Celal Başlangıç, Gazete Duvar, 25.11.2016
Die Türkei durchlebt einen großen Niedergang der Vernunft. Sie nähert sich an die “Shanghai five”. Das von Russland und Iran unterstütze Syrien bombardiert Stellungen der türkischen Armee nahe Al Bab. Am gleichen Tag trifft das EU-Parlament mit großer Mehrheit die Entscheidung, die Beitrittsverhandlungen einzufrieren. Während sich in den internationalen Beziehungen ein Rückschlag nach der anderen ereignet, wachsen die Spannungen im Land mit jedem Tag. Die kurdische Frage steht in einer Sackgasse. Die Journalisten stehen Schlange vor den Türen der Gerichte. Der Ausnahmezustand bedroht nicht nur den inneren Frieden, sondern auch die Ökonomie. Der Dollarkurs zur türkischen Lira bricht jeden Tag seinen eigenen Rekord.
Zwei Ministerpräsidenten begrüßen sich. Der eine ist der Ministerpräsident der Türkei Binali Yıldırım, der andere der Ministerpräsident der kurdischen Regionalregierung Neçirvan Barzani. Auf dem Foto sind drei Flaggen zu sehen. Hinter Yıldırım die türkische Flagge. Hinter Barzani ist sowohl die Flagge des Iraks, als auch die der kurdischen Regionalregierung zu sehen.
Es ist etwas sehr Neues, dass sich während einem offiziellen Treffen zwischen der Türkei und der kurdischen Regionalregierung neben der irakischen Flagge auch die grün, rot und weiß farbige Kurdistan-Flagge mit einer gelben Sonne in der Mitte, zu sehen ist. Sie wurde zum ersten Mal bei einem Besuch von Mesut Barzani im Dezember 2015 aufgehängt. Also fünf Monate nachdem die Türkei mit ihren eigenen Kurden in eine konfliktgeladene Phase eintrat. Und die Gerichte in der Türkei stufen diese Flagge der kurdischen Regionalregierung weiterhin als „Organisationspropaganda“ ein und vergeben Strafen für ihr öffentliches Zeigen.
Vergangenen Monat wurde gegen einen Studierenden namens Mazlum Kabala aufgrund der Anschuldigung, „Propaganda für eine (terroristische) Organisation“ zu verbreiten, eine 10 monatelange Haftstrafe verhängt. Das Hohe Gericht von Diyarbakir begründete das Urteil mit einem Foto, das der Verurteilte auf Facebook postete, und in welchem er mit einem T-Shirt mit der Aufschrift „Kurdistan“ auf einer Flagge der kurdischen Regionalregierung zu sehen ist. Das gilt als Beweis für das Verbrechen der „Organisationspropaganda“.
Die von der AKP angewandten Politiken verstärken die Spannungen im Inland und erschweren die Bedingungen für ein gemeinsames Zusammenleben der Völker zusehends.
Es gibt bald sowieso keine Kommune in den kurdischen Städten mehr, die nicht unter Zwangsverwaltung gestellt, oder einen kurdischen Bürgermeister, der nicht verhaftet wurde. Zuletzt wurde der Bürgermeister von Mardin Ahmet Türk verhaftet. Zusammen mit den Kovorsitzenden der HDP Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sind zudem 10 Abgeordnete in Haft.
Die kurdische Frage verwandelt sich zunehmend in einen Kampfschauplatz, die jede Schicht der Gesellschaft wellenartig umfasst.
Die Dekrete arbeiten wie eine Guillotine
Ein Ereignis vor ein paar Tagen in Mersin ist ein sehr klares Zeichen dafür, in was für eine ernstzunehmende Richtung sich die Türkei entwickelt.
Die Plattform der Frauen in Mersin wollte ihre im vergangenem Monat begonnene Kampagne „Roter Ballon“, mit der sie auf den Kindesmissbrauch aufmerksam macht, mit einem Kinderfest am Internationalen Tag für die Rechte von Kindern beenden.
Das Fest wurde im Kongress- und Ausstellungspalast, welches der Gemeindeverwaltung der MHP gehört, verwirklicht. Zuerst wurde die Erklärung der Rechte für Kinder vorgelesen. Die Familien wurden zum Thema Kindesmissbrauch informiert. Später sind verschiedene aus Kindern bestehende Gruppen auf der Bühne aufgetreten und haben Lieder gesungen.
Zuletzt sind die Kinder des Saz-Kurses aus dem Nachbarschaftshaus Gündoğdu der Gemeinde Akdeniz aufgetreten. Zuerst singen sie ein türkisches Lied. Das zweite Lied ist in kurdischer Sprache.
