Die militärischen Auseinandersetzungen verschärfen sich! Anti-IS- oder Anti-Rojava-Koalition!?

koMako Qoçgirî, Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., 19.09.2014

Eigentlich fährt der Zug seine ganz gewöhnliche Route entlang der türkisch-syrischen Grenze. Doch dann kommt es zu einem unerwarteten Zwischenstopp an einem Ort, an dem es keine Station gibt und wo normalerweise nicht gehalten wird. Es steigen einige Personen aus dem Zug, dutzende Kartons und Kisten werden von ihnen entladen. Dann steigen alle wieder ein, und der Zug fährt einfach weiter, so als sei nichts Außergewöhnliches geschehen. Auf der anderen Seite der Grenze, also in Syrien, genau dort wo der Zug außerplanmäßig gestoppt hatte, liegt das Dorf Silîb Qeran, nahe der Stadt Girê Spî (auf arab. Til Abyad), die unter der Kontrolle des sogenannten Islamischen Staates (IS) steht. Und eben von Silîb Qeran aus spazieren Mitglieder des IS in aller Seelenruhe über die Grenze in die Türkei, holen die dort für sie abgeladenen Kisten und Kartons ab und kehren wieder zurück nach Syrien.
Dieser Vorfall ereignete sich in der Nacht vom 15. auf den 16. September und ist nur der jüngste Beweis dafür, wie die Türkei die Organisation IS unterstützt, wenn diese in den Kampf gegen Rojava zieht.

Derzeit versuchen westliche Staaten unter der Vorhut der USA eine Anti-IS-Koalition zu schmieden. Hierzu sollen neben den arabischen Staaten auch die Türkei mit ins Boot geholt werden. Doch die Türkei lenkt nur sehr zaghaft und unter vielfachen Vorbehalten ein. Sie verweist auf ihre vom IS entführten Konsulatsmitarbeiter, die Mitte Juni bei der Einnahme der nordirakischen Stadt Mosul vom Islamischen Staat verschleppt wurden. Doch vor dem Hintergrund der anhaltenden Unterstützung, welche die Türkei dem IS leistet, liegt der Verdacht nahe, dass die entführten Konsulatsmitarbeiter nicht viel mehr als einen willkommenen Vorwand für die türkische Regierung darstellen.

Denn wie oben beschrieben, bleibt es nicht bloß bei einem zaghaften Verhalten der Türkei im Kampf gegen den IS. Die türkische Regierung unterstützt weiterhin mehr oder minder offenkundig den Islamischen Staat und das nicht nur im Kampf gegen Rojava. In den vergangenen Tagen gelangte eine weitere brisante Meldung an die Öffentlichkeit. So soll die Türkei ein wichtiger Abnehmer für das vom Islamischen Staat geförderte Öl aus der Region Deir ez-Zor und ar-Raqqa, zwei der wichtigsten Gebiete des IS im Norden Syriens, sein. Über Umwege durch Gebiete, die von der Al-Nusra-Front und der Islamischen-Front kontrolliert werden, gelangt das Öl in die türkische Grenzstadt Altınözü in der Provinz Hatay. Dort soll das Erdöl auf dem Schwarzmarkt für 1,25 Lira (umgerechnet 0,44 Euro) verkauft werden. Somit unterstützt die Türkei den Islamischen Staat nicht nur, indem sie als Transitland für Islamisten fungiert, verletzte IS-Kämpfer behandelt, Logistik und Waffen zur Verfügung stellt – das alles war bislang schon ein offenes Geheimnis –, sie ist auch ein wichtiger Öl-Abnehmer und somit Finanzgeber des sogenannten Islamischen Staates. Diese Unterstützung lässt sich kaum über den Verweis auf die entführten Konsulatsmitarbeiter in Mosul erklären.

Seit dem 15. September hat der Islamische Staat erneut zu einem Großangriff auf den Kanton Kobanê angesetzt. Mit Panzern und schweren Waffen greifen die Islamisten von allen Seiten die Stadt an, während die Verteidigungseinheiten der YPG und YPJ mit ihren vergleichsweise einfachen Mitteln einen großen Widerstand leisten. Die Bevölkerung aus Nordkurdistan (Südost-Türkei) versammelt sich seit zwei Tagen an der Grenze zu Kobanê in Pîrsûs (Suruç/Urfa), um ihre Solidarität mit dem Widerstand von Kobanê Ausdruck zu verleihen. Dutzende kurdische Jugendliche aus Nordkurdistan wollen sich dem bewaffneten Widerstand von Kobanê anschließen und versuchen die Grenze zu überqueren. Und während die heftigen Kämpfe jenseits der Grenze an fünf Punkten fortdauern, greift das türkische Militär die demonstrierende Bevölkerung auf der anderen Seite der Grenze an. Der türkische Ministerpräsident Davutoğlu hat seinen Gouverneuren entlang der türkisch-syrischen Grenze den unmissverständlichen Befehl ausgegeben, dass die Grenzen geschlossen bleiben. Das gilt auch für die Menschen aus den Dörfern von Kobanê, die aufgrund der bewaffneten Auseinandersetzungen ihre Häuser verlassen mussten und über die Grenze zur Türkei zu flüchten versuchen.

Die Praxis der türkischen Regierung zeigt, dass sie dieser Tage erneut Krieg führt gegen die kurdische Bevölkerung. Sie führt diesen Krieg über den Islamischen Staat in Rojava. Damit avanciert die AKP-Regierung zu einem der wichtigsten Partner des IS in der Region, während sie den westlichen Staaten Ausflüchte und Ausreden liefert, weshalb sie nur bedingt Teil einer Anti-IS-Koalition sein kann. Doch auch die vermeintliche Anti-IS-Koalition schweigt zu den aktuellen Angriffen auf Kobanê. Während der Aufschrei über die Massaker und Gebietsgewinne des IS groß war, verschließt man die Augen vor den Angriffen derselben Organisation auf Rojava. Das verwundert allerdings nicht besonders, wenn man bedenkt, dass das Erstarken des IS in Syrien von denselben Staaten lange geduldet und über Umwege teilweise auch unterstützt worden ist. Erst als sich das Monster, dessen Erstarken maßgeblich mitunterstützt worden war, gegen die eigenen Interessen im Irak wendete, kam es zum Aufschrei und zu Appellen für einen internationalen Kampf gegen den IS. Die Türkei hingegen hält weiterhin an ihrer Praxis im Umgang mit den Islamischen Staat fest.