Öcalan und Bakunin: Eine unvollständige Diskussion

Carlos Pazmiño, Call for papers von der dritten Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern«, Kurdistan Report Juli/August 2017

Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung des zweiten Kapitels aus meiner MSc-Thesis in Soziologie »Desmantelar al Estado. Elementos para entender la transición teórico-práctica del Partido de los Trabajadores del Kurdistán (PKK) hacia el Confederalismo democrático« (»Den Staat demontieren. Elemente für das Verständnis des theoretisch-praktischen Wandels der PKK zum Demokratischen Konföderalismus«). Sie stellt vielleicht eine der ersten akademischen Arbeiten in Lateinamerika zur kurdischen Frage dar und wird voraussichtlich in den nächsten Monaten veröffentlicht.

Der vorliegende Artikel wird die Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Abdullah Öcalans (Vorsitzender der PKK und der kurdischen Freiheitsbewegung) und Michail Bakunins (einer der bedeutendsten anarchistischen Theoretiker und linke Führungspersönlichkeit des 19. Jahrhunderts) Bezug auf revolutionäre Taktiken und die Ursprünge des Staates diskutieren. Es wird um Gemeinsamkeiten und Unterschiede gehen, die heutzutage wichtige Ideen für ein besseres Verständnis des Staates, revolutionäre Taktiken, politische Organisierung und die Rolle des revolutionären Subjekts liefern; mit einem speziellen Fokus auf die Frauenbefreiung. Daher wirft dieser Beitrag wichtige Fragen auf – die meisten von ihnen von linken Theoretikern und Bewegungen vergessen oder unterschätzt –, um die Revolution im 21. Jahrhundert zu denken (Pazmiño 2017a).

Bekanntlich wurde Bakunin nach seinem Rauswurf aus der 1. Internationalen Arbeitervereinigung vergessen und seine Ideen wurden als »pure Ideologie« verurteilt. Vor und nach dem Fall der UdSSR [Sowjetunion] wurde seine Kritik der Ursprünge des Staates und des marxistischen Staatsglaubens immer wieder aufgegriffen. Seine Voraussagen wurden bestätigt und von der Pariser Kommune bis zur russischen Revolution zeigte sich, dass ein sozialistischer Staat nicht die Lösung für den Aufbau einer libertären und demokratischen Gesellschaft ist (Price [2007] 2012). In unserer Zeit hatte Öcalan bereits vor seiner Evolution vom Marxismus-Leninismus zum Demokratischen Konföderalismus eine ähnliche Kritik am Staat wie Bakunin (Pazmiño 2017b). Sowohl Bakunin als auch Öcalan (2016a) entwickelten zu unterschiedlichen Zeiten eine sehr ähnliche Theorie über die Ursprünge des Staates. Sie argumentierten, sein Ursprung sei nicht ökonomischer, sondern »ideologischer« Natur, und stellten den Staat als eine »religiöse Institution« dar, die autoritär, dominant und patriarchal sei.

Öcalan ging sogar noch weiter als Bakunin und verortete die Diskussion über den Ursprung des Staates in der Unterdrückung der Frau. Wir können sagen, dass er auf diese Weise Bakunins Staatstheorie vervollständigt und weiterführt (Pazmiño 2017b). Seine Analyse über den Ursprung des Staates führt dazu, dass er mit dem sogenannten Demokratischen Konföderalismus eine neue Taktik entwickelt (Öcalan 2012). Während der Marxismus fordert, den Staat zu erobern und durch Anarchismus abzuschaffen, beabsichtigt Öcalan ihn von der Basis bis zur Spitze Stück für Stück zu zerlegen, bis »die Macht« angesichts einer organisierten Gesellschaft zu einem Ende kommt. Das revolutionäre Subjekt ist nicht das Proletariat, sondern es sind die Frauen. Sie erfüllen keine »revolutionäre Rolle«, sondern sind selbst die Revolution (Di Battista 2016). In dieser Hinsicht vollendete Öcalans Werk die große Diskussion über den Ursprung des Staates und über revolutionäre Taktiken nach mehr als 150 Jahren seit der Gründung der 1. Internationalen Arbeitervereinigung.

Der Staat, eine religiöse Institution

Bakunin argumentierte, der Staat sei entstanden, als in den »primitiven Gemeinschaften« Magier/Schamanen oder »Gottmenschen« begannen, die Gemeinschaften mit einem mythologischen Konzept zu beeinflussen, das das Unbekannte erklärt und, wie Öcalan sagt, die »natürliche Solidarität« des kommunalen Lebens zerstört. Der »transzendentale Geist« der Menschen versuchte die Phänomene der Natur zu erklären und ihm wurden zugleich göttliche Eigenschaften zugesprochen. Magier/Schamanen erlangten eine göttliche Dimension auf Erden, da sie das Göttliche offenbarten und eine Verbindung zu Gott darstellten (Bakunin [1953] 1978a).

