Großes Potenzial der kommunalen Selbstverwaltung für die Zukunft

Ramazan Mendanlioglu im Gespräch über seine Feldforschung in Nordsyrien, 18.02.2019

Ramazan Mendanlioglu, geboren in Nordkurdistan (Südosttürkei), floh 1994 nach Deutschland. Hier studierte er Sozialökonomie mit Schwerpunkt Soziologie. Aktuell promoviert er mit einem Stipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung an der Universität Hamburg zum Thema »Geschlechtergerechtigkeit und direktdemokratische Selbstverwaltung im Spannungsfeld von Zielsetzung und Alltagspraxis. Eine empirische Studie in der Rojava-Region Nordsyriens«. Von April bis Oktober 2018 besuchte er Nordsyrien/Rojava, um Feldforschung vor Ort zu betreiben. Im Folgenden veröffentlichen wir ein Gespräch der Redaktion des Kurdistan Report mit Ramazan Mendanlioglu.

Hallo Ramazan, du warst von April bis Oktober 2018 in Nordsyrien, um Feldforschung zu betreiben. Kannst du uns von deinem Promotionsprojekt berichten? Was hast du dort geforscht?

Seit dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs finden in Nordsyrien tiefgreifende gesellschaftliche, soziale und politische Umbrüche statt. Anfang 2014 wurde dort die in ihrem Anspruch basisdemokratisch und geschlechtergerecht konstituierte und orientierte »Demokratische Autonomie« ausgerufen. Natürlich ist das Gelingen dieser neuen Gesellschaftsordnung entscheidend davon abhängig, ob und wie die gesellschaftlichen Akteure diese in ihrer Alltagspraxis mitgestalten und -tragen. Ich wollte der empirischen Frage nachgehen, wie das direktdemokratische Projekt der Selbstverwaltung und die Geschlechtergerechtigkeit im Spannungsfeld von (theoretischer) Zielsetzung und konkreter Alltagspraxis funktionieren. Damit zusammenhängend stellt sich die Frage, wie sich die soziopolitischen Umwälzungen auf die Einstellungen und das alltagspraktische Handeln verschiedener Gruppen von Akteuren auswirken und welche Rückwirkungen dies umgekehrt auf die sozialen Strukturen hat. Welche der auf Tradition beruhenden normativen und kulturellen Strukturen, Deutungs- und Handlungsmuster verändern sich in diesem Prozess, welche widerstehen aber auch möglicherweise der Veränderung? Gibt es geschlechterbezogene Unterschiede im Umgang mit den neuen Verhältnissen? Welche Einflüsse und Wirkungen haben die fraueneigenen Strukturen und die angestrebte Geschlechtergerechtigkeit auf die Einstellungen und Handlungspraxis von Männern und Frauen? Wie funktionieren die Entscheidungsfindungsprozesse und realisieren sich diese? Auf Basis qualitativ-sozialwissenschaftlicher Methodologie und Forschung wollte ich diese Fragen im Rahmen eines mehrmonatigen Feldaufenthalts in Amûdê in Nordsyrien/Rojava angehen, weshalb ich dann im Sommer dort war und diverse Daten erhoben habe.

Und wie lief es mit der Datenerhebung, welche konkreten Daten und Erfahrungen hast du sammeln bzw. machen können?

Zunächst einmal möchte ich sagen, dass es oft in der Geschichte in verschiedenen räumlich-zeitlichen Kontexten Erfahrungen und Versuche mit selbstverwalteten, in Räten oder kommunal organisierten gesellschaftlichen Phasen gab, z. B. in Paris, Spanien, Italien, Deutschland oder Russland. Mit der Rojava-Revolution, die bereits mehrere Jahre andauert, haben wir aber das erste Mal die Möglichkeit, tiefer gehende bzw. qualitativ-empirische Forschung über soziopolitische und -kulturelle Fragen zu betreiben. Dabei ist sehr wichtig, nicht an der Oberfläche oder journalistisch zu bleiben, sondern dahin zu schauen, was eine umfangreiche selbstverwaltete gesellschaftliche Ordnung mit den Menschen macht bzw. wie die Menschen eine solche gesellschaftliche Realität in ihrem Alltag herstellen. Uns wird seit vielen Zeiten und Generationen vermittelt, dass Herrschaft und insbesondere zentralistisch-staatliche Herrschaft eine unüberwindbare Notwendigkeit sei für die Gewährleistung der öffentlichen Verwaltung und Sicherheit. In Nordsyrien wackelt diese scheinbare Wahrheit und wir können diverse Daten über diesen Prozess erheben und analysieren, wie sich die organisierte Selbstverwaltung der verschiedenen Gesellschaften in Nordsyrien mit den gesamten Implikationen gestaltet. Meine Motivation und mein wissenschaftliches Interesse gehen dabei über meinen kurdischen Hintergrund hinaus. Es ist sozusagen der Versuch, die dortigen Entwicklungen für die lösungsorientierte Diskussion der politischen Facette der globalen Krise fruchtbar zu machen. Auch oder vor allem auf dem Feld der Wissenschaft muss eine intensive Auseinandersetzung mit diesem historischen Projekt, das eine globale Bedeutung hat, stattfinden.

