Die Geschichte ist unser Zeuge

tutuklu-gazetecilerNuri Firat, kurdischer Journalist, zurzeit im Kandira Gefängnis F-Typ Nr.1 (*)

„Dieses, mit dieser Anklageschrift begründete, gegen 44 JournalistInnen eröffnete Verfahren ist wie alle anderen ähnlichen KCK-Verfahren politisch motiviert und Teil einer Unterdrückungskampagne. Dafür sind die Erklärungen der Regierungsvertreter hinreichend.“
Die Anklageschrift gegen 44 JournalistInnen ist vor einiger Zeit angenommen worden. Das Verfahren wird am 10. September, also am Jahrestag des 12. September beginnen. Das Zusammentreffen dieses und aller anderen politisch motivierten KCK-Verfahren mit dem Jahrestag des Putsches vom 12. September [Militärputsch 1980] ist in jeder Hinsicht vielsagend und ein sich wiederholender, historischer Vorfall.

Bevor ich auf die Anschuldigungen und einige Anekdoten zum Charakter des Verfahrens eingehe, möchte ich erwähnen, dass das „Forum-Solidarität mit den inhaftierten JournalistInnen“ solidarisch mit über 100 JournalistInnen die Aktion „Tage des Zeugnisses“ gestartet hat. Diese Aktion erklärt, dass die JournalistInnen wegen ihres Berufes in den Gefängnissen sind. Zeitgleich hält das „tiefe“ Schweigen der Öffentlichkeit an.

Dieses Schweigen zeigt sich insbesondere durch die schwachen Reaktionen auf unsere Anklageschrift. Dies hat sicherlich verschiedene Gründe; die Presse steht unter Druck, jedem Journalisten, jeder Journalistin, der/die sich zu Wort meldet, kann vielerlei passieren … Aber der wichtigste Grund ist meines Erachtens folgender: Wir sind kurdische JournalistInnen. Wenn sie in diesem Land ein/e oppositionelle/r JournalistIn sind, schon dann ist es „normal“, dass sie ins Gefängnis kommen, Verfahren eröffnet werden, sogar dass sie getötet werden können. Sind sie dazu ein/e kurdische/r, oppositionelle/r JournalistIn, dann werden sie als „Terrorist“ betrachtet und kommen ins Gefängnis. Dies ist eine seit vielen Jahren herrschende offizielle Sichtweise und leider haben auch diejenigen, die sich demokratisch und rechtsstaatlich gesinnt nennen, dieses verinnerlicht. Tragischer Weise wird es auch von den kurdischen Medien zynisch als normal angesehen. Das zeigt sich oft dadurch, dass sogar die Presseverlage, dessen Mitarbeiter diese verhafteten JournalistInnen sind, sich nicht schützend vor sie stellen.
Wechseln wir von diesem Thema wieder zurück zu unserer Anklage…

Dieses eröffnete Verfahren ist, genauso wie alle anderen und ähnlichen Verfahren, vor allem politisch motiviert und Teil einer Unterdrückungskampagne. Um dies zu Verstehen, sind die Erklärungen der Regierungsvertreter ausreichend genug.
Der zweite, wichtige Punkt ist der, dass diese Verfahren gegen uns ein Verfahren gegen die kurdische Presse ist, auch gegen die Presse der Vergangenheit. Dass nahezu alle früheren und aktuellen, kurdischen Medien in der Anklageschrift des „Terrorismus“ beschuldigt werden, beweist dies. Es wird vorverurteilt, dass „alles was die Kurden tun und getan haben, eine terroristische Aktion“ sei. Die erste kurdische Zeitung „Kürdistan“ wurde im Exil herausgebracht; zu Beginn der 1920er wurde erlassen, dass die Zeitung „J?n“ nicht in die kurdischen Provinzen geliefert werden darf; weil Musa Anter 1959 in der Zeitung „Ileri Yurt“ ein Gedicht namens Qimil herausbrachte, wurde sein „Kopf gefordert“, und 1992 wurde dies auch gegen ihn durchgeführt …
Die Geschehnisse vom 12. September …, JournalistInnen eine/r nach der/dem anderen wurden getötet, auf offizielle Anordnung hin wurden Zeitungsgebäude in die Luft gejagt, Zeitungen der Reihe nach geschlossen und JournalistInnen verhaftet. Die Mehrheit davon waren Kurden, seit den 1990ern bis heute ein gefährliches Szenario … Mit weiteren, dutzenden Beispielen könnte aufgezeigt werden, was „Vorverurteilung“ bedeutet.

