Interview mit İlham Ahmed, Ko-Vorsitzende des ‚Demokratischen Rates Syriens‘, 25.08.2018
Die Journalisten Ragıp Duran und Celal Başlangıç bereisten im Sommer dieses Jahres die Demokratische Föderation Nordsyrien. In diesem Rahmen führten sie ein Interview mit İlham Ahmed, der Ko-Vorsitzenden des ‚Demokratischen Rates Syriens‘, zu den Verhandlungen mit dem syrischen Regime und der aktuellen Situation in Afrin und Idlib.
Dem Treffen des ‚Demokratischen Rat Syriens‘ mit Damaskus wurde in westlichen, arabischen und kurdischen Medien eine große Bedeutung beigemessen. In den türkischen Medien wurde es aber praktisch nicht erwähnt. Sie waren auch Teil der Delegation, die in Damaskus war. Von wem kam die Einladung? Aus wem setzten sich ihre Delegation und die Delegation des Regimes zusammen? Was wurde bei dem ersten Treffen besprochen? Wie war die allgemeine Atmosphäre?
Das Treffen fand auf Einladung der syrischen Regierung statt. Unsere Delegation setzte sich aus Vertreterinnen und Vertretern aller Völker zusammen, die in der Region leben. Auf der Gegenseite, also auf Seiten des Regimes, saß u.a. der Verantwortliche für die Nationale Sicherheit. Die Delegation sprach im Namen der Regierung. Die Gesprächsatmosphäre hatte einen offiziellen Charakter. Von diesem ersten Treffen können wir natürlich nicht behaupten, über alles sei gesprochen worden und alles sei positiv verlaufen. Doch wir messen diesem ersten Treffen auf Basis einer offiziellen Einladung große Bedeutung bei. Denn von Anfang an haben wir versucht, die Probleme gemeinsam mit der syrischen Regierung und dem syrischen Staat durch einen Dialog zu lösen. Doch die syrische Regierung, also das Regime, hatte sich der Lösung der Probleme rein taktisch angenähert. Letztendlich waren sie dazu gezwungen einzusehen, dass sich die Angelegenheit nicht auf taktische Art und Weise lösen lässt. Sie mussten also eine strategische Haltung einnehmen. Wir blicken schon lange strategisch auf das Thema. Trotz all der Interventionen in Syrien haben wir stets den Ansatz verteidigt, dass das syrische Problem sich nur lösen lässt, wenn sich alle Syrerinnen und Syrer zusammen setzen. Deshalb sind wir nach Damaskus gefahren. Früher warf uns das Regime vor, Syrien teilen zu wollen. Durch unseren Besuch in Damaskus und unsere Gespräche mit dem Regime konnten wir diesen Vorwurf nun endgültig entkräften. Schon immer haben wir gesagt, dass sich das Problem nur auf dem Weg der Einheit Syriens lösen lässt. Diesen Standpunkt vertreten wir auch heute noch.
Worüber wurde bei dem Treffen gesprochen? Wurde sich auf ein Datum und einen Ort für ein weiteres Treffen geeinigt?
Wir haben uns darauf geeinigt eine Kommission zu gründen, die sich mit dem Regierungssystem auseinandersetzen wird. Hier bei uns besteht seit sieben Jahren das System der Demokratischen Autonomie. Die Region wird auf Basis dieses Ansatzes verwaltet. Alle Bedürfnisse des Volkes werden auf diese Art und Weise befriedigt. Die Regime-Delegation setzt jedoch auf das alte System der Lokalen Verwaltung und möchte eine Rückkehr zu diesem System. Wir vertreten den Standpunkt, dass dieses System veraltet ist und unser autonomes System besser und erfolgreicher funktioniert. Denn das alte System der Lokalen Verwaltung des Regimes gewährleistet kein Recht, keine Freiheit und keine freie Meinungsäußerung. Dieses veraltete System legt nur einen Bereich von Dienstleistungen fest. Wir sind davon überzeugt, dass unser System der Demokratischen Autonomie einen breiteren, effektiveren und erfolgreicheren Ansatz darstellt. In der neu gegründeten Kommission wird zu erst einmal diese Frage diskutiert werden.
Das Regime scheint unseres Wissens nach auf der Grundlage des Artikels 107 der syrischen Verfassung das System der Lokalen Verwaltung erneut einrichten zu wollen. Die Verfassung ist jedoch derzeit außer Kraft. Haben Sie in dieser Situation Ihre Forderung nach Autonomie oder einer Föderation thematisiert?