Noch bevor das Lied beginnt, erklären die Bevollmächtigen des Salons, dass sie den Befehl bekommen hätten, dass in Veranstaltungsräumen der Stadtverwaltung außer in der türkischen Sprache keine Musik gespielt werden dürfe und kurdisch außerdem eine verbotene Sprache sei. Vor den Kindern und Familien ereignet sich eine Diskussion über die kurdische Sprache. Ein großer Teil der Teilnehmenden verlässt den Salon.
Die Psychologin Fahriye Cengiz, die in der Frauenberatungsstelle İştar der Kommune von Akdeniz arbeitet, versucht die Schwere des sich darbietenden Bildes zu erklären:
„Am Internationalen Tag der Kinderrechte sind wir Zeugen einer anderen Form der Gewalt an Kindern geworden, der psychologischen Gewalt. Diese Kinder wurden über ihre Sprache und Kultur der Gewalt ausgesetzt. Vor diesen Kindern wurde gesagt, dass diese Sprache verboten sei und sie keine Lieder in ihrer Sprache singen dürfen. Morgen werden diese Kinder vielleicht Angst haben, auf die Bühne zu steigen. Sie werden vielleicht Angst haben, ihre Muttersprache zu sprechen.“
Wir durchleben derzeit in der Türkei eine Phase, die in ihrer Gänze allem widerspricht, was während des Lösungsprozesses in der kurdischen Frage diskutiert und verhandelt wurde.
Es ist fast so, dass in die Primitivität von, „es gibt keine Kurden, das sind Bergtürken. Man hat die Türken, die in den Bergen leben als Kurden bezeichnet, weil ihre Schritte auf den festen Schnee Geräusche wie „Kart-Kurt“ machen“, zurückgekehrt wird. Diesen Unsinn mussten wir uns jahrzehntelang anhören und viele Menschen haben diesen Quatsch wirklich geglaubt. Nun sind wir bereits zum Ausnahmezustand zurückgekehrt. Wenn uns nun wohlmöglich auch der „Kart-Kurt“-Unsinn einholt, sollten wir uns überhaupt nicht wundern.
Die Dekrete des Ausnahmezustands arbeiten sowieso wie eine Guillotine im Dienste der Herrschenden. Hunderte Vereine, Zeitungen und Zeitschriften werden geschlossen. Bei jeder Verordnung verlieren tausende Menschen ihre Arbeit. Mit jedem Dekret klaffen neue gesellschaftliche Wunden auf.
Die Mutter des 12-jährigen Uğur Kaymaz, der am 21. November 2004 zusammen mit seinem Vater Ahmet als angeblicher Terrorist in Mardin Kızıltepe mit 13 Schüssen getötet wurde, wurde am Jahrestag des Todes ihres Ehemanns und Sohnes, also am 21. November aufgrund einer Verordnung von der Arbeit geschmissen. Die in der Kommune von Kızıltepe als Putzfrau arbeitende und alleinerziehende Mutter von drei Kindern, Makbule Kaymaz, hat, nachdem sie 12 Jahre währende Suche nach Gerechtigkeit beim Staat nicht finden konnte, jetzt auch noch ihre Arbeit verloren.
Eine andere gesellschaftliche Wunde öffnet sich mit den Taten gegen Veli Saçılık. Auch Saçılık, dessen Arm bei der „Rückkehr ins Leben“-Operation ((Im Jahr 2000 protestieren in zahlreichen Gefängnissen der Türkei revolutionäre Inhaftierte gegen die F-Typ Isolationsgefängnisse, die durch die Regierung eingeführt wurden. Viele Gefangene traten in den Hungerstreik. Der türkische Staat startete daraufhin die „Rückkehr ins Leben“-Operation und stürmte mit rund 10.000 Sicherheitskräften die Gefängnisse, in denen sich die Hungerstreikenden befanden. Mindestens 30 Gefangene wurden bei dieser Operation ermordet, unzählige schwer verletzt)) in den Gefängnissen gemeinsam mit den Handschellen abgerissen wurde, ist mit der letzten Verordnung aus der Arbeit geschmissen worden. Sogar seine geringen Ersparnisse auf der Bank wurden zunächst konfisziert. Zwar wurde aufgrund von Protesten die Konfiszierung seines Geldes wieder aufgehoben, aber auf dem letzten Foto von Saçılık, welches ich sah, wird er bei einer Aktion für den Erhalt seines Arbeitsplatzes zusammengeschlagen und weggezehrt.
Die AKP leitet die Türkei im Ausnahmezustand!
Die Praxis des Ausnahmezustands bringt nicht nur das gesellschaftliche Gewissen zum Bluten. Die Dekrete lassen vielleicht auch gleichzeitig die „Brieftaschen bluten“.
Der Dollar bricht jeden Tag seinen eigenen Rekord. Die Türkei wird immer mehr ein ärmeres Land.
