Interview mit Fewza Yûsif, Kovorsitzende des Exekutivrates der Demokratischen Föderation Nordsyrien, Civaka Azad, 16.02.2017
Können Sie kurz erläutern, was die Demokratische Föderation Nordsyrien ist? Wer ist Teil der Föderation? Welche Gebiete umfasst sie und wird sie über vorbestimmte Grenzen verfügen? Was ist ihr politischer Charakter?
Nach sehr langer Zeit ist es das erste Mal, dass sich auf der Erde Mesopotamiens Volk und gesellschaftliche Gruppen gemeinsam versammeln und einen Gesellschaftsvertrag verfassen und ihre eigene Zukunft selbst bestimmen.
In einer Zeit, in der alles zerstört wird, bauen die gesellschaftlichen Gruppen Nordsyriens etwas auf. Einerseits verteidigen sie sich gegen die unmenschlichen Kräfte wie den Islamischen Staat IS, die Al-Nusra-Front und die Besatzung durch die Türkei und bemühen sich, Orte wie Raqqa zu befreien. Andererseits sind sie täglich dabei, die Grundlagen für ein freies und demokratisches System zu schaffen.
Am 21. Januar war Jahrestag des Aufbaus der Demokratischen Autonomie. Vor drei Jahren wurde unter kurdischer Führung in dem von syrischem Regime, IS und Al-Nusra befreiten Gebiet eine eigene Selbstverwaltung aufgebaut. Trotz aller Versuche, die Selbstverwaltung zu ersticken, wie durch das Embargo und militärische und politische Angriffe, konnten große Fortschritte erzielt werden.
Es wäre nicht falsch zu behaupten, dass „mit einer Nadel ein Brunnen gebohrt“ wurde. Denn mit sehr wenigen Mitteln und Möglichkeiten wurde Beachtliches geschaffen. Hunderte Lehrer*innen wurden ausgebildet, damit jede Person in ihrer Muttersprache Bildung erhalten kann. Die „Universität Rojava“ wurde eröffnet und ebenso wurden dutzende Institute und Akademien organisiert.
Für die Gleichstellung der Frauen wurden besondere Gesetze erlassen. Das System der Kovorsitzenden ist in allen Institutionen verankert. Es ist nicht so, wie die Medien es darstellen, dass die Frauen nur im militärischen Bereich gegen den IS aktiv seien. Die Frauen nehmen in allen gesellschaftlichen Bereichen ihren Platz ein. In der Politik haben sie Positionen an den wichtigsten Stellen. In der Entwicklung von Bildung und Lehre sind 70 % Frauen vertreten. Auch im Bereich der Rechtsprechung organisieren sich Frauen selbst. Sowohl für sie selbst als auch für gesellschaftliche Gruppen ist es nach sehr langer Zeit das erste Mal, dass sie in einem System leben, das ihre Rechte schützt und ihnen den Weg zu ihrer Freiheit ebnet.
In jeder Weise hat in Westkurdistan und Nordsyrien eine Phase der Renaissance begonnen. Heute nach drei Jahren Erfahrung sind die Gebiete Westkurdistans und Nordsyriens dabei, das System der Demokratischen Föderation Nordsyrien aufzubauen. Nach achtmonatigen Gesprächen wurde ein Gesellschaftsvertrag vorbereitet und zwischen dem 27. und dem 29. Dezember 2016 vom Gründungsrat bestätigt.
Das Vertragswerk orientiert sich am Paradigma eines ökologischen und demokratischen Lebens und der Freiheit der Frau. Seine einzelnen Punkte ergänzen sich gegenseitig dabei, die Rechte der Menschen, der Frau und die der gesellschaftlichen Gruppen zu schützen.
Im Gesellschaftsvertrag der Demokratischen Föderation Nordsyrien sind alle Sprachen offiziell anerkannt, alle Religionen kümmern sich selbst frei und gleichberechtigt um ihre eigenen Bedürfnisse, und alle besitzen die gleichen Rechte.
Die Demokratie basiert darauf, ein gemeinsames Leben zu organisieren. Die Todesstrafe ist verboten. Die Wirtschaft soll der Gesellschaft dienen, sich an den Bedürfnissen der Gesellschaft orientieren und auf einer gerechten Verteilung für alle Bewohner*innen beruhen.
