Britanniens neuer Mittelost-Report

Kolumne von Meral Çiçek, Yeni Özgür Politika, 01.06.2017

Im Mittleren Osten findet momentan ein Dritter Weltkrieg statt. Das Weltsystem der kapitalistischen Moderne versucht sich seit allgemein 200, speziell 100 Jahren im Mittleren Osten zu konstruieren. Der Dritte Teilungskrieg ist unmittelbar als Teil dieses Prozesses zu werten. Die Nationalstaaten, deren künstliche Grenzen nach dem Ersten Weltkrieg gezogen worden sind, besitzen in diesem Zusammenhang funktionellen Charakter und stellen ein Instrument dar, das kontinuierlich Krisen und Chaos, Widersprüche und Konflikte reproduziert. Der Nationalstaat als Modell entspricht nicht dem kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Gewebe des Mittleren Ostens und bekommt sowohl äußerlich als auch innerlich immer tiefere Risse. Innerlich versuchen die mittelöstlichen Gesellschaften und Gemeinschaften, dieses Kleid, das ihnen zu eng ist, aufzureißen. Äußerlich kann sich das globale modernistische System den Mittleren Osten nicht mehr ausreichend zunutze machen. Neoimperialistische und kolonialistische Neugestaltungsprojekte, wie beispielsweise das Projekt Großer Mittlerer Osten oder das Projekt Grüner Gürtel, sind in diesem Zusammenhang zu Ende des 20. und Beginn des 21. Jahrhunderts auf die Agenda gesetzt worden.

Realität ist: Der Mittlere Osten hat sich gewandelt. Auch wenn externe Kräfte weiterhin versuchen dem Mittleren Osten eine Existenz als Objekt aufzuzwingen, ist seine Subjekthaftigkeit heute sehr viel stärker als vor 100 Jahren. Größtes Beispiel hierfür stellen die KurdInnen dar. Aus diesem Grund sind sowohl externe Kräfte, die sich auf dem Feld befinden, wie beispielsweise die USA, Großbritannien und Russland, als auch regionale Staaten nicht in der Lage dazu, ihren Interessen wunschgemäß umzusetzen. Die historisch gesellschaftliche Ader des Mittleren Ostens leistet vor allem am Beispiel der KurdInnen großen Widerstand. Sie ergeben sich der Objekthaftigkeit, dem Kolonialismus und dem kapitalistischen Imperialismus nicht.

Diese Realität zwingt die Kräfte, die versuchen, das globale kapitalistische System in dem Teil der Welt, in dem Gesellschaftlichkeit die tiefsten Wurzeln besitzt, zu konstruieren, zu einer Neubewertung.  Der 116-seitige Bericht des Komitees für Außenbeziehungen des britischen House of Lords, welcher Anfang des Monats veröffentlicht worden ist, ist ein Beispiel. Die Hauptthesen des Berichts mit dem Titel „Der Mittlere Osten: Zeit für einen neuen Realismus“ ((Der Bericht ist unter folgemdem Link zu finden: https://www.publications.parliament.uk/pa/ld201617/ldselect/ldintrel/159/15902.htm)) lauten:

  • In der gesamten Region stehen traditionelle Macht- und Herrschaftsmuster unter Druck. Die Wahrscheinlichkeit, dass im neuen Mittleren Osten Instabilität und Chaos weiter andauert ist hoch.
  • Der Mittlere Osten läuft durch eine Transformationsphase. Die Grenzen und das System, die nach dem Weltkrieg entstanden sind, fallen auseinander. Die durch den Arabischen Frühling ausgelösten Erschütterungen und der Zusammenfall der meisten alten Systeme hat das Gefühl der Unanfechtbarkeit verändert. Die Region erlebt simultane Spaltungen.
  • Der Einfluss von Gebilden außerhalb traditioneller Herrschaftsstrukturen steigt. Dies muss bei der Bestimmung von Politiken stärker zu Notiz genommen werden. Vor allem ist ein stärkerer Fokus auf außerstaatliche und substaatliche Kräfte notwendig.
  • Das Gleichgewicht zwischen westlichen Kräften und mittelöstlichen Staaten wird momentan neugebildet. Es findet eine Distanzierung von westlichen Staaten als globales Zentrum wirtschaftlicher Macht statt.
  • Der Einfluss und die Autorität der westlichen Nationen in der Region nehmen ab. Die Reduzierung der Rolle externer Staaten, vor allem der USA hat zu einem mehrpoligen Mittleren Osten geführt. Regionale Akteure übernehmen eine aktivere Rolle.
  • Die Schwächung der traditionellen Staatsgrenzen, die vor einem Jahrhundert gezogen worden sind, hat den Mittleren Osten in semiautonome Regionen und starke Provinzen geteilt. Die Schwächung von Staatsstrukturen hat zu einer Stärkung außerstaatlicher Akteure geführt. Dies führt zu einer komplexen Macht- und Wirkungsordnung.

Der Bericht ist insofern von Bedeutung, als er wichtige Daten bezüglich britischer Mittelostpolitik beinhaltet. Ihn hier zusammenzufassen ist nicht möglich, aber deutlich wird, dass es den Berichtverfassern darum geht, die andauernde Veränderung im Mittleren Osten vor Augen zu führen und dazu aufzurufen, entsprechend dieser neuen Bedingungen Politik zu machen, um Gameplayer und Macht sein zu können. Vor allem nach dem Brexit ist dies aus Sicht Großbritanniens noch wichtiger geworden.

In Syrien und dem Irak stechen die USA und Russland zwischen den sich dort befindenden Außenkräften heraus. Jedoch sollte die Position von Britannien nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Vor allem ihre Aufstellung gemeinsam mit Israel in Südsyrien und ihre interventionistische Politik gegenüber der irakischen Zentralregierung und der Föderalen Regierung Kurdistan sollten stärker in den Fokus gesetzt werden.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Großbritannien in nächster Zukunft mit Frankreich stärker kooperiert, um ihre Position im Mittleren Osten auszubauen ist hoch. Das Sykes-Picot Abkommen als Ergebnis des Ersten Teilungskriegs im Mittleren Osten vor genau 101 Jahren war eine britisch-französische Co-Produktion. Wenn man sich den Inhalt und die Vorschläge des Berichts vor Augen führt, wird deutlich, dass Britannien gemeinsam mit Frankreich die Aktualisierung von Sykes-Picot erzielt. Aber der Mittlere Osten ist nicht mehr der alte Mittlere Osten.