Der lange Marsch der Êzîden

Sengal_göcIsmail Eskin für Özgür Gündem, 13.08.2014

Wir verfolgen die kleinen Fußspuren êzidischer Kinder, die sie Barfuß hinterlassen haben. Während die Kinder, die geboren werden, ihre Namen auf der Flucht bekommen, rufen die Alten, die die Hitze nicht mehr aushalten „Ey Tausî Melek, Oh Engelspfau“. Durst, Hitze und Verrat vervollständigen den schweren Weg der Vertreibung des êzîdische Volkes. Die Schreie der Kinder nach Wasser, bringen den Himmel zum Beben. „Sie haben den Beschluss zu unserem Genozid gefasst“ sagt die alte Frau. Keinen Tropfen Milch mehr hat eine andere in ihren Brüsten, vergeblich versucht sie, ihr Baby zu stillen. In den Augen der Kinder sammeln sich keine Tränen sondern Staub. Und die Geschichte öffnet noch einen weiteren Tag der Tragödie. Die Flucht der Êzîden vor einem stillen Holocaust zieht in die Geschichte.

Die Geschichte wird die Flucht der Êzîden vor den brutalen Angriffen der IS-Terroristen festhalten, einen Weg von 40 Kilometern. Die Nachrichtenagentur Dicle begleitet diese beispiellose Flucht, um diese in die Öffentlichkeit zu tragen.

Eine Wüste, scheinbar ohne Anfang und Ende, bezeugt den Marsch Zehntausender

Das êzîdische Volk musste ihre Heimat, ihre Wohnungen und ihre Geschichte in Şengal aufgeben. Şengal wurde durch die Terroristen des IS besetzt. Die, die jetzt den Sicherheitskorridor der Volksverteidigungseinheiten (YPG) nutzen, um zum Kanton Cizîre nach Rojava/Nordsyrien zu gelangen, sind Kinder und Alte, die sich vorm Massaker retten konnten, nur einige wenige Habseligkeiten tragen sie mit sich. Die bei 55° Celsius hungrig, durstig und Barfuß laufenden Êzîden können Aufgrund des vielen Staubs ihre Augen kaum öffnen. Während schwangere Frauen ihre Kinder gebären, bleiben die Neugeborenen ohne Namen. Alte, deren Fußsohlen aufgrund der Hitze aufplatzen, erleiden in der unerträglichen Hitze immer wieder Schwächeanfälle.

Während des Marsches ist die drastische Hitze, die Wüste, der Durst und Hunger, der Verrat in den Ohren präsent. Wenn die Frage „Was ist in Şengal passiert?“ gestellt wird, können die Menschen nicht einmal Antworten, die Tränen fangen an zu laufen. Die ersten Sätze der Êzîden, deren Kehlen vollkommen ausgetrocknet und voller Staub sind, lauten, „Sie haben uns allein gelassen, sie sind geflohen“. Mit der Flucht der KDP-Peshmerge, die zeitgleich mit den Angriffen des IS erfolgte, machten sich auch Araber auf die „Jagd auf Êzîden“. Sie äußern, dass alle nur darauf gewartet haben, um sie zu massakrieren.

Die Alten, von denen öfters die Wörter „Oh Engelspfau“ zu hören war, machten darauf Aufmerksam, dass in den Bergen von Şengal eine hohe Zahl an Menschen vor Durst und Hunger gestorben sind, und diese Berge stark nach Verwesung riechen. Die Êzîden, die sich immer noch nicht im klaren sind, was gerade mit ihnen geschieht, machen darauf Aufmerksam, dass ihre Töchter in den Händen der IS-Banden sind und die Älteren massakriert wurden. Ihre Rettung aus den Şengal-Bergen wurde von den YPG angeführt. Die Volksverteidigungseinheiten konnten ihre Ermordungen in den Şengal-Bergen mit ihrem Einsatz verhindern.

Ihre kleinen nackten Füße laufen in der Wüste!