40 % der Gewählten werden über die Geschlechterquote bestimmt und alle gesellschaftlichen Gruppen wählen ihre Vertreter*innen in die Räte. Damit auch Jugendliche innerhalb dieses Systems mitreden können, liegt das Mindestalter für das passive wie das aktive Wahlrecht bei 18 Jahren. In dieser Form entscheiden Kurd*innen, Araber*innen, Suryoye, Armenier*innen, Turkmen*innen, Tscherkess*innen und Tschetschen*innen das erste Mal frei und eigenständig über ihr gemeinsames Leben und das ist eine große Revolution gegen die Rassismuskultur der Nationalstaaten. Die Grenzen dieser Föderation sind die aktuellen Grenzen der Gebiete in Nordsyrien, die befreit werden konnten. Da es möglich ist, dass in Zukunft noch weitere Gebiete befreit werden und sie der Föderation beitreten wollen, fanden wir es derzeit nicht richtig, klare Grenzen festzulegen.
Können Sie uns kurz beschreiben, wie der Weg zur Ausrufung der Demokratischen Föderation Nordsyrien verlief? Manche kritisieren, dass im offiziellen Namen der Föderation der Begriff Rojava gestrichen wurde und nun nichts mehr im Titel auf die Kurd*innen hinweise. Können Sie auch dazu kurz etwas sagen?
Das Thema der Namensänderung wurde sehr falsch interpretiert. Sie fand nicht auf irgendwelchen Druck hin statt. Auch nicht, weil wir uns, wie manche sagen, von der kurdischen Sache abwenden oder damit irgendjemand zufriedenstellen wollen. Das Projekt der Föderation steht in engem Bezug zum Begriff der Demokratischen Nation. Es ist also ein System, das alle beteiligten Bevölkerungsgruppen und Identitäten ohne Unterschied mit einbezieht. Unser Projekt orientiert sich nicht am Verständnis von einer einzigen Nation. Weil es in Nordsyrien neben Westkurdistan noch viele andere Regionen gibt, ist ein Name, der sowohl Westkurdistan als auch eben diese anderen Regionen einbezieht, nach unserem Verständnis der richtigere Weg. Entweder hätten wir im Namen der Föderation auch die Namen der anderen Regionen unterbringen oder Rojava streichen müssen. Wir haben gesehen, dass der Begriff Nordsyrien sowohl Rojava als auch die anderen Regionen umfasst und so passen Name und Inhalt des Projektes zusammen.
Zu denen, die meinen, wir würden uns von der kurdischen Sache abwenden: Diese Interpretation ist fern von jeder Realität. Das Projekt entwickelt sich unter der Federführung von Kurd*innen. Gleichzeitig denken wir aber auch, dass nur in einem demokratischen System, in dem alle gesellschaftlichen Gruppen mit ihren demokratischen Rechten ausgestattet sind, auch die Rechte der Kurd*innen garantiert werden können. Wenn wir also den Namen ändern, dann bedeutet das nicht, dass wir sagen, es gibt kein Rojava, sondern wir sagen, Rojava ist eine Region in der Landschaft dieses Projektes. Und so können wir die Rechte der Kurd*innen noch viel eher garantieren.
Trotz gegenteiliger Behauptungen machen Sie klar, dass Ihr Ziel nicht eine Loslösung von Syrien ist, sondern Sie eine Lösung für das gesamte Syrien entwickeln wollen. Wie sieht dieser Lösungsvorschlag aus und welche Rolle wird die Föderation dabei spielen?
Es ist wahr, dass es dazu viele unterschiedliche Äußerungen gibt. Aber wir wollen offen sprechen. Das Projekt bedeutet keine Loslösung von Syrien. Im Gegenteil, es gewährleistet eine Einheit Syriens. Nur eine Einheit auf der Grundlage von Freiheit, Demokratie und gegenseitiger Anerkennung kann auch fortbestehen. Eine Zwangseinheit und auf der Basis von Rassismus, religiösem Fundamentalismus und Sexismus ist eine falsche, künstliche Einheit und täglich mit ihrem eigenen Zerfall konfrontiert.
Das Chaos, das in den Staaten im Mittleren Osten herrscht, ist ein Ergebnis von Rassismus und antidemokratischer Praxis. Deshalb sagen wir, wenn Syrien ein Staat mit vielen gesellschaftlichen Gruppen, Religionen, Sprachen und Kulturen ist, dann braucht es ein System, das seine gesamte Pluralität umfasst. Und das sehen wir im System der Demokratischen Föderation gewährleistet. Sollte also Syrien durch dieses Projekt gespalten werden, dann ist das ein Ergebnis rassistischer, chauvinistischer und antidemokratischer Denkweisen. Warum sollte ein Ort entzweien, an dem Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Frieden herrschen?
Wie waren die regionalen und internationalen Reaktionen auf die Ausrufung der Föderation? Gibt es Gespräche mit dem Regime über deren Anerkennung? Was wurde insgesamt für deren offizielle Anerkennung unternommen?
Kein Staat der Region, außer der Türkei, hat sich dazu verhalten. Es herrscht sozusagen Stille. Niemand wird uns auf internationaler Ebene offiziell mitteilen, dass sie unser System gut finden. Dass es Zustimmung findet, ist ohne Zweifel eine unserer vorrangigsten diplomatischen Aufgaben. Wir bemühen uns im Mittleren Osten und international auf allen Plattformen, Wesen und Inhalte unseres Systems bekannt zu machen und die Zweifel und Fragezeichen in den Köpfen auszuräumen. Wir werden uns insbesondere weiterhin darum bemühen, der Öffentlichkeit bekannt und verständlich zu machen, dass wir ein demokratisches System realisieren und dass dieses System die Einheit Syriens schützen kann.
Wie sehen die nächsten Schritte der Föderation aus? Sind Parlamentswahlen geplant? Wenn ja, für wann?
Aktuell bereiten wir die Wahlen vor. Zuallererst ist ein Wahlrecht notwendig und darüber abzustimmen. Dann beginnen wir mit den konkreten Vorbereitungen. Da die Situation in unseren Gebieten chaotisch ist, haben wir noch keinen genauen Zeitpunkt bestimmen können. Aber wir bemühen uns, dass es nicht zu lange dauert.
In Europa ist das Modell der Demokratischen Autonomie durch ihren radikaldemokratischen Ansatz bekannt geworden. Wie ist in diesem Zusammenhang die Demokratische Föderation Nordsyrien zu werten? Ist es ein Schritt zurück oder wird der radikaldemokratische Ansatz weiterentwickelt?
Die Demokratische Föderation Syrien baut auf der Grundlage der seit drei Jahren bestehenden Demokratischen Autonomie auf. Die Föderation ersetzt nicht das System der Autonomie. Im Gegenteil, die Lokalverwaltungen werden dadurch zuverlässiger, stabiler und noch besser zusammenarbeiten.
Das Allerwichtigste ist, dass der Gesellschaftsvertrag auf dem Willen der Gesellschaft basiert. Die Grundlage des Systems der Demokratischen Föderation Nordsyrien ist das Bestreben, den freien Willen, die Demokratie und die Gleichheit der Gesellschaft hervorzubringen. Deshalb wird der Schritt zur Föderation die Demokratie nicht schwächen. Im Gegenteil, damit sie noch stärker wird, wurde dieser Schritt getan.
Artikel 11 des Gesellschaftsvertrages besagt, dass Erde, Wasser und alle Rohstoffe zur kollektiven Nutzung gedacht sind. Ihre Ausbeutung ist verboten. Was bedeutet das konkret und wie soll dieser Artikel umgesetzt werden?
In der Wirtschaft wollen wir ein System von Kooperativen entwickeln. So soll die gesamte Gesellschaft von der Produktion profitieren. Wir finden es nicht richtig, dass es Monopole in bestimmten Produktzweigen gibt. Deshalb wollen wir ein System auf der Grundlage einer gesellschaftlichen Ökonomie schaffen. So soll die Ausbeutung von Menschen und Arbeit verhindert werden. In jedem Fall sind ökologische Standards, Menschenrechte und die Gesellschaft als Grundlage für entstehende ökonomische Projekte notwendig. Praktiken, die ermöglichen, dass einige wenige alles abgreifen, müssen gesetzlich verhindert werden. Außerdem gehören Wasser und Boden dem Volk. Niemand hat ein Anrecht darauf, Wasser und Land zu verkaufen. Wer hier Projekte entwickeln und aufbauen will, muss entsprechend vorbestimmten Bedingungen handeln. Die Entscheidungen dazu werden von den Volksräten getroffen.
Im Gesellschaftsvertrag ist die Rede vom Recht auf Asyl. Wie viele Geflüchtete haben Zuflucht in Rojava gefunden und wie werden sie unterstützt?
Es gibt zwei Gruppen von Flüchtlingen. Das sind Flüchtlinge, die im Zuge der Befreiungsoperation von Mûsil (Mosul) aus dem Irak geflüchtet sind. Und da sind Flüchtlinge, die aus anderen Städten in Syrien geflüchtet sind. Die Zahl der Flüchtlinge aus dem Irak beträgt 10.000, aus Städten wie Aleppo, Deir ez-Zor, Idlib und Raqqa sind es ca. 150.000.
Natürlich ist das für unsere Region keine einfache Situation. Das Embargo der Türkei und der Autonomen Region Südkurdistan beeinträchtigt unsere Möglichkeiten, den Flüchtlingen zu helfen. Auch internationale Organisationen können keine Hilfe über die Grenze bringen. Das ist eine menschliche Tragödie. Insbesondere im Winter sind die Bedingungen sehr schlecht. Einige Kinder aus Raqqa haben aufgrund der Kälte ihr Leben verloren. Doch trotz alledem bemühen sich die Organisationen aus Rojava zu helfen und leisten Beachtliches.