Es sitzen mit Sicherheit derzeit viele Journalist:innen an ihren Schreibtischen und verfassen Rückblicke zu der 16-jährigen Amtszeit der scheidenden Bundeskanzlerin Angela Merkel. Was waren ihre Erfolge? Durch welche Krisen hat sie die Bundesrepublik geführt? Wie hat ihre Politik Deutschland und Europa geprägt? Es dürften Fragen wie diese sein, die in den kommenden Tagen und Wochen in den verschiedenen Medienformaten behandelt werden. Viele werden lobende Worte für ihren unaufgeregten Regierungsstil finden, hier und da dürfte aber auch ein kritisches Wort fallen.
Wir wollen einen anderen Blick auf 16 Jahre Merkel werfen. Wir wollen uns anschauen, wie sich die deutsche Innen- und Außenpolitik unter ihrer Regierungszeit in Bezug auf die Kurd:innen entwickelt hat. Warum ist ein solcher Rückblick von Relevanz? Weil zum einen die kurdisch-stämmige Community in Deutschland mit circa 1,5 Millionen Menschen die zweitgrößte Migrant:innen-Community darstellt. Zum anderen ist die deutsche Außenpolitik, insbesondere die enge Partnerschaft zur Türkei, ein bestimmender Faktor in Hinblick auf die kurdische Frage und den Frieden im Mittleren Osten.
Auf die Regierungszeit Merkels werden die Kurd:innen im Rückblick keine Lobeshymnen singen – so viel sei vorab verraten. Denn die Bundesregierung hat in den vergangenen 16 Jahren nicht nur der Kriegspolitik gegenüber der kurdischen Bevölkerung den Rücken freigehalten, sondern auch ihrerseits die Kriminalisierung und die Repressionen gegen die kurdische Community in Deutschland auf die Spitze getrieben. Was damit genau gemeint ist, wollen wir nachfolgend anhand von Ereignissen und politischen Entscheidungen aus der Regierungszeit Merkels exemplarisch darstellen.
Außenpolitik
Beginnen wir mit der Außenpolitik. In allgemein guter Erinnerung dürfte Merkels Empfang im Palast des türkischen Präsidenten sein, als sie auf dem goldenen Thron neben Erdoğan Platz nehmen durfte. Nicht umsonst war die deutsche Bundeskanzlerin ein gern gesehener Gast in Ankara, hat sie doch dem AKP-Regime das eine oder andere Mal aus der Patsche geholfen. Doch spätestens mit dem sogenannten Flüchtlingsdeal haben sich auch die Regierenden in Berlin in ein Abhängigkeitsverhältnis gegenüber Erdoğan manövriert. Man brauchte einander und man half sich gegenseitig. Das Ganze hört sich nach einer harmonischen Beziehung an, doch tatsächlich machte sich die Merkel-Regierung erpressbar. Erdoğan verbat sich die Einmischung in die „inneren Angelegenheiten“, nahm dutzende deutsche Staatsbürger:innen in seinem Land fest, die er der Terrorismusunterstützung bezichtigte, fordert und erhielt Milliarden Euros aus den Töpfen der EU und maß sich dennoch hier und dort mal an, Merkel und die Bundesregierung als Nazis zu beschimpfen. Die scheidende Bundeskanzlerin ließ dies alles über sich ergehen, ab und an drückte die Bundesregierung ihre „Besorgnis“ über bestimmte Entscheidungen der türkischen Partner aus, doch insgesamt wurde nach den Regeln des türkischen Staatspräsidenten gespielt.
Zu diesen Regeln gehörte auch, dass die Bundesregierung sich eben nicht zu den sogenannten inneren Angelegenheiten der Türkei zu äußern habe. Und das demonstrative Desinteresse der deutschen Außenpolitik in Hinsicht auf Demokratie, Frieden und Menschenrechte in der Türkei war in der Tat eine Konstante der Merkel-Ära.
Die ungelöste kurdische Frage in der Türkei ist weiterhin das größte Hindernis für eine Demokratisierung der Türkei. Die Regierungszeit der AKP hat bewiesen, dass von Seiten der gegenwärtigen türkischen Regierungskoalition keine Bemühung für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage zu erwarten ist. Ganz im Gegenteil. Der türkische Präsident Erdogan negierte erst jüngst bei seinem Besuch in New York auf einer Pressekonferenz schlichtweg die Problematik mit folgenden Worten: „In der Türkei gibt es kein Problem wie die kurdische Frage. Wir haben diese Angelegenheit schon lange gelöst, überwunden und beendet.“ Und Erdogan konnte sich in den letzten 16 Jahren der Rückendeckung Berlins bei seiner Verleugnungs- und Kriegspolitik gegenüber den Kurd:innen sicher sein.