Für meine Forschung interessant war insbesondere der Alltag der Aktiven, der diversen Akteure in den verschiedenen gesellschaftlichen Organisationen wie z. B. den Kommunen und Räten oder den fraueneigenen Strukturen. Sowohl die sozialen Strukturen als auch das Handeln der Akteure und damit einhergehend der wechselseitige Einfluss von Struktur und Handeln sind im Hinblick auf »Wandel«, »Emanzipation« oder »Demokratie« von großem Interesse für mich gewesen. Gegenstand der Untersuchung waren auch seit der Revolution bereits entfaltete Wirkungen. Insgesamt ist der institutionelle und soziopolitische Alltag der Menschen in den Selbstverwaltungsstrukturen aus wissenschaftlicher Sicht ein neues Phänomen. Wo die meisten Menschen im syrischen Staat nur das familiäre Leben selbst gestalten konnten, weil alle anderen gesellschaftlichen Angelegenheiten von oder mit einem zentralen staatlichen Organ hierarchisch geregelt wurden, impliziert die Demokratische Autonomie in Nordsyrien die umfangreiche rechtliche, ökonomische und politische Selbstverwaltung.

Zu den konkreten Daten: Ich habe mehrere Komîngeh (Lokalität einer oder mehrere Kommunen) über mehrere Monate teilnehmend beobachtet. Auch den Stadtrat von Amûdê und die Tätigkeit seiner diversen Kommissionen durfte ich mehrere Wochen teilnehmend beobachten. Ferner habe ich für 15 Tage an einem Bildungsprogramm einer der »Akademien der demokratischen Gesellschaft« teilgenommen, um zu sehen, welche Werte und Normen den TeilnehmerInnen, die meistens in den gesellschaftlichen Organisationen aktiv sind, vermittelt werden, um davon anschließend abzuleiten, welche normative Ordnung gesamtgesellschaftlich forciert wird.

Eine Gesellschaft, auch die Gesellschaft einer Stadt, umfasst immer mehrere verschiedene Akteursgruppen. Von daher habe ich qualitative Interviews mit den Aktiven in den Kommunen, Frauen und Männern, den RepräsentantInnen in den Räten oder Frauenorganisationen, den transnationalen AktivistInnen, verschiedenen ExpertInnen (KaderInnen, Intellektuelle) oder mit BürgerInnen geführt.

Die Interviews zusammen mit den protokollierten Beobachtungen in den diversen Sphären und Institutionen sowie meine persönliche Erfahrung im Alltag von Amûdê ergeben insgesamt eine recht dichte und vielfältige Datenmenge, die es jetzt methodisch gesichert, d. h. intersubjektiv nachvollziehbar zu analysieren gilt. Insgesamt bin ich mit der Datenerhebungsphase in Amûdê sehr zufrieden.

Kannst du uns ein persönliches Zwischenfazit bzw. einen kurzen Einblick in deine Erfahrung und Beobachtungen der Alltagspraxis geben?