Eine Anklage auf einer brüchigen Basis
Mit den gegen uns gerichteten Verfahren zeigt sich erneut in beschämender Weise, was für eine Schmutzkampagne geführt wurde, wie Anklagepunkte zusammengestellt wurden, aber auch wie brüchig diese Basis ist. Ich werde einige Punkte aufgreifen, die mich persönlich betreffen, deutlich aufzeigen.
In der Anklageschrift wird in dem mich betreffenden Teil besonders betont, dass ich seinerzeit wegen „Mitgliedschaft in einer Organisation“ in Haft gewesen sei. Was hat dies mit diesem Verfahren zu tun? Warum wird außerdem nicht geschrieben, dass ich nach besagter Haft freigesprochen wurde? Sie werden es nicht schreiben, denn Zweck ist, einen „Terroristen“ zu schaffen. Haben nicht die RegierungsvertreterInnen monatelang dasselbe unbegründet gemacht? Ich fahre fort. Es werden Aussagen aufgezeigt, die in einem Beweisstück einer Person auftauchen und mir zugeordnet werden. Es ist unmöglich, dass ich mit der besagten Person zu der Zeit zusammen war. Diese Person sagt selbst, dass dieses Beweisstück gefälscht ist. Auch Ahmet Hakan, den ich nicht kennengelernt habe, ist Opfer und wie er sagt ist es ein Beweisstück voller „Ungereimtheiten“. Woran erinnert das?
An das berühmte Memorandum vom 28. Februar [1997, postmoderner Putsch des Nationalen Sicherheitsrats gegen die Regierung]. Auch damals wurde ein Dokument aufgezeigt, das die Verbindungen zwischen JournalistInnen und der PKK belegen sollte, genau wie dieses … Es wird behauptet, dass ich die Person bin, auf dessen Beschreibung der Geständigen Millionen von Menschen in der Türkei passen. Meine Ein- und Ausreisen aus dem Irak werden zu einem „sicheren Beweise“. Dabei sind die Belege, die ich während meiner Arbeit im Irak durch die dortige Regierung erhalten habe bei der Polizei, und die Schriften finden sich in zwei Büchern wieder. Das wird nicht mit aufgenommen, denn die „Beweise“ würden zusammenbrechen. Meine Gespräche über die Nachrichten sind „Befehle“ und meine Verbindungen zu JournalistInnen „Organisationsverbindungen“… Das ist dann Logik …
Bei meinen KollegInnen gibt es ähnliches, wenn nicht noch schlimmeres. Aber es bringt nichts, dass in die Länge zu ziehen. Wenn das Ziel dieser „Beweise“ die weitere Anschuldigungen hervorzubringen, dann haben sie sogar den 28. Februar übertroffen…

Es werden Schmutzkampagnen geführt
Diese Anklage hat zudem eine Wahrheit ans Licht gebracht. Sowohl die RegierungsvertreterInnen als auch die ihr nahestehenden Medien propagieren immer noch, dass wir nicht wegen unserer journalistischen Tätigkeit und unseren Artikeln, sondern wegen „Terrorismus“ verhaftet und angeklagt sind. Kommt und seht, dass diese Anklage eine riesiges Lügenmärchen ist. Denn alle „Beweise“ zu den Anschuldigungen zum „Terrorismus“ wurden aus unseren Artikeln und unserer journalistischen Arbeit abgeleitet …
Ein weiterer wichtiger Punkt, der aus der Anklageschrift hervorgeht ist, dass die Beschuldigungen, „Vergewaltiger, Räuber, Dieb“ aus der Luft gegriffen sind. Es gab sowieso nichts in diese Richtung. Somit ist das wahre Gesicht der Verleumder klar geworden. Die „zungenlosen Teufel“, die nicht über die Wahrheit schreiben, sind ebenfalls beteiligt an diesen Kampagnen nach dem Motto: „Werft mit Dreck, etwas wird schon hängen bleiben“.