Auf diese Art organisiert sich der Staat als Opfer des kommunalen Lebens, die Verwehrung von Freiheit und die Unterdrückung/Ausbeutung der Gesellschaft basierend auf einem göttlichen Argument: der Allmacht des Staates über die Gesellschaft (Bakunin [1953] 1978a). Als die sozialen Beziehungen im Laufe der Geschichte komplexer wurden, gewannen der Staat und der Glaube an seine Notwendigkeit Eigenschaften, die sogar noch religiöser anmuteten als die den »Gottmenschen« zugeschriebenen.

Der theoretische Vorschlag Öcalans geht deutlich weiter als der Bakunins (Pazmiño 2017b). Obwohl Öcalan die Idee vom religiösen Ursprung des Staates teilt, fügt er mit der auf einer religiös-ideologischen Grundlage basierenden Unterdrückung der Frau durch den Mann ein weiteres Element hinzu. Es ist nicht nur die Bildung von »Kult-Gesellschaften« im abstrakten Sinne, was die Entstehung des Staates ermöglicht, sondern auch die Unterdrückung der Frau und ihre Reduzierung auf häusliche Tätigkeiten in der Gemeinschaft (Öcalan 2010, 2013, 2016). Folglich ist der Staat eine patriarchale Institution. Dies ist zweifellos der wichtigste Beitrag Öcalans im Hinblick auf Bakunin. Er theoretisiert ein Subjekt, durch dessen Unterwerfung der Staat entstand (es handelt sich nicht um die Gesellschaft als Ganzes, wie Bakunin sagen würde). Die Gesellschaft wird unterdrückt und ausgebeutet, weil die Frau laut Öcalan zuerst unterdrückt und ausgebeutet wurde (2013). Dadurch wird der Frau eine Bedeutung zugesprochen, die sie zur Subjekt-Antithese des Staates erhebt, wie wir später sehen werden.

Die Antithese zum Staat und die Flamme der Revolution: die Befreiung der Frau

In der klassischen sozialistischen Tradition von Bakunin bis Marx, aber auch in der orthodox-marxistischen Phase Abdullah Öcalans und der PKK galt das Proletariat als revolutionäres Subjekt (Pazmiño 2017b). In dieser klassischen Analyse umfasste dieses Subjekt alle Widersprüche und Antagonismen der produzierenden Klasse im Kapitalismus, wodurch der ökonomische Kampf über allen anderen stand. Sie nahmen an, dass die Globalisierung des Kapitalismus auch die Globalisierung des Proletariats in allen Ländern der Welt zur Folge haben würde: Doch wurde weder der Kapitalismus noch das Proletariat auf die gleiche Art in allen Ländern reproduziert.

Im Laufe der Zeit verlor das zunehmend prekäre Proletariat seine Macht als selbstbestimmtes universelles Subjekt. Dadurch traten die ernsthaften theoretischen Probleme zutage, die mit diesem revolutionären Subjekt par excellence verbunden waren. An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass Bakunins und Marx‘ Klassentheorie keineswegs ihre Bedeutung verloren hat. Vielmehr sollte sie als ein komplexes System formaler und nichtformaler Arbeit, von ideologischen, ökonomischen und Geschlechterbeziehungen neben anderen verstanden werden.

Der Verdienst Öcalans besteht darin, Frauen als besonderem Subjekt ihren richtigen Platz verschafft zu haben. In seinen Schriften stellt er konkrete Überlegungen an zu den Widersprüchen und Antagonismen organisierter Gesellschaften im Hinblick auf Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung. Laut Öcalan bedeutete die Unterdrückung der Frau nicht nur den Beginn ihres Unglücks, sondern des Unglücks der ganzen Menschheit (Öcalan 2013).

Es ist wichtig, drei wesentliche Ideen in Öcalans Theorie hervorzuheben:

Erstens, Öcalan schafft, wissentlich oder nicht, aus einer feministischen Perspektive heraus eine Theorie zur Entstehung des Staates. Zweitens, Frauen werden zur Antithese zum Staat, zum revolutionären Subjekt, da ihre Unterdrückung den Ursprung des Staates darstellt. Drittens, die taktische Dimension des Demokratischen Konföderalismus, auf der Grundlage der Befreiung der Gesellschaft durch die Befreiung der Frau, kann nicht die Gründung eines neuen Staates zum Ziel haben, da dies einen theoretischen und ideologischen Widerspruch bedeuten würde (Pazmiño 2017b).

In diesem Sinne stellt Öcalan nicht nur eine Alternative zur Diskussion linker und feministischer Bewegungen über das historische Subjekt bereit. Er hinterfragt auch das Patriarchat, das historisch in der Linken fortbestand und dazu führte, dass die Befreiung der Frau in den Hintergrund geriet.

Revolutionäre Partei oder politisch-soziale Bewegung?

