Der Knotenpunkt Raqqa: Es geht nicht um Waffen, sondern um Legimität

Harun Ercan, Yeni Özgür Politika, 15.05.2017

Die US-Regierung hat so lange wie möglich abgewartet und die Türkei hat so lange wie möglich versucht die Raqqa Operation hinauszuzögern. Doch das Erwartete ist eingetroffen. Die Regierung um Trump hat nun direkte Waffenlieferungen an die YPG beschlossen. Das Gewicht des Pentagon und des Nationalen Sicherheitsrates innerhalb der Trump-Regierung hat sich durch diese Entscheidung direkt vor dem Treffen zwischen Trump und Erdoğan noch einmal mehr bestätigt. Die Geschichte selbst zwingt Kräfte von zwei entgegengesetzten ideologischen Polen zu Bündnissen. Wir befinden uns heute in einer ähnlichen historischen Phase wie zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges, als die USA mit der Sowjetunion, der unterschiedlichen Weltanschauungen zum Trotz ein Bündnis gegen den Hitler-Faschismus geschlossen hatte. Die Kräfteverhältnisse und die militärische Größenordnung sind natürlich vollständig anders, doch die Dunkelheit die bekämpft wird ist genauso finster. Wenn Raqqa fällt, wird die Kraft des IS im großen Maßstab zusammenbrechen. Doch jeder weiß auch, dass wenn der IS sein Herrschaftsgebiet verliert, er sich selbst erneuern und weiter existieren wird. An diesem historischem Wendepunkt ist es wichtig, dass aus den Rissen, die die muslimischen Staaten des Mittleren Ostens, welche dschihadistische Gruppen wie den IS direkt oder indirekt unterstützen, mit ihren dunklen Projekten aufgebrochen haben, nicht die Staaten selbst, sondern dieses Mal die Unterdrückten der Welt gestärkt herausbrechen können. Der größte Widerstand gegen den Marsch der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) die im Namen der Unterdrückten vorwärtsschreiten, kommt aus der Türkei.

Bei der Betrachtung der regierungsnahen Medien der Türkei wird offensichtlich, dass das in die Schlagzeilen getragene Thema die Waffenunterstützung ist. Doch das ist nicht das Entscheidend. Solange es Luftunterstützung gibt, haben die Demokratischen Kräfte Syriens die Kapazität mit der eigenen Kraft, wenn auch unter großem Verlust der eigenen Kämpfer, Raqqa vom IS zu befreien. Diese Realität hat sich in Tel Abyad, Minbic und Tabka gezeigt. Ohne Zweifel sind moderne Waffen zur effizienteren Bekämpfung im Kampf gegen die Dunkelheit kein unwichtiges Thema. Es wäre nicht richtig die Bedeutung der Waffenunterstützung zu unterschätzen. Der wichtigste Beitrag der Waffenunterstützung ist im Wesentlichen die Gewährleistung der militärischen Operation mit wenigen menschlichen Verlusten. Eigentlich sind es nicht die Waffenlieferungen an die QSD, weswegen die Türkei einen Sturm auslöst. Was ist es dann?

Neben anderen Faktoren, die wir im Folgenden aufzählen werden, ist es die Angst der Türkei vor der schrittweisen Legitimierung des Projektes von Rojava. Mit den US-amerikanischen Waffenlieferungen an die QSD sind die Hindernisse für die QSD, als legitime Kraft auf der internationalen Arena aufzutreten fast nicht mehr existent. Der Weg ist frei für den Wechsel der USA-QSD Gleichung von einer militärischen Verbindung auf eine politische Ebene.

Die Ironie der jüngsten Geschichte muss folgende sein: Wenn der Aufruf Öcalans an Newroz 2013 zum türkisch-kurdischen Bündnis nicht nur in der Türkei, sondern im gesamten Mittleren Osten befolgt wäre, hätten wir vor uns heute eine gänzlich anderes politisches Bild vor uns. Die türkische Staatsintelligenz, welche staatenlose Völker gering schätzt und denkt unter jeder Bedingung ihren Willen zur Organisierung des Lebens und der Selbstverteidigung vernichten zu können, hat damit auch die zweite Runde eines langandauernden Gefechts verloren. Die erste Runde war der Widerstand von Kobanê. Wenn die AKP-Regierung in ihren Schlössern des Hochmuts ihre ideologischen Obsessionen abstreifen könnte und den Lösungsprozess nicht  ihren inneren politischen Rechnungen geopfert hätte, könnte die Türkei im Mittleren Osten heute eine stabilisierende regionale Kraft sein.

Eigentlich wusste die AKP-Regierung schon vor einem Monat von der Entscheidung der USA. Hinter dem ganzen Lärm, den sie nun verursacht steht der Wunsch über die Umstände dieses Wendepunkts Verhandlungen zu führen. Es ist eine Macht die versucht hierdurch alles Mögliche von den USA abzuknöpfen. So wie es aussieht hat die AKP ihren ersten Erfolg durch diese Art von Diplomatie erzielen können. Es ist bekannt, das die USA an verschiedenen Orten der Welt über Fusion Center verfügt, die mit verbündeten Staaten nachrichtendienstlich zusammenarbeiten. Laut einer Nachricht im Wall Street Journal von Gordon Lubold,Julian E. Barnes und Margaret Coker wird die USA die nachrichtendienstliche Zusammenarbeit in dem seit 2007 bestehendem Center zur Unterstützung der Operationen gegen die PKK in der Türkei verstärken. Die Satellitenüberwachung von PKK’lern im ländlichem Gebiet und andere geheimdienstliche Informationen über andere Kanäle werden noch intensiver mit türkischen Vertretern geteilt werden. Zusammen damit wird laut dem Artikel von Anne Barnard und Patrick Kingsley in der New York Times die USA die Bodenoperation der Türkei gegen die PKK im Irak zulassen. Die Schwächung der PKK kann für die USA eine nützliche politische Option in der Suche nach einer neuen Balancepolitik mit der Türkei sein.

Auch wenn unter den gegebenen Bedingungen die Aussicht einer militärischen Intervention der Türkei in Rojava kurz und mittelfristig abgenommen hat, ist sie immer noch vorhanden. Die Zukunft von Syrien und Rojava werden schließlich die Politiken der USA und Russlands bestimmen, als auch das Maß an Vorbereitung, Organisierung und Entschlossenheit der Unterdrückten in den sich bietenden Gelegenheiten. Es scheint sehr wahrscheinlich, dass die Raqqa Operation bis zum Ende des Jahres dauern wird. Eine lange Zeit für ein Endergebnis oder um eine politische Anerkennung zu erhalten. Ein weiteres Problem wird es geben, wenn die QSD die Gebiete von dem IS befreit haben und sich die Diskussionen über die Verwaltung dieser Gebiete verdichten wird. Es wird das Ziel aller regionalen Akteure, die von dem gegenwärtigem Kurs beunruhigt sind, sein, in Gebieten wie Tel Abyad, Haseke, Minbic und Tabka Unruhe zu stiften. Denn dies ändert sich nie; wer es nicht schafft von außen etwas zu zerbrechen, versucht es von Innen zu entkräften.