Wir wurden doch nicht wegen der Tätigkeit des Journalismus angeklagt
In der Anklage gibt es noch den Punkt, dass wir mit den „Nachrichten, die wir erstellt haben“, dem „Staat Sorgen bereiten und demütigen“ würden. (Wir wurden doch nicht wegen der Tätigkeit des Journalismus angeklagt!) Solche Anschuldigungen sind nicht neu, sie ist so alt wie die Geschichte der Medien. Welche Kraft auch an die Macht gekommen ist, jede versuchte die Medien zum Schweigen zu bringen und mit einschüchternden Anschuldigungen an sich zu binden. Das Pressestatut von 1864 hat als Zensurgrund die „Schwächung des Staates durch Schriften“ aufgeführt.
In der schlimmsten Zeit der Presse, die in die Geschichte eingegangene Zeit von Abdülhamit dem Zweiten [Sultan des Osmanischen Reiches], durften nur diejenigen Medien herausbringen, die zusagten, dass sie „Abstand von Veröffentlichungen nahmen, die nicht im Interesse des Sultan oder des Staates standen“. Die Alliierten gingen einen Schritt weiter, beschmierten ihre Hände mit JournalistInnenblut und ebneten den Weg zu JournalistInnenmorden. Nach dem „Gesetz zur Sicherung der öffentlichen Ruhe“, dass schon in den ersten Jahren der Republik beschlossen wurde, durften keine Medien herausgebracht werden, die der „Staat nicht wollte“. 1931 kam das Pressegesetz und in den folgenden Jahren bis heute weitere Pressegesetze, voll mit Zensuren, die „den Sorgen des Staates“ eine Lösung bieten sollen … Die berühmte Exil-Zensur-Verordnung von 1990 … Seit einem halben Jahrhundert ist kein/e Journalist/in oder Intellektuelle/r aus dem rechten oder linken Lager ausgelassen worden, der nicht nach den §§ 141, 142 und 163. ins Gefängnis geschickt worden ist … Bei den Putschen vom 27. Mai, 12. März, 12. September, 28. Februar war die Presse das erste Ziel, um die „Sorgen des Staates“ zu lösen. Die kurdische Pressegeschichte ist sowieso eine Geschichte von hundert Jahren Zensur in der Türkei … Dutzende getötete JournalistInnen … Die Jahre vergehen, die Akteure wechseln sich ab, aber leider ist das Gedankengut dasselbe …

Entweder auf der Seite der Machthaber oder im Knast!
In der Anklage wird „normaler Journalismus“ erklärt. Die Glücklichen, als seien sie Professoren für Kommunikation! Weil wir natürlich nicht in dieses Bild passen, sind wir „Organisationsmitglieder“! Dies ist die Anschuldigung. Sind etwa im Journalismus neue Kriterien festgesetzt worden, und wir haben es nicht mitbekommen? Nein, es ist schon das, was gemacht wird. Beachtet man es aufmerksam, dann sieht man folgendes: Mit diesem lächerlichen Auftritt tun die neuen Machtkräfte so, als hätten sie etwas neues entdeckt, obwohl das Thema des „Embedded Journalist“ im Journalismus schon seit Jahren diskutiert wird und sogar schon Grundschulkinder wissen, was damit gemeint ist.
Entweder bis du an der Seite der Herrschenden oder du kommst in den Knast! Dies ist deren Auffassung von „normalem Journalismus“ und leider verfolgt die heutige Regierung dies despotisch.
Du bist ein/e „normale/r JournalistIn“, wenn du mit der Polizei an Razzien teilnimmst, wenn du stundenlang wie ein „zungenloser Teufel“ über das Massaker von Roboski schweigst, wenn du auf einer Versammlung mit dem Ministerpräsidenten bist und erniedrigend fragst, „was du zu tun hast“, wenn du wie Ertugrul Özkök in der Zeit des 28.Februar sagst: „Wir sind staatstreue Journalisten”, wenn du die BDPler zu Zielscheiben erklärst und offen einen Aufruf zum Töten oder zu einen Anschlag machst, wenn du schreibst, dass außer Türken keiner in diesem Land Rechte bekommen soll, wenn du die Parole „Türkei gehört den Türken” benutzt, wenn du mit dem MIT [Geheimdienst] eins wirst, wenn du deine mediale Kraft gewinnbringend nutzt …
Ansonsten wirst du wie wir im Gefängnis landen oder wirst gefeuert wie es zuletzt Ali Akel widerfahren ist. Lange Rede kurzer Sinn, wir können dies „an die Leine gelegten Journalismus” nennen.