In Amûdê, und dies gilt für alle Städte in Nordsyrien, steht das vertikal-horizontal aufgestellte und sehr dynamische Gerüst der Selbstverwaltung mit ihren vielfältigen Strukturen und der Kommune als Basis der Selbstorganisierung. Das Ganze kann als ein dynamisch-organischer Komplex gesehen werden, der sowohl Prozesse von unten nach oben als auch andersrum vornimmt – bei gleichzeitiger horizontaler Verlinkung der verschiedenen Einheiten. Man muss wissen, in Nordsyrien trifft ein sehr emanzipatorisches und aktiv-dynamisches Modell auf eine über Generationen soziopolitisch sehr passiv und unterdrückt gehaltene sowie patriarchal-tribalistische Gesellschaft. Dieses Aufeinandertreffen kann als etwas Gegensätzliches betrachtet werden, was meiner Meinung nach eine Fehleinschätzung ist, oder darin kann ein Potenzial erkannt werden, in dem sich beide Realitäten einander fügen, sich aneinander reiben und so für Progression sorgen. Sind die ideellen Perspektiven und Weichenstellungen egalitär, libertär und undogmatisch, dann eröffnen sich perspektivisch große Möglichkeiten. Und diese Entwicklung, die parallel zum Krieg und der Krise in der Region stattfindet, braucht konsequenterweise viel Arbeitsaufwand, Zeitdauer und Bildungsprozesse. Der Aspekt der Bildung und der damit verbundene Bruch des in der Region stark verankerten dogmatischen Denkens, bei gleichzeitiger Stärkung des analytischen Denkens, sind meiner Auffassung nach zusammen die eigentliche revolutionäre Herausforderung. Daher gibt es so viele Bildungsprogramme, Akademien und weitere Maßnahmen, die die zentralen Werte und Normen des Demokratischen Konföderalismus vermitteln und eine geistige Veränderung bewirken sollen, die wiederum das Handeln, also die Soziokultur prägt.

Direktdemokratie – Selbstverwaltung

Eine kurze Zwischenbilanz über die Kommune: Sie ist das Zentrum der gesellschaftlichen Organisierung und Verwaltung. In ihr werden zwei Typen von Prozessen vollzogen. Zum einen sind das praktische oder verwaltungstechnische Dinge: Die Kommune regelt die Verteilung von Gas, Öl oder Hilfsgütern an Bedürftige. Ferner werden alle institutionell-bürokratischen Angelegenheiten über die Kommune geregelt. Will man oder frau in der jeweiligen Kommune heiraten, eine Wohnung erwerben oder ein Haus ausbauen, einen Ausweis erstellen oder das Kind einschulen, dann läuft das alles über die Kommune. Über sie werden die jeweiligen Dokumente eingebracht und die weiteren institutionellen Wege eröffnet.

Der zweite Typ betrifft eher die sozialen, rechtlichen oder allgemein-gesellschaftlichen Belange: Jede Kommune hat diverse Komitees, z. B. für soziale Streitigkeiten, Bildung, Gesundheit, Verteidigung. Die Aktiven gehen in die Familien und Haushalte, fragen nach ihrer Situation und veranstalten regelmäßig Volkssitzungen. Das Ziel einer jeden Kommune ist es, wie eine autarke Kleinstadt zu werden: Selbstverwaltung, Selbstversorgung, Selbstverteidigung. Es ist noch ein weiter Weg bis dahin.

Diverses Rechtssystem – Dezentralisierung des Rechts

Auf den Themenkomplex »Recht in Nordsyrien« möchte ich kurz eingehen: In Rojava basiert das Rechtssystem sowohl auf positivem Recht als auch auf anderen Rechtsformen, z. B. lebendem oder Gewohnheitsrecht. Die Basis soll, soweit es ihr gelingt, ihre sozialen und rechtlichen Konflikte mittels lebendem Recht und den diesbezüglich organisierten Friedens- oder Mediationskommissionen selbst regulieren, regeln. Gerichte und Gesetze existieren zwar, aber nur als letzte Instanz, wenn die vorherigen Instrumente die Fälle nicht lösen konnten.