Im Gegensatz zum orthodoxen Marxismus wies Bakunin der revolutionären Partei die Rolle der »Hebamme der Revolution« zu. Die Partei, so Bakunin, solle nicht die Revolution anführen, sondern sich mit dem Volk mitbewegen, das der Hauptakteur sei (Bakunin 2014). Auf der anderen Seite ist die Partei im Marxismus die Kraft, die anführt. Zugleich wird sie im Falle der Machtergreifung zu einem kleinen Proto-Staat, der die Geburt des entstehenden proletarischen Staates herbeiführt.

Die Transformation der Ideen Öcalans und der PKK geht im Hinblick auf die Parteistruktur eine Art Dialog mit Bakunins Ideen ein. Die PKK hat sich von einem klassischen marxistisch-leninistischen Apparat zu einer transnationalen und grenzübergreifenden sozialen Bewegung entwickelt. Obwohl ihre politische Struktur weiter fortbesteht, hat sie ermöglicht, dass eine starke soziale Bewegung in großem Umfang entsteht. Indem sie nicht auf die Entstehung eines kurdischen Staates setzt, bricht sie mit dem klassischen Verhalten marxistisch-leninistischer Parteien und wird somit zu dem, was oben bereits erläutert wurde (Pazmiño 2017b). Wenn tausende Kurden in der Türkei auf die Straße gehen und rufen »Die PKK ist das Volk und das Volk ist hier«, lässt sich dieses Phänomen noch besser verstehen.

Wie beschrieben sind die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Bakunin und Öcalan wichtig. Ihre Analyse bietet Material, um bisher ungelöste Fragen der linken Kämpfe zu beantworten. Die Vorschläge Öcalans zur Entstehung des Staates, der Frauenbefreiung und der Rolle der Partei stellen brillante Elemente dar, um revolutionäre Theorie und Revolution im 21. Jahrhundert zu denken. Die Auseinandersetzung mit diesen Ideen muss theoretische und militante Anstrengungen umfassen, um eine bessere Gesellschaft in ihrem jeweiligen Kontext aufzubauen.

 

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Carlos Pazmiño (1987, Ecuador) forscht zur kurdischen Frage aus einer lateinamerikanischen Sicht.
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Literatur:

Arias, Hugo. 1980. Evolución socioeconómica del Ecuador. Sociedades primitivas y período colonial. Quito: UCE.

Bakunin, Mijaíl. [1953] 1978a. Mijaíl Bakunin. Escritos de filosofía política. Volumen I, edited by G.P. Maximoff. Madrid: Alianza.

Bakunin, Mijaíl. [1953] 1978b. Escritos de filosofía política. Volumen II, edited by G.P. Maximoff. Madrid: Alianza.

Bakunin, Mijaíl. 2014. Carta a Nechayev. Santiago de Chile: Pensamiento y Batalla.

Di Battista, Soledad. 2016. En Kurdistán la mujer no tiene un ‘rol’ en la revolución: es la revolución. http://kurdistanamericalatina.org/en-kurdistan-la-mujer-no-tiene-un-rol-en-la-revolucion-es-la-revolucion/

Dirik, Dilar. 2015a. Dilar Dirik Interviewed by Jonas Staal. Living Without Approval. In New World Academy Reader #5: Stateless Democracy, edited by Renée In der Maur, Jonas Staal, Dilar Dirik, 27–58. Holanda: BAK.

Dirik, Dilar. 2015b. Kurdish Women’s Radical Self-Defense: Armed and Political. http://www.telesurtv.net/english/opinion/Kurdish-Womens-Radical-Self-Defense-Armed-and-Political-20150707-0002.html.

José María. S/f. Evolución y cambio en la clase trabajadora. http://iceautogestion.org/index.php?option=com_content&view=article&id=540%3Aevolucion-y-cambio-en-la-clase-trabajadora&catid=19%3Anoticias%E3%80%88=es

Öcalan, Abdullah. 2010. La Revolución es Femenina. In La alternativa Confederalista Democrática. Documentos de la lucha revolucionaria en el Kurdistán, edited by Nahuel Valenzuela, 75–79. Trad. International Initiative. Santiago de Chile: Pensamiento y Batalla.

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Öcalan, Abdullah. 2013. Liberar la vida: la revolución de las mujeres. Trad. International Initiative. Colonia: International Initiative Edition, Mesopotamian Publishers, Neuss.

Öcalan, Abdullah. 2016a. Orígenes de la Civilización. La era de los dioses enmascarados y los reyes cubiertos. Trad. Mahmut Çolak Zerdeștî. Buenos Aires. Sudestada.

Pazmiño, Carlos. 2017a. Abdullah Öcalan: una contribución para pensar la revolución en el siglo XXI. http://kurdistanamericalatina.org/abdullah-ocalan-una-contribucion-para-pensar-a-revolucion-en-el-siglo-xxi/

Öcalan, Abdullah. 2017b. Desmantelar al Estado. Elementos para entender la transición teórico-práctica del Partido de los Trabajadores del Kurdistán (PKK) hacia el Confederalismo democrático. Quito: FLACSO.

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