Aufgrund eigener politischer und wirtschaftlicher Interessen sah Merkel zudem über die zunehmende Untergrabung von Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der Türkei hinweg. Selbst als der Stuhl von Erdogan wackelte, war es die Bundeskanzlerin höchstpersönlich, die ihm zur Seite stand. Allein in den Jahren 2015 und 2016 besuchte Merkel fünf Mal den türkischen Staatspräsidenten. Der Besuch vor der umkämpften türkischen Parlamentswahl 2015 wurde damals innen- und außenpolitisch als Wahlkampfhilfe für Erdogan gewertet. Ein Ergebnis dieser intensiven Gespräche war unter anderem der umstrittene „Flüchtlingsdeal“ von März 2016.
Mitte Oktober dieses Jahres besuchte Merkel Erdogan zum letzten Mal. Erdogan erklärte auf der letzten gemeinsamen Pressekonferenz, dass Bundeskanzlerin Merkel immer einen „vernünftigen und lösungsorientierten Ansatz” gepflegt habe. Für die kurdische Gesellschaft bedeutete dieser Ansatz die Eskalation der Gewaltspirale in ihren Siedlungsgebieten. Merkel erklärte zwar, dass man manchmal sehr unterschiedliche Betrachtungen davon habe, wann der Terrorismusvorwurf gilt. Doch in Bezug auf die Bekämpfung der Kurd:innen war in den letzten 16 Jahren dazu aus Berlin kaum etwas zu vernehmen. Vor den völkerrechtswidrigen Interventionen der Türkei in Rojava/Nordsyrien war es schließlich die Regierung Merkel, die von „berechtigen Sicherheitsinteressen“ der Türkei sprach und die Kriege des türkischen Staates mit Waffenlieferungen unterstützte. In Nordsyrien rückte die türkische Armee mit ihren dschihadistischen Söldnern mit Leopard-2-Kampfpanzern aus deutscher Produktion vor. Die Bundesregierung lieferte der türkischen Armee Mittel für einen Angriffskrieg und äußerte nur Lippenbekenntnisse angesichts eines klaren Verstoßes gegen das Völkerrecht.
Neben der Unterstützung von Erdogans Kriegspolitik wird den Kurdinnen und Kurden auch die Ignoranz der deutschen Außenpolitik in der Merkel-Ära gegenüber der demokratischen Selbstverwaltung in Nordsyrien in Erinnerung bleiben. Von der freundlichen Unterstützung Berlins bei den völkerrechtswidrigen Invasionen der Türkei in Efrîn, Girê Spî und Serêkaniyê haben wir bereits gesprochen. Darüber hinaus hat die Bundesregierung unter Angela Merkel aber auch die Augen vor den Opfern und dem Kampf der Kurd:innen gegen den IS in Nordsyrien weitgehend verschlossen. Mit dem militärischen Sieg über den IS haben die kurdischen Kämpfer:innen der YPG (Volksverteidigungseinheiten) und YPJ (Frauenverteidigungseinheiten) einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass auch Deutschland und Europa sicherer geworden sind. Doch bis heute weigert sich die Bundesregierung, die demokratische Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens anzuerkennen. Während eine Vielzahl von europäischen Ländern gefangene IS-Dschihadisten und ihre Familien in Kooperation mit der Selbstverwaltung zurückholen, tut sich Deutschland damit schwer.
Stattdessen werden offizielle diplomatische Übergaben von IS-Angehörigen mit deutscher Staatsbürgerschaft als „Rettungen“ in deutschen Medien präsentiert.