Die Geschichte wird die Wahrheit ans Licht bringen
Der türkische Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Isil Karakas, gab bei einer Erklärung im März 2011 eine detaillierte Erklärung ab:
„Die Türkei ist wegen der Verletzungen der Gedanken- und Meinungsfreiheit mit 175 Verurteilungen auf dem ersten Platz des EGMR. Das folgende Land ist mit 32 Verurteilungen Österreich.” Dazwischen gibt es eine riesige Differenz. Auf der Liste für Medien- und Gedankenfreiheit von „Reportern ohne Grenzen” kam sie auf Platz 148 unter 178 Ländern. Und unsere Anklage weist darauf hin, dass dieser Zustand noch schlimmer wird. Denn diese Anklageschrift ist wider den internationalen Abmachungen. Dieser Skandal zeigt das Gedankengut auf, auf das wir hinweisen.
Das sind einige Darstellungen, die unseren Prozess betreffen. Nur diese reichen schon aus, um zu zeigen, wie der hundertjährige, kurdische Medien- und Presseberuf verurteilt wird. 1992 sagte Demirel zu den der Reihe nach stattfindenden Morden an JournalistInnen: „Das sind als JournalistInnen verkleidete Militante,” und heute sagt der Ministerpräsident dasselbe über die verhafteten JournalistInnen.
Das öffentliche Gewissen und die Geschichte sind zweifellos unsere Zeugen, von uns, die wir nicht „das Normale“ schreiben. Die Geschichte und das Gewissen wird die Wahrheit ans Licht bringen, trotz derjenigen die versuchen die Wahrheit zu verdrehen und zu verschleiern, die uns zu von vornherein als „Terroristen“ ins Gefängnis bringen,.
Die folgenden Worte von Julius Rosenberg, der während des Kalten Krieges in den 1950ern unter den Vorwand des „Kampfes gegen den Kommunismus“ durch die USA im Rahmen der Hexenjagd verhaftet und mit seiner Frau zum Tode verurteilt worden ist, gelten auch für uns:
„Um all diejenigen zum Schweigen zu bringen, die nicht wie sie denken, haben sie uns ausgewählt. Aber das Volk wird mit Sicherheit diejenigen, die sie auf den falschen Weg führen aus ihren Köpfen verjagen.”
Ohne die folgenden Worte von Mevlana [persische Mystiker] „Wenn alle dasselbe Denken bedeutet es, dass keiner denkt,“ zu vergessen, beende ich damit, dass wir für ein frei denkendes, demokratisches Land alle Medien- und Gedankenfreiheit brauchen.

(*) Nuri Firat schrieb diesen Artikel im Gefängnis. Die kurdische Tageszeitung Yeni Özgür Politika veröffentlichte in am 18. Juni 2012. Nuri Firat war als Journalist für die Tageszeitung Özgür Gündem tätig als er am 20. Dezember 2011 in Istanbul festgenommen und inhaftiert wurde.

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