In Bezug auf das Thema der Föderation bestehen einige Probleme. Wir vertreten das Modell der Demokratischen Autonomie und schlagen es als Lösung für ganz Syrien vor. Aber bei dem Begriff Föderation reagieren das Regime und gewisse Gruppen der Gesellschaft reserviert. Sie verweisen auf den Irak und sagen: „Im Irak haben sie erst von einer Föderation gesprochen, dann von einem Referendum, später von Unabhängigkeit und wollten im Endeffekt das Land zerteilen.“ Wir aber schlagen für ganz Syrien ein neues System vor. Dieses Thema wird gesondert behandelt werden, sobald die Gespräche begonnen haben. Wir sind für ein dezentrales System.
Beim Thema Syrien fallen derzeit die Namen zweier Regionen besonders häufig: Afrin und Idlib. Erstere befindet sich unter der Besatzung einer ausländischen Armee. Letztere wird vielleicht zum Ziel einer Militäroperation. Wurden im Rahmen ihrer Gespräche auch die Themen Afrin und Idlib besprochen?
Beim Thema Afrin haben wir das Regime kritisiert. Wir habe ihnen deutlich gesagt: „In Afrin kam es zu einer großen Operation und die Türken haben Afrin besetzt. Ihr aber habt nicht einmal eine einzige Entscheidung diesbezüglich treffen können. Ihr hättet z.B. den syrischen Luftraum für die türkische Luftwaffe sperren können. Doch ihr habt das nicht getan. Ihr wart dazu nicht in der Lage. Dieser Fehler muss jetzt korrigiert werden.“ In Bezug auf Idlib trifft das Regime derzeit eigene Vorbereitungen. Sie sagen, es gäbe keine andere Möglichkeit, als Idlib zurück zu erobern.
Besteht die Möglichkeit, dass in Zukunft von Seiten des Regimes in Idlib mit den militärischen Kräften der Demokratischen Föderation Nordsyrien zusammen gearbeitet wird? Wurde diese Möglichkeit diskutiert?
Nein, das wurde nicht diskutiert, denn das ist eine militärische Frage. Wir haben nur über politische und administrative Themen gesprochen. Doch in Afrin wurde die Bevölkerung zur Flucht gezwungen. Auch aus Idlib ist der Großteil der Bevölkerung geflohen. Sie haben daher das Recht auf eine Intervention, um in ihre Heimat zurückkehren zu können und sie aus den feindlichen Händen zu befreien.
Wie lange dauerte die Sitzung in Damaskus?
Die Sitzung dauerte ungefähr drei Stunden.
Wurde dabei über die Türkei, Ankara und das Erdogan-Regime gesprochen?
Natürlich. Das Regime hat klar gemacht, dass es die Türkei als einen Besatzerstaat begreift, den es aus Syrien vertreiben wird.
Haben die Repräsentanten des Regimes über Druck der Türkei gesprochen, nicht mit den Kurdinnen und Kurden zusammen zu arbeiten?
Nein. Das Regime ist derzeit damit beschäftigt, das syrische Problem zu lösen. Sie wollen eine Lösung finden. Sie wissen, dass es in Syrien ein kurdisches Problem gibt. Das wollen sie lösen. Aber wie? Wir sagen, dass es sich nicht nur um ein kurdisches Problem handelt. In Syrien gibt es zahlreiche Probleme. Das ganze syrische Volk hat im Bezug auf Freiheit und Recht Probleme. Es gibt nicht nur Probleme der Kurdinnen und Kurden, einer Nation oder eines einzelnen Bereiches. Das syrische Volk ist mit einer ganzen Reihe von Themen unglücklich. Wir wollen Damaskus demokratisieren. Wir wollen ganz Syrien demokratisieren. Genau darüber sprechen wir mit dem Regime.
Wie ist die ökonomische Situation in Nordsyrien? Sind die Menschen zufrieden oder vermissen sie die Zeit unter Assad?
Nein. Früher fehlte vieles, z.B. Schulen. Die arabische Bevölkerung berichtet, dass trotz ihres Wunsches danach früher nicht überall Schulen eingerichtet wurden. Das Regime hat für sie Jahre lang keine Schulen eröffnet. Jetzt haben sie Schulen. Auch ökonomisch hat sich die Situation der Bevölkerung gebessert. Handel findet heute freier statt. Wer möchte, kann heute ein Geschäft eröffnen oder ein Projekt umsetzen.
Konnte man früher kein Geschäft eröffnen?
Früher gab es dafür viele Vorbedingungen. Die gesamte Wirtschaft befand sich früher in der Hand einer Person. Alle Einnahmen gingen an diese eine Person. Das ist heute anders. Dieses System gibt es heute nicht mehr. Das System hat sich verändert und die Menschen spüren das.
Wir sind über die irakische Grenze nach Qamishlo gekommen. Auf dem Weg hier her haben wir viele Ölförderstationen gesehen. Wie viel Öl gibt es hier in der Region? Von wem werden die Ölförderstationen betrieben?
Dafür gibt es ein Komitee, das an die Demokratische Autonomieverwaltung angeschlossen ist. Dieses Komitee kümmert sich um alle ökonomischen Aktivitäten, inklusive des Öls.
