Meral Çiçek, 03.12.2016
Seit einiger Zeit wird spekuliert, die AKP würde mit KDP-Unterstützung einen Angriff auf die Meder Verteidigungsgebiete in Südkurdistan planen. Kurz vor Beginn der Offensive auf Mosul haben sich diese Spekulationen gehäuft. Und seitdem hält sich dieses Thema auf der Agenda.
Zunächst hieß es, Kandil sei das Ziel dieser Besatzungsoperation. Bei Kandil handelt es sich um den Teil innerhalb des von der PKK kontrollierten Meder Verteidigungsgebiets, welches die größte Distanz zur Grenze zu Nordkurdistan bzw. der türkischen Staatsgrenze hat. Die Grenze zum Iran wiederum ist nicht weit. Der nächste Punkt zur kolonialistischen türkischen Staatsgrenze ist über 100 km Luftlinie entfernt. Das heißt schon allein aufgrund der Distanz ist es keine leichte Sache, eine Besatzungsoperation in Kandil durchzuführen. Aber lasst uns die Entfernung Kandils zur türkischen Staatsgrenze mal beiseite legen und auf das eigentliche Problem schauen: Ein Staat, der den größten Teil Kurdistans kolonialisiert und besetzt und einen genozidalen Krieg gegen diejenigen, die dagegen Widerstand leisten, führt, versucht jetzt diesen Krieg auf einen anderen Teil Kurdistans auszuweiten.
Seit fast eineinhalb Jahren wird Südkurdistan ständig von türkischen Kriegsflugzeugen bombardiert. Ich wundere mich, ob iranische oder irakische Streitkräfte in der Vergangenheit Südkurdistan jemals so stark bombardiert haben wie die türkische AKP. Bei mindestens zwei dieser von der KDP erlaubten Luftangriffen sind bisher auch Peschmergakämpfer der KDP getötet worden.
Kommen wir wieder zurück an den Anfang: Obwohl am Anfang immer von Kandil als Ziel dieser Angriffspläne gesprochen wurde, wird jetzt plötzlich von Kandil UND Sindschar/Schengal geredet. Der AKP-Führer Erdogan höchstpersönlich hat vor etwa einem Monat erklärt: “Sindschar ist auf dem Weg ein neues Kandil zu werden. Deshalb werden wir Sindschar nicht tolerieren, denn dort befindet sich die PKK”. Kurz danach hat Devlet Bahceli, Chef der ultranationalistischen MHP, die mit der AKP eine nationale faschistische Einheitsfront gebildet hat, die kolonialistische Geisteshaltung des türkischen Staats offen zu Ausdruck gebracht: “Die Türkei verfügt über die Ausdauer, die Verräter, die versuchen sich in Sindschar zu stationieren, auch auf irakischem Boden zu verfolgen und zu beseitigen. Ob wir uns in Gefahr befinden oder nicht, wir haben das Recht, die türkische Fahne in Kandil oder Sindschar zu hissen.”
Am Dienstag hat der türkische Nationale Sicherheitsrat getagt. Am Abend wurden die Ergebnisse verkündet. In der Erklärung heißt es, “es wurde unterstrichen, dass Strukturen der PKK-PYD-YPG und anderen Terrororganisationen im Norden Syriens und der Region Sindschar im Irak auf keine Weise erlaubt werden und wenn nötig, jegliche Möglichkeiten gegen sie genutzt werden.” Weiter heißt es, man sei in dieser Sache “zu jeglicher Kooperation” mit den Kräften in der Region bereit. Damit sind die Pläne für eine türkische Militäroperation in Sindschar jetzt offiziell.
Wenn man diese Aussagen des Nationalen Sicherheitsrats vor Augen hält, erscheint der Türkeibesuch des Premierministers der kurdischen Autonomieregierung im Nordirak, Nechirvan Barzani, letzte Woche in einem neuem Licht. Während seinem 1 Stunde und 40 Minuten dauernden Gesprächs mit dem türkischen Präsidenten Erdogan und dem Geheimdienstchef Hakan Fidan wurde auch über Sindschar gesprochen. Das zeigt, dass die bei diesem Gespräch besprochenen Punkte auf der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats beschlossen worden sind.
Die Frage ist an dieser Stelle, warum die AKP seit einem Monat “plötzlich” eine Militäroffensive gegen Sindschar auf ihre Agenda gesetzt hat. Kann man dies nur mit Feindschaft gegen die PKK begründen?
Ich denke nicht. Eine Bewertung dieser Pläne unabhängig von den Entwicklungen in der Region wäre unvollständig. Gehen wir einige Schritte zurück. Kurz vor der Offensive zur Befreiung von Mossul hieß es, die Widerstandskräfte von Schengal (kurz: YBŞ) würden an der Offensive teilnehmen. Bei der YBŞ handelt es sich um Selbstverteidigungseinheiten, die aus Êziden aus Schengal bestehen und deren Heimat vom Islamischen Staat besetzt worden ist. Aber hinterher muss es zu einer externen Intervention gekommen sein. Man sollte diese Intervention aber nicht nur auf die Türkei zurückzuführen sein.
Im letzten Monat haben die YBŞ und die Fraueneinheiten aus Schengal (YJŞ) dann eine Offensive auf vom IS besetzte Dörfer im Süden Schengals gestartet. Diese Offensive hat innerhalb von kurzer Zeit ihr Ziel erreicht. Genau zu dem Zeitpunkt haben schiitische Kräfte in Tal Afar, welches zwischen Mosul und Schengal liegt und über strategische Bedeutung verfügt, eine Offensive gegen den IS gestartet. All dies geschah zu einem Zeitpunkt, in dem die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) ihre Offensive zur Befreiung der IS-Hochburg Raqqa begonnen haben. Das heißt, in dem Gebiet zwischen Raqqa und Tal Afar finden Entwicklungen statt, die neue Möglichkeiten für Schengal eröffnen.
Man sollte die Pläne der AKP für einen Angriff auf Schengal in diesem Zusammenhang bewerten. Es soll also verhindert werden, dass die Linie der freien Kurden in dieser geopolitischen Gesichtswinkel neue Gewinne erzielt.