Die Verfassungs-, Präsidentschafts- und Staatsdebatte in Südkurdistan

südkurdistanRojbin Eken, Juni 2015

Südkurdistan gehört zu den am meisten diskutierten Regionen des Mittleren Ostens und Kurdistans. Neben Rojava war auch Südkurdistan von den massiven Angriffen durch den Islamischen Staat  (IS) betroffen. Sengal (Sindschar), Mahmur und Kirkuk wurden zum Schauplatz des im letzten Jahr gegen den IS durchgeführten Widerstandes. Zwar waren die Angriffe in Südkurdistan nicht so intensiv wie in Rojava, doch hatte der IS auch hier die Absicht diese Region Kurdistans zu besetzen. In diesem Sinne haben die IS-Truppen versucht, Anfang August 2014, von Sengal, Kirkuk und Mahmur aus auch die Stadt Erbil, welche die Hauptstadt und zugleich auch der Sitz der Regierung der Autonomen Region Kurdistans im Irak ist, zu besetzen. Die von den kurdischen Kräften gemeinsam errichtete Verteidigungslinie verhinderte, dass die IS