Die stellvertretende Vorsitzende der CHP, Selin Sayek Böke, hat in ihrer Erklärung jüngst das Verhältnis zwischen der ökonomischen Krise und dem Ausnahmezustand auf eine sehr bestechende Art und Weise dargelegt:
„Diese Krise ist keine Widerspiegelung einer globalen Krise in der Türkei. Diese Krise ist eine Türkei-eigene Krise. Sie ist das Ergebnis einer Politik, die den Ausnahmezustand verlängert, mit Dekreten das Recht mit Füßen tritt und die Demokratie vollständig aufhebt. Das ist eine Krise, die den Staatsbürger arbeitslos und dadurch arm macht. Die türkische Lira hat in den vergangenen 10 Monaten an 15 Prozent Wert gegenüber dem Dollar verloren. Und dieser Wertverlust hat sich fast vollständig in den letzten zwei Monaten verwirklicht. Der starke Anstieg des Wertverlustes der türkischen Lira gegenüber dem Dollar beginnt am 3. Oktober. Wenn wir uns vor Augen halten, was am 3. Oktober passiert ist, stellt sich klar heraus, dass diese Krise eine Krise der Türkei ist. Der 3. Oktober ist der Tag, an dem der Regierungssprecher der Türkei verkündete, dass der Ausnahmezustand verlängert werde. Der Wertverlust der türkischen Lira, welcher mit der Entscheidung den Ausnahmezustand zu verlängern begann, hat mit jedem Schritt der Rechtslosigkeit, den Spannungen mit der Außenwelt und der Entfernung von der Demokratie zugenommen.“
Es muss wohl diese „stabile“ Verbindung zwischen der ökonomischen Krise und dem Ausnahmezustand sein, die den türkischen Wirtschaftsminister Nihat Zeybekçi zuletzt verleitete, in einer Erklärung in der Zeitung Hürriyet zu erklären: „Ich möchte nicht den Ausnahmezustand. Ich sage es offen. Ich möchte diese zweite Verlängerung des Ausnahmezustandes nicht.“
Der Weg in die Krise der Türkei war klar. Auf die Verlängerung des Ausnahmezustandes ist eine große Rechtslosigkeit gefolgt, die den Spannungen den Weg geebnet und die zur Isolation von der Außenwelt geführt hat. Und mit jedem Schritt weg von der Demokratie hat auch die türkische Währung an Wert verloren.
Doch es ist nicht nur der Wertverlust der türkischen Währung und die zunehmende Arbeitslosigkeit, die auf eine anstehende Wirtschaftskrise hindeuten. Es sind auch die Rhetorik und die Ankündigungen der türkischen Regierung selbst. So redet der Staatspräsident mittlerweile davon, dass er sein Land anstelle der EU in Richtung der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), den sog. Shanghai five, führen wolle. Die stellvertretende CHP-Vorsitzende Böke findet diese Aussagen mehr als bedenklich. Immerhin würden rund 50% der türkischen Exporte in Richtung EU gehen, wohingegen rund 1/3 in die Länder des SOZ exportiert werden. Der EU den Rücken zuzukehren, sei wirtschaftlich betrachtet deshalb sehr bedenklich.
Hinzu kommt die Frage, ob die Shanghai five überhaupt ein Interesse an einer Mitgliedschaft der Türkei haben. Die Wogen mit dem Schwergewicht der SOZ Russland scheinen noch lange nicht geglättet. Um das unter Beweis zu stellen, reicht ein Blick auf die jüngsten Luftangriffe des syrischen Regimes auf die türkischen Soldaten im Norden Syriens aus. Bei diesen Angriffen musste die Türkei ihre bisher schwersten Verluste seit Beginn ihrer Invasion hinnehmen. Es steht außer Frage, dass dieser Luftangriff nur mit freundlicher Unterstützung Russlands geschehen konnte. Und ganz zufällig ereignete sich der Luftangriff am Jahrestag des Abschusses des russischen Kampfjets durch die Türkei.
Der Punkt, an dem wir stehen, ist eigentlich ein klarer Beweis, dass die AKP die Türkei nicht regieren kann.
Vor 14 Jahren, als die AKP im Jahr 2002 an die Macht kam, gab es in nur zwei Städten des Landes, Şırnak und Diyarbakır, Ausnahmezustände. Diese waren zuletzt von der vorherigen Regierung verlängert worden. Im ersten Monat der AKP war der Ausnahmezustand beendet. Die AKP hat also nahezu eine sich nicht im Ausnahmezustand befindliche Türkei übernommen. Heute sind in 81 Städten des Landes Ausnahmezustände verhängt.
Das ist also der „Ausnahmezustand“, in den die AKP die Türkei nach 14 Jahren geführt hat.