Konstellationen und Möglichkeiten für die Zeit nach der Raqqa-Operation

Sinan Cudi, Yeni Özgür Politika, 14.06.2017

Seit dem Kampf um Kobanê, sprich seit Dezember 2014 verliert der IS (Islamischer Staat) bei allen militärischen Operationen in der Vorreiterrolle der Kurd_innen an Boden und Stärke. Der IS erbeutete zuvor schwere Waffen aus den Reihen des irakischen als auch syrischen Regimes und führte somit seit September 2014 einen asymmetrischen Krieg. Gegen Mitte Dezember desselben Jahres nahm der IS die Mehrheit der Stadt Kobanê ein. Trotz dessen begann mit der Gegenoffensive der YPG/YPJ (Volksverteidigungseinheiten bzw. Frauenverteidigungseinheiten Rojavas) der IS an Blut zu verlieren. Dieser Blutverlust hält bis heute kontinuierlich an.

Die anfänglichen militärischen Operationen wurden unter der YPG geführt, später mit den SDF (Demokratische Kräfte Syriens) ausgeweitet, welche allesamt bis dato erfolgreich abgeschlossen wurden. Anders ausgedrückt bis jetzt gab es keine militärischen Operationen der Kurd_innen unter der YPG und SDF, die weder schief gelaufen sind oder nicht vollendet werden konnten. Deswegen erscheint die baldige Befreiung der Stadt Raqqa, welche sich momentan komplett in der Zange befindet, als sehr wahrscheinlich.

Kurz gesagt, die tonangebenden Kräfte im Kampf gegen den IS erhoffen sich mit der Einnahme von Raqqa, jener Terrororganisation einen kräftigen Schlag zu verpassen. Alle Akteure sind sich bewusst, dass mit der Befreiung der Stadt eine große Etappe im Kampf gegen den IS genommen werden kann. Zeitgleich mit dem Voranschreiten der Operation sind auch die Diskussionen bzgl. „der Zeit nach dem IS“ erneut ins Rollen gekommen. Für die bestimmenden Akteure bei der Befreiung von Raqqa wird es deshalb darum gehen, diesen möglicherweise bevorstehenden Etappensieg in die Bahnen von politischen und gesellschaftlichen Errungenschaften zu lenken.

In einer solchen Situation, in welcher die von der IS ausgehende Gefahr – wenn auch nicht gänzlich beseitigt –zumindest deutlich minimiert wird, wird unweigerlich der Nährboden für Auseinandersetzungen zwischen den Akteuren, die konkurrierende langfristige Strategien für die Region haben, geschaffen. Denn viele dieser globalen und regionalen Player tragen ihre latenten Konflikte nicht offen aus, um dem gemeinsamen Kampf gegen den IS keinen Schaden zuzufügen. In einer Zeit nach dem IS würde das bedeuten, dass neue Allianzen, Zusammenarbeiten und Verfeindungen entstehen werden. Der bisherige Stellvertreterkrieg könnte sich zu einem Krieg der Staaten entwickeln. Vor allem der sunnitisch-schiitische Konflikt birgt das Risiko in sich, die ganze Region in einen Krieg zu involvieren.

Für die aktuelle verzwickte politische Situation lassen sich so einige Beispiele aufzählen. Hierfür stellvertretend einige Schlagzeilen: Der Besuch von Trump in Saudi Arabien; der Durchstoß der irakisch-schiitischen Miliz Hashd al-Shaabi bis an die syrische Grenze; der erwartete syrisch/russische Vorstoß auf Idlib und deren Fortschritte in Richtung der irakischen Grenze im Osten; die bewaffneten Auseinandersetzungen an der Grenze von Jordanien zwischen den von den USA und Großbritannien unterstützen Gruppen, dem IS und der syrischen Armee; die steigende Bedrohung seitens des türkischen Staates an der Grenze zu Rojava und der damit verbundene Druck; die Isolation Katars seitens der arabischen Staaten; die Bemühungen der arabischen Staaten die pro-iranischen Länder zu isolieren und letztendlich die Befreiung von Mossul und Raqqa (ja vielleicht sogar eine bevorstehende Deir ez-Zor Operation).

Wie ich bereits zu Anfang schon versucht habe darzustellen, ist das wohl derzeit absehbarste Ereignis in dieser verworrenen Gesamtlage die Befreiung Raqqas von der IS. Mit dem Verlust der Stadt, welche zur Hauptstadt des Kalifats erkoren wurde, und der zeitgleichen Befreiung der Stadt Mossul dürfte der IS in Syrien als auch im Irak in die Position einer wirkungslosen Kraft versetzt werden.

Nach dieser Phase dürfte die Hauptaufgabe der Kurd_innen und der verschiedenen Völker, die sich unter einer gemeinsamen föderalistischen Verwaltung sehen, darin liegen, ihr neues Gesellschaftssystem weiter zu festigen und die dazugehörigen Probleme anzugehen. Eine demokratisch-politische Lösungsperspektive, welche die Möglichkeit einer Beziehung zum syrischen Regime offen hält, bringt auch die Wahrscheinlichkeit mit sich, dass wenn an der bisherigen chauvinistischen Baath-Politik festgehalten wird, es zu unvermeidlichen bewaffneten Auseinandersetzungen kommen kann. Deshalb könnten neben dem Problem der Etablierung des Systems, Vorbereitungen bzgl. einer militärischen Auseinandersetzung mit dem syrischen Regime getroffen werden.

In Anbetracht der anhaltenden Drohungen des türkischen Staates, könnte die südliche Front gegen die IS und die darin investierte Energie in den Norden verlagert werden. Gegen die vom Iran und zum Teil Irak eingesetzte schiitische Hashd al-Shaabi Miliz dürfte eine entschiedene Verteidigungsstrategie gefunden werden.

Kurzum, mit der Eroberung der Stadt Raqqa wird der Untergang der IS eingeleitet. Wenn dann diese befreiten Gebiete in Sicherheit gelangen und in die demokratisch-föderativen Systembemühungen aufgenommen werden, sowie jene föderative Verwaltung internationale Anerkennung genießt, dann kann sich dieses Modell in Syrien als Alternative zum derzeitigen Machtsystem etablieren. Des Öfteren wurde den Repräsentant_innen der Föderation die Teilnahme an den Syrien-Friedensgesprächen in Genf und Astana – die sich angeblich um eine politische Lösung bemühen – mit den verschiedensten Begründungen verwehrt. An dieser Ignoranz gegenüber den kurdischen Akteuren weiter festzuhalten, wir fortan noch schwieriger. Einen derartigen starken Akteur von den politischen Friedensgesprächen fernzuhalten, lässt den Begriff einer „Lösung“ in der Absichtserklärung der Akteure und deren Aufrichtigkeit in einem ganz schlechten Licht erscheinen.

 

Im Original ist die Kolumne am 06.06.2017 unter dem Titel “Olasılıklar mı, kesin doğrular mı?” in der Yeni Özgür Politika erschienen