämpfe mit den türkischen Sicherheitskräften und ihren Helfern leisten. Uns stellt sich die Frage, was die Medien hiermit beabsichtigen wollen? Wenn sie von irgendeinem bedeutenden kurdischen Politiker oder Aktivisten ein Statement oder eine Aussage erhalten haben, die ihre Berichterstattung bestätigt, so sind wir gerne bereit, uns zu entschuldigen und unsere Darstellung der Situation zurückzuziehen. Andernfalls bitten wir, um eine Korrektur dieser falschen Berichterstattung, denn ansonsten müsste man denjenigen Pressevertretern, die an ihrer falschen Darstellung festhalten wollen, böse Absichten unterstellen.
“Sollte die Türkei mit internationaler Unterstützung, denn die ist dafür notwendig, tatsächlich ihre Pläne umsetzen können und in Kobanê einmarschieren, werden die Kurdinnen und Kurden das als eine weitere Besatzung Kurdistans verstehen und ihren Widerstand drastisch erhöhen”, das ist die Antwort, die wir von einem kurdischen Politiker aus Nordkurdistan heute erhalten haben.