In der Kommune und auch in der Stadt werden die meisten sozialen oder rechtlichen Streitigkeiten von den Friedens- oder Mediationskommissionen der Kommunen und des Stadtrats gelöst. In Amûdê kamen im Jahr 2017 von 160 Fällen nur drei vor ein Gericht. Im ganzen Gebiet Cizîrê, was auch Qamişlo und Hesekê umfasst, wurden 70 Prozent der registrierten Rechtskonflikte von den Friedenskomitees und -räten gelöst, wohingegen die restlichen 30 Prozent vor Gerichten und mittels Gesetz gelöst werden mussten. Das ist sehr interessant, weil es zwei sehr unterschiedliche Herangehensweisen an Konflikte sind, die beide den Gegenstand »Gerechtigkeit« verschieden oder mit unterschiedlichem Erfolg bedienen. Die Logik der Gerichte bzw. des Gesetzesrechts, den Rechthabenden oder Schuldigen eines Konfliktfalls zu bestimmen, ist in den restlichen rechtlichen Strukturen nicht vorhanden, dort soll vor allem lebendes Recht mittels beidseitiger Übereinkunft der Konfliktparteien greifen. Die dortige Logik ist, den Fall so zu lösen, dass beide Seiten damit d’accord sind. Und dabei kann man sehr kreativ sein. In einem Fall z. B. hat eine Person mit ihrem Gläubiger ihre Geldschulden mit der baldigen Ernte seiner Zwiebeln zu bezahlen vereinbart. Sobald die Zwiebeln zur Ernte bereit sind, werden sie gemeinsam den Prozess bis zum Verkauf abwickeln und die Schulden begleichen. Die Idee hatten die beiden selbst, das Friedenskomitee sollte das nur schriftlich festhalten. In Nordsyrien existiert also einerseits ein vielfältiges Rechtssystem, zum anderen findet dort – wie auch das Politische oder das Wissen betreffend – eine Dezentralisierung (des Rechts) statt.

Neuer Alltag, neue Praktiken

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Menschen, von denen die meisten seit mehr als fünf Jahren ohne Aufwandsentschädigung und freiwillig die gesellschaftliche Arbeit machen, erkennen, wie viel Freiheit sie erlangt haben und wie wichtig die revolutionären Errungenschaften sind. Trotz der vielen Schwierigkeiten und knappen Ressourcen halten sie an ihrer Arbeit und ihren Institutionen fest. Sie erkennen meines Erachtens die Potenziale der kommunalen Selbstverwaltung für die Zukunft. Die meisten der Aktiven leben ein in vieler Hinsicht neues Leben, das wesentlich sozialer und selbstbestimmter ist als das Leben vor der Revolution. Anhand vieler Biografien, insbesondere der von Frauen, können die unzähligen einzelnen Aspekte des Neuen und des Wandels nachgezeichnet werden, die im komplexen Zusammenspiel mit anderen Vorgängen ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ausmachen.

Was beim Komplex »Selbstverwaltung« kaum erwähnt wird, aber eine essentielle Neuheit ausmacht, ist, dass die dezentralen Prozesse in den öffentlich-politischen Strukturen von und mit Alltagsmenschen aus der Nachbar- und Bekanntschaft in einer Alltagssprache vollzogen werden. Das bedeutet die Vergegenständlichung von Dezentralität und die Veralltäglichung der zuvor rein staatlich-elitären Phänomene und Praktiken. Genau das passiert, wenn zum Beispiel der jahrelange Nachbar plötzlich in der Kommune aktiv ist und ich als Welatî (Bürger) der Kommune zu ihm gehe und in einer nachbarschaftlichen Atmosphäre sowie in einer von uns beiden gebrauchten Alltagssprache meine öffentlich-politischen Angelegenheiten regele.

Beide Typen der grundlegenden Tätigkeiten der Kommune zusammen gedacht ergibt ein Ganzes, das sich sowohl materiell als auch immateriell selbst verwaltet.