In Gruppen gehen wir mit ihnen gemeinsam, mehr oder weniger sicher, die Berge hinunter, und der stundenlange Marsch zeigt, wie ernst die Lage ist. Bisher sind mehr als Hunderttausende diesen langen Weg gegangen, doch die Kinder, die mit ihren nackten Füßen auf dem brennenden Sand der Wüste laufen, hören nicht auf zu weinen – selbst wenn keine Tränen mehr aus den völlig ausgetrockneten Augen fließen können. Selbst das Wasser in den kleinen Flaschen erreicht unter der brennenden Hitze den Siedepunkt, doch es ist die einzige Quelle zum Überleben. Die êzîdischen Gruppen werden überwiegend von Kinder gebildet, die ihre Eltern verloren haben. Zur Hilfe eilen Fahrzeuge aus dem Kanton Ciziré, jedoch sind sie auf dem Weg, verursacht durch den sandigen Wind, nicht lange einsetzbar. Uns fallen immer wieder die vielen verlassenen Fahrzeuge auf, deren Motoren versagten. Aufgrund des langen anstrengenden Weges, lassen die Êzîden sogar das wenige zurück, was sie bei sich tragen konnten. Diese zurückgelassenen Kleiderstücke dienen auch den ihnen folgenden, dass sie sich nicht verlaufen, andererseits sind sie Zeugnis der sich abspielenden Tragödie. Wir nehmen besonders die kleinen, nackten Fußspuren der Kinder in dem Wüstensand auf. Uns fallen auf dem nicht enden wollenden Weg ein Paar Stiefel auf, sie gehören einem Jungen, dessen Füße darin verbrannten. Die Müdigkeit und der Durst wird unerträglich, sodass Schreie von allen Seiten zu hören sind: „Gebt uns etwas Wasser.“

“Wir werden nie vergessen, was uns angetan wurde“

Auf dem Weg voller Verzweiflung kommen Krankheiten auf. Vor allem Kinder und ältere Frauen sind von dem Mangel an Wasser und dem vielen Sand erheblich betroffen und verlieren ihr Bewusstsein. Vor allem das Leiden der schwangeren Frauen, wogegen man machtlos ist, demotiviert alle. Auf dem Weg kommen Sandstürme auf und die Hilferufe werden immer lauter, plötzlich hören wir einen Helikopter, was für mehr Bewegung und Aufsehen sorgt. Doch dann stellen wir fest, dass er vom TV-Sender Rudaw, der die Weltmedien mit falschen Nachrichten über uns manipuliert, ist. Mit ihren Aufnahmen von uns werden sie die Nachricht verbreiten: Die Peshmerger rettet die Êzîden vor den IS-Terrorbanden. Doch die YPG war es, die zum Schutz der Êzîden Verteidigungskräfte nach Şengal geschickt hat und verhindert hat, dass es in den umliegenden arabischen Dörfern zu Angriffen kommt. Sie haben versucht, die Menschen auf der Flucht soweit wie möglich mit Wasser zu versorgen.

Das Marschieren wird durch die brennende Sonne um die Mittagszeit unerträglich. Die Münder sind ausgetrocknet, so dass sie kaum noch einen Ton rausbringen können. Und doch schreit plötzlich einer: „Wir werden diese Zeit nicht vergessen. Unsere Kinder und Enkelkinder werden uns rächen. Nicht wir sind Ungläubige, sie sind es.“ Dann sieht ein anderer unsere Kameras und beginnt auf Arabisch, Kurdisch und Englisch zu reden. Er will, dass die Weltöffentlichkeit diese brutale Realität erkennt.

„Sie haben den Beschluss zu unserem Genozid gefasst“

Obwohl die Menschen auf dem langen Marsch nur noch sehr schwer ein Wort herausbekommen können, betonen sie, dass die PKK ihnen zur Hilfe geeilt ist und sagen: „Wenn es die Apocu‘s nicht gebe, wären wir alle tot! Wir haben die HPG und YPG um Hilfe gebeten, und sie kamen.“

Eine ältere Frau sagt: „Sie haben den Beschluss zu unserem Genozid gefasst. Was soll ich sagen, Gott sieht alles.“

Die Mütter schützen ihre Kleinen vor den Sandstürmen

Ein LKW mit Wasser nähert sich uns. Er kommt von der Regierung des Kantons Cizîre aus Rojava; viele können gerettet werden, die kurz vor dem Verdursten sind. Wir erreichen Dörfer, die von den Widerstandstruppen aus Şengal bewacht werden und suchen uns zum Ausruhen Plätze im Schatten. Wir bekommen die Möglichkeit, eine Kleinigkeit zu essen. Das Erreichen des Dorfes bedeutet aber nicht, dass alles zu Ende ist, wir am Ziel sind. Dies ist nur eine Pause, denn wir haben bisher nur die Hälfte des Weges geschafft. Einige Fahrzeuge kommen, um Kranke, Alte, Schwangere und Kinder in das zentrale Gebiet zu transportieren.