Wie war das früher?
Früher wurde das zentralistisch verwaltet. Alle wirtschaftlichen Einnahmen flossen nach Damaskus. Hier in der Region blieb früher nichts übrig.
In ihrem Land, in Syrien, befinden sich derzeit sechs verschiedene militärische Kräfte. Es gibt das Regime, Ihre Kräfte, die USA, Russland, die Türkei und den Iran. Israel und die Dschihadisten könnte man noch hinzufügen. Wie werden sie mit all diesen Kräften fertig?
(lacht) Tja, das ist nicht ganz so einfach.
Ihr Land scheint sehr anziehend zu sein. Alle wollen hier her kommen und bleiben. Warum? Und wie treten sie dem entgegen?
(lacht) Wir sind wohl ein sympathisches Land! Natürlich ist es nicht einfach mit einer solchen Vielzahl von Kräften umzugehen. Jedes Land und jede Kraft verfolgt ihre eigenen Interessen. Wir haben eine Offensive gegen den Islamischen Staat (IS) begonnen und sie gemeinsam mit der Internationalen Koalition weiter geführt. In unserer Region haben wir einen großen Erfolg feiern können. Diese Region ist wichtig. Sie ist reich und hat politisch gesehen eine bedeutende Zukunft. Daher interessieren sich alle für uns. Nicht weil sie uns übermäßig lieben…
Wie sahen ihre Beziehungen zur Türkei anfangs aus? Wie entwickelten sie sich? Wie sind sie derzeit beschaffen? Welche Art von Beziehungen möchten sie zu Ankara aufbauen?
Bisher waren unsere Beziehungen von einer großen Krise geprägt. Die Türkei hat nicht nur hier, sondern im ganzen Mittleren Osten eine sehr negative Rolle gespielt, ganz besonders in Syrien. Sie hat stets die islamistischen Gruppen unterstützt. Trotzdem haben wir immer darauf gesetzt, unsere Beziehungen zur Türkei aufrecht zu erhalten. Doch das hat nicht geklappt. Denn die Türkei will die Kurdinnen und Kurden vollständig vernichten. Im Irak haben sie gezwungenermaßen zu einer kleinen kurdischen Gruppe Beziehungen aufgebaut. Allen anderen Kreisen gegenüber verhalten sie sich feindlich. Nur mit einer einzigen Partei unterhalten sie Beziehungen. Das bedeutet aber nicht, dass Erdogan die Kurdinnen und Kurden akzeptiert. Die türkische Regierung betrachtet alle Kurdinnen und Kurden als Terroristen, die sie vernichten muss. Die Türkei muss sich aus Afrin zurück ziehen. Sobald das geschehen ist, können wir ein neues, ein positives Kapitel aufschlagen. Auch was die Kurdinnen und Kurden in der Türkei betrifft sind wir der Überzeugung, dass der Krieg nirgendwohin führt und nicht endlos fortgeführt werden kann. Die Türkei muss einen politischen Prozess beginnen. Die dortige Organisation und das dortige Volk müssen anerkannt werden. Dann muss man sich gemeinsam hinsetzen und ernsthaft über eine Lösung reden.
Wie sehen sie eine mögliche Lösungsphase? Wird es erst in Syrien zu einer Lösung kommen und anschließend das kurdische Problem in der Türkei gelöst werden? Oder muss zuerst die kurdische Frage in der Türkei gelöst werden?
Wenn es nicht zu einer großen Krise in der Türkei kommt, wäre eine Lösung des dortigen Problems sicherlich von Vorteil. Denn die Türkei verhält sich immer wie ein Feind. Was auch immer wir hier tun, die Türkei nimmt dazu stets eine feindliche Haltung ein.
Von der Türkei aus betrachtet sieht es folgendermaßen aus: Solange die Türkei die Kurdinnen und Kurden in Syrien gegen sich aufbringt, erscheint eine Lösung der kurdischen Frage in der Türkei schwer. Aber wenn die kurdische Frage in Syrien gelöst wird und die Kurdinnen und Kurden dort einen Status erhalten, kann auch die Türkei ihr eigenes Problem leichter lösen.
Das hätte natürlich einen Einfluss. Aber die Türkei behindert das die ganze Zeit. Wir sagen z.B., dass wir das Problem hier vor Ort gemeinsam mit dem syrischen Regime lösen werden. Aber dann müssen wir dabei zusehen, wie die Türkei direkt am nächsten Tag eine Delegation nach Damaskus schickt, um von einer Zusammenarbeit mit uns abzuraten. Die Türkei versucht alles zu zerstören.
Im Original erschien der Artikel am 18.08.2018 unter dem Titel “Eskiden kimlikleri bile yoktu, şimdi bir toplum kuruyorlar” auf der Homepage des Nachrichtenportals Artı Gerçek.