Innenpolitik
In den Jahren 2014 und 2015 war plötzlich die Lösung der kurdischen Frage in Reichweite. Die Weltöffentlichkeit wurde damals zudem Zeugin des Widerstandes der bewaffneten Kräfte der PKK im Norden des Iraks. Diese stellten sich dort den Gräueltaten des IS gegen die ezidische Bevölkerung in den Weg und retteten mehreren zehntausend Menschen das Leben. Im Norden Syriens spielten angefangen mit dem Widerstand von Kobanê die Kämpferinnen und Kämpfer der YPJ und YPG dieselbe Rolle im Kampf gegen den IS. In der Türkei hingegen gab es Friedensgespräche zwischen der Türkei und der kurdischen Bewegung. In diesem Zeitabschnitt schien auch in der deutschen Politik kurzzeitig ein Sinneswandel einzusetzen. Man müsse über die Bewaffnung der PKK sprechen, sagte der Fraktionsvorsitzende der CDU Volker Kauder im Interview mit Spiegel Online am 16. Oktober 2014. Ob es nicht „schizophren oder pervers sei“, wenn die Bundesregierung auf der einen Seite die PKK für ihre Taten im Mittleren Osten lobe und sie auf der anderen Seite in Deutschland strafrechtlich weiter verfolge, fragte das Grünen-Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele am 1. September 2014 die Bundesregierung während einer Plenarsitzung. Verschiedenste Stimmen aus den Medien, der Bundespolitik und deutschen Think-Tanks wie der SWP (Stiftung für Wissenschaft und Politik) zweifelten damals öffentlich die Sinnhaftigkeit des PKK-Verbots an.
Diese Diskussionen in Deutschland endeten allerdings abrupt, als der türkische Staatspräsident die Friedensgespräche mit der kurdischen Bewegung abbrach. Die deutsche Bundesregierung appellierte in dieser Situation nicht an die türkische Staatsführung, sondern passte ihre Innenpolitik gegenüber den Kurdinnen und Kurden der Anti-Kurden-Politik der Türkei an. Während die Türkei ab dem Jahr 2015 unter dem Deckmantel des „Anti-Terror-Kampfs“ tausende kurdische Politikerinnen und Politiker absetzte und verhaftete, kurdische Städte dem Boden gleichmachte und in Nordsyrien intervenierte, justierten die deutschen Behörden ihre Repressions- und Kriminalisierungspolitik gegen die kurdischen Strukturen in Deutschland neu. Heute wird nicht nur das seit 1993 andauernde Verbot der PKK samt ihrer Symbole weiterhin konsequent durchgesetzt, auch sind seit dem Sommer 2017 die Fahnen der YPG und YPJ von Repressionen betroffen. Die Verbote sind vielschichtiger, die Angriffe auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Deutschland intensiver geworden.
Die Regierung Merkel hat die Verfolgung der Kurd:innen in Deutschland sogar auf ein ganz neues Niveau gehoben, als mit der Verfügung des Bundesinnenministeriums vom 1. Februar 2019 der in Neuss ansässige Mezopotamien-Verlag und den Musikvertrieb MIR als angebliche Teilorganisationen der PKK verboten wurden. Auch die Verlagsbestände – 50.000 Werke – und das wohl weltweit größte kurdische Musikarchiv sind beschlagnahmt worden, ohne dass eines der Bücher oder CD‘s auch nur ansatzweise straf- oder zivilrechtlich beanstandet oder gar verboten wurde. Von der „Sicherstellung“ ist das wohl weltweit größte Archiv an kurdischer Musik betroffen. Das musikalische Erbe der Kurd:innen lagert also in irgendeinem Lager oder Keller deutscher Behörden und wird der Welt vorenthalten – unter dem Vorwurf der Terrorbekämpfung.
Und wie weiter nach Merkel?
Hätten die Kurd:innen das Recht, der Regierungszeit Merkels ein Zeugnis auszustellen, wäre dieses mit Sicherheit kein Gutes. In Kurdistan machen die Menschen die deutsche Außenpolitik und ihre praktisch bedingungslose Unterstützung für Ankara mitverantwortlich für Krieg, Vertreibung und Flucht. Wenn diese Außenpolitik dann noch von der Kriminalisierung der Kurd:innen in Deutschland flankiert wird, erlöschen auch die letzten Zweifel an der Mitverantwortung der Bundesregierung für Erdogans Krieg gegen die Kurd:innen. Die deutsch-türkischen Beziehungen sind selbstverständlich älter als die Ära Merkel und auch vorherige Regierungen haben mit ihrer Unterstützung des NATO-Partners Türkei eher den Krieg als den Frieden in Kurdistan gefördert. Ob die neue Bundesregierung sich hiervon absetzen und ein neues Kapitel aufschlagen kann, wird sich zeigen. Dringend notwendig wäre es in jedem Fall.