Durch den Sandsturm werden sogar das Atmen zur Qual und das Sehen erschwert. Die Mütter tragen ihre Babys vor der Brust und schützen mit Tüchern ihre Gesichter vor dem feinen Sand. Während dutzende Menschen auf die Pickups steigen, obwohl nur für wenige Platz ist, fallen ältere Frauen in Ohnmacht.

Mit seiner Frau ist er den Widerstandstruppen beigetreten!

Auf der Reise begegnen wir der Familie Isa, deren Geschichte erwähnenswert ist. Hamre Isa war bei den Polizeikräften der KDP in Hewler. Doch nach den Vorfällen in Şengal geht er zurück in sein Dorf. Zusammen mit seiner Frau schließt er sich der Flucht an. Als sie in einem Dorf angekommen, wo YPG-Kräfte stationiert sind, äußert er ihren Wunsch, sich mit seiner Frau der YPG anzuschließen. Uns fällt auf, dass sie den Sohn seines ermordeten Bruders wie ihre eigenes Kind beschützen. Sie selbst haben keine Kinder. Obwohl die YPG´ler ihnen widersprechen, hören sie nicht auf sie und sagen: „Wir müssen Şengal von diesen Barbaren zurückerobern. Wir haben alles zurückgelassen. Wir haben nichts zu verlieren.“ Der ehemalige Polizist und seine Frau nehmen die Waffe in die Hand und betonen, dass sie zurück nach Şengal kehren werden, um zu kämpfen.

Die Bevölkerung in Rojava empfängt die Êzîden mit Brot und Wasser

Unsere Reise endet in Ceza, das sich an der Grenze zu dem Kanton Cizîre befindet. Hier haben sich viele Êzîden versammelt und werden von der Bevölkerung Rojavas mit Brot und Wasser empfangen. Hunderte öffentliche Verkehrsmittel warten startbereit, so dass die Êzîden die Gelegenheit als Verschnaufpause nutzen können. Viele werden in den Zelten des Kurdischen Roten Halbmondes (Heyva Sor a Kurdistane) medizinisch versorgt. Wir bekommen mit, dass viele schwangere Frauen in den Zelten ihr Kind auf die Welt bringen.

Einige konnten auch ihr Kleinvieh retten, das wir hier nun sehen können. Die Tiere werden an sichere Orte gebracht, wo Hirten auf sie achten.

Das êzîdische Volk erlebt die größte Katastrophe des Jahrhunderts, über dessen Zukunft der Widerstand in Şengal entscheiden wird. Die Flucht zehntausender Menschen in der Wüste geht weiter.

Sie organisieren sich mit der PKK

Um ihr heiliges Land wieder zurückzuerobern, haben sich êzîdische Jugendliche der YPG angeschlossen. Sie sagen, dass der Krieg nicht zu Ende ist und sie Şengal von der Belagerung befreien werden. Die Jugendlichen haben zunächst ihre Familien in sichere Gebiete gebracht und begeben sich auf eine neue Reise, um sich den Einheiten der HPG und YPG in den Bergen von Şengal anzuschließen. Das êzîdische Volk wurde oft mit traurigen und tragischen Geschichten konfrontiert und lebte oft am Rande von Massakern. Mit der Hilfe der PKK und den Verteidigungskräften hat sie die Möglichkeit sich zu organisieren, damit solche Vorfälle sich nicht wiederholen können.

Die 40 km lange Flucht des êzîdischen Volkes vor einem Völkermord hat kein Ende. In der Geschichte der Menschheit wird der Völkermord an den Êzîden nicht wirklich dokumentiert, die voller tragischer Ereignisse ist. Die Spuren der erzwungenen Migration lassen wir hinter uns. Die kleinen Abdrücke nackter Füße von kleinen blonden kurdischen Kindern in der Wüste zeigen die Realität in den Augen der Kinder und erzählen ihre Botschaft.

Özgür Gündem, 13.08.2013, ISKU