Geschlechtergerechtigkeit

Neben der Demokratiefrage ist der zweite zentrale Teil meiner Forschungsfrage die Geschlechtergerechtigkeit bzw. die Frauenfrage, die beide auch im Demokratischen Konföderalismus bzw. bei Öcalan abhängig aneinander gekoppelt sind. Hinsichtlich der Emanzipation und Gleichstellung der Frauen finden in allen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere aber in der politischen und öffentlichen Sphäre enorme Brüche, Transformationen und Neuheiten statt. Die Partizipation und Präsenz der Frauen in den gesellschaftspolitischen Strukturen ist enorm. Allein das Konzept des Ko-Vorsitzes katapultiert die Frau von der patriarchal-traditionalistischen Diskriminierung in eine paritätische Position im Politischen. Jede Kommune zum Beispiel hat auch eine Frauenkommune, allgemein gibt es in fast allen Bereichen eine autonome fraueneigene Selbstorganisierung. Insgesamt bilden die Frauen in den Strukturen der Selbstverwaltung sogar die größere Kraft, da sie sowohl eigene Strukturen haben als auch in den gemischten Strukturen vertreten sind. Die Frauen in den gemischten Strukturen sind mit den Frauenorganisationen durch regelmäßige Sitzungen und Berichterstattung verbunden, so dass beide Entitäten zusammen eine starke Rolle und Bedeutung der Frauen in der öffentlich-politischen Sphäre generieren. Dass sich die Frauen autonom organisieren können und sollen, ist eine Leitidee und die gesellschaftliche Akzeptanz, und der Wille zur Verwirklichung dieser Idee ist sehr stark, insbesondere seitens der Frauen; ein Phänomen, das auch als eine Entfesselung demokratischer und feministischer Energie betrachtet werden kann. In Nordsyrien ist eindeutig zu sehen, dass versucht wird, mit dem Patriarchat zu brechen. Und dieser Bruch findet sowohl auf der Subjekt-Ebene als auch in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen statt. In der konkreten gesellschaftlichen Arbeit in der Kommune äußert sich das z. B. durch das steigende Selbstwertgefühl, die Selbstermächtigung und die Entwicklung einer Frauenidentität bei den weiblichen Aktiven. Eine Ko-Vorsitzende erzählte beispielsweise – und das ist durchaus ein Muster, das ich bereits nennen kann –, dass sie vor der Revolution fast nur zuhause war. Seit sie in der Kommune aktiv ist, sei sie in der Stadt unterwegs und im Stadtviertel bekannt. Man grüße sie, frage sie nach bestimmten Dingen. Sie macht also im Prozess des Aktivseins Veränderungen auf der Bewusstseinsebene und im Sozialen durch, und das stärkt vor allem ihr Selbstvertrauen. Solche Vorgänge wirken sich natürlich auf die Männer in der Gesellschaft und der familiären Sphäre aus.

Politische Revolution der Frauen im Öffentlichen eröffnet Möglichkeiten zur Veränderung jahrtausendealter patriarchaler Grenzziehungen

Natürlich bestehen noch starke traditionelle und patriarchale Logiken, Muster und Verhältnisse, vor allem in den Familien und im Bewusstsein vieler Menschen, nicht nur der Männer. Patriarchale Moralvorstellungen sind noch grundlegend für die Menschen. Arrangierte Heiraten oder das nahöstliche Namus-Konzept, welches die Ehre der Familie, insbesondere des Mannes, essentiell an den Körper der Frauen bindet, sind sehr stark verbreitet. Viele Liebesbeziehungen zwischen jugendlichen Paaren spielen sich im Geheimen ab. Hier muss eindeutig zwischen den unterschiedlichen Verhältnissen in der politisch-öffentlichen einerseits und der familiären Sphäre differenziert werden. Perspektivisch kann gesagt werden, dass durch die feministischen Entwicklungen im Politischen die Frauen künftig die jahrtausendealten patriarchalisch-religiösen moralischen Vorstellungen und Grenzziehungen mit dem anderen Geschlecht neu und gleichberechtigt verhandeln können, bzw. dieser Verhandlungsprozess hat bereits seit langem begonnen.

Du bist nun seit Oktober 2018 wieder in Deutschland. Wie ist deine Meinung rückblickend, wie ist es, wieder hier zu sein, und welche nächsten Schritte wirst du unternehmen?

Ich forsche ja nicht nur zu dem Thema, sondern der Themenkomplex gehört auch zu meiner Biografie und meiner politischen Arbeit hier in Deutschland. Der Forschungsaufenthalt hat mich in meiner Solidarität und persönlichen wie politischen Haltung und Überzeugung gestärkt, weil ich gesehen habe, dass die dortigen Geschehnisse trotz aller Schwierigkeiten und Widersprüche bzgl. Demokratisierung und Geschlechtergerechtigkeit bereits vieles vorangetrieben und weiterhin großes Potenzial für die Zukunft haben. Abgesehen davon, dass das Modell der Demokratischen Autonomie aus friedenspolitischer Sicht und als Modell der gerechten Lösung der kurdischen Frage, dessen Betroffene auch meine Familie und ich sind, eine realistische Option darstellt. Insofern bin ich froh, dass ich gestützt vom Willen zum Frieden und der Gleichberechtigung in der Region in der kommenden Zeit mich auf dem Feld der Wissenschaft mit den gesellschaftlichen Entwicklungen in Nordsyrien beschäftigen und einen Beitrag leisten kann.

Im Original erschien der Artikel im Kurdistan Report – Januar/Februar 2019.