Aktuell versucht die türkische Regierung etwas, das ihr bereits 2009 nicht gelungen ist. Sie umwirbt ihre internationalen Partner mit Angeboten für eine engere Zusammenarbeit, verspricht im Inland Reformen und vermittelt somit den Eindruck eines demokratischen Neuanfangs. Genau dieselben Versprechen im Jahr 2009 hatten in der Türkei eine massive Verhaftungswelle insbesondere gegen kurdische politische Aktivistinnen und Aktivisten – im Rahmen der sogenannten „KCK-Verfahren“ wurden ca. 10.000 Menschen verhaftet ((https://www.rav.de/publikationen/rav-infobriefe/infobrief-105-2011/anhaltende-repression-in-der-tuerkei-das-kck-verfahren/)) – und eine Verstärkung der Militäroperationen gegen die kurdische Guerilla zur Folge. Ähnliches ist auch für das Jahr 2021 zu erwarten. Darauf weisen verschiedenste aktuelle Entwicklungen hin.
Seit mehreren Wochen werden die Forderungen nach einem Verbot der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in der Türkei immer lauter. Angetrieben von der stramm nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) – Regierungspartnerin der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) – wird die HDP zur Zeit mit Terrorismus gleich gesetzt und gefordert, dem zum Wohle der Türkei ein Ende zu bereiten ((https://www.reuters.com/article/us-turkey-politics-kurds/erdogan-ally-calls-for-turkeys-pro-kurdish-party-to-be-banned-idUSKBN28R1E8)). Weder die Oppositionsparteien wie die Republikanische Volkspartei (CHP) oder Iyi Parti, noch Erdogans AKP machen öffentlich Einwände dagegen geltend. In Verbindung mit der weit verbreiteten Vermutung, dass die für 2023 vorgesehenen Präsidentschaftswahlen in der Türkei vorgezogen werden könnten, lässt sich für die HDP damit in diesem Jahr ein Verbotsverfahren erwarten. Ehemalige AKP-Kader wie Davutoglu – türkischer Außenminister während der erneuten Eskalation des Krieges gegen die kurdische Bevölkerung im Jahr 2015 – und Ali Babacan bringen sich seit geraumer Zeit mit ihren neu gegründeten Parteien in Position. Deren kurdenfreundliche Rhetorik – man kennt sie von Erdogan zu Beginn seiner Amtszeit 2002 – zielt darauf ab, die Leerstelle, die durch ein HDP-Verbot in der politischen Landschaft entstehen würde, bei Neuwahlen zu füllen.
Seit 2019 hat die türkische Regierung in Libyen und um Zypern herum offensive Schritte unternommen, die für die EU und insbesondere ihre Mitgliedstaaten in der Mittelmeerregion eine ernstzunehmende Provokation darstellen. Tausende islamistische Söldner, hunderte türkische Soldaten, schweres Kriegsgerät und Drohnen hat die Türkei nach Libyen verlegt und damit den Krieg dort entscheidend eskalieren lassen. Auch in den Gewässern um Zypern wurde durch den Einsatz türkischer Gas-Erkundungsschiffe begleitet von Kriegsschiffen der türkischen Marine versucht Fakten zu schaffen. Nach anfänglicher Kriegspropaganda und tosenden Drohungen türkischer Regierungsvertreter herrscht mittlerweile ein anderer Ton. Mit Griechenland ist die Türkei nun wieder bereit zu verhandeln ((https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tuerkei-node/maas-ankara/2434154)). Gleichzeitig bemüht sich die Türkei im Streit um die Ausbeutung der Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer Anschluss an ein Bündnis Israels, Griechenlands, Zyperns und der Vereinigten Arabischen Emirate zu finden. Auch hier wird neuerdings also viel von Verhandlungen und Kooperation gesprochen. In Libyen haben all die türkischen Waffen und die eingesetzten Islamisten nicht verhindern können, dass die Türkei insbesondere durch erfolgreiche ägyptische und französische diplomatische Bemühungen heute kein entscheidendes Wort bei der Findung einer politischen Lösung im Land spielt. Dementsprechend leise ist es mittlerweile auch in Bezug auf dieses Thema in den türkischen Palästen geworden.
Es wäre falsch, die aktuelle türkische Charmeoffensive als wirklichen Strategiewechsel zu verstehen. Genauso falsch ist es zu behaupten, die Türkei handelt aufgrund ihrer zahlreichen Provokationen in Libyen, dem Mittelmeer, Armenien oder Nordsyrien aus einer Position der Stärke heraus. Die strategische Agenda der Türkei ist weiterhin die Besetzung des Gebiets von Aleppo bis Kirkuk – und damit die Wiederherstellung alter osmanischer Machtgebiete im Rahmen des Misak-ı Millî (türkisches politische Manifest nach dem Ersten Weltkrieg, mit Ziel der Einverleibung Nordsyriens und des Nordiraks in das Staatsgebiet des damals neu in Entstehung begriffenen türkischen Nationalstaates). Zentral für die Umsetzung dieser Pläne ist die Zerschlagung des Widerstandes der Kurdinnen und Kurden – samt der mit ihnen verbündeten Völker, z.B. in Nord- und Ostsyrien – und ihrer am stärksten organisierten Kraft, der PKK. Da die Türkei sehr wohl weiß, dass sie dazu alleine zu schwach ist, versucht sie aktuell in einer Art verzweifeltem Versuch die dafür notwendige internationale Unterstützung zu gewinnen. Daher auch ihre aktuelle Charmeoffensive. Erdogan, seine Regierung und der türkische Staatsapparat versuchen derzeit mithilfe schöner Worte und praktischer Zugeständnisse in Libyen und dem östlichen Mittelmeer die Unterstützung der EU und der USA für etwas sehr Konkretes zu gewinnen: eine großangelegte Militäroperation in Südkurdistan (Nordirak) noch in diesem Winter/Frühling. Auf regionaler Ebene hat die Türkei dafür die Unterstützung der südkurdischen KDP (Kurdistan Democratic Party). Nach dem jüngsten Besuch des türkischen Verteidigungsministers samt Generalstabschef und dem Chef des Geheimdienstes MIT in Bagdad am 18. Januar ((https://anfdeutsch.com/kurdistan/proturkischer-verband-halt-manover-in-kerkuk-ab-24003)) sieht es so aus, als habe sich die irakische Regierung geweigert grünes Licht für die türkische Besatzung des Nordiraks zu geben. Umso intensiver wird die Türkei in den nächsten Tagen und Wochen um europäische und amerikanische politische und militärische Unterstützung werben. Berlin ist dazu offensichtlich mehr als bereit. Anders lässt sich der Besuch des deutschen Außenministers in Ankara am 18. Januar dieses Jahres nicht verstehen. Und auch das britisch-türkische Freihandelsabkommen, das Ende vergangenen Jahres abgeschlossen wurde, weist auf eine enge zukünftige Kooperation der beiden Länder hin ((https://www.theguardian.com/politics/2020/dec/29/uk-signs-free-trade-agreement-with-turkey)).
Die schönen Worte aus Ankara haben also ein hässliches Ziel: Krieg in Südkurdistan. Dagegen wird sich in der Region selbst ein großer Widerstand entwickeln, der Südkurdistan und den Irak in einen chaotischen Strudel ziehen könnte. Wer das damit verbundene riesige menschliche Leid verhindern möchte und nicht bereit ist, die eigene Regierung an derartigen Verbrechen teilhaben zu lassen, wird handeln müssen. Denn Kriege lassen sich nur führen, wenn die Gesellschaft sie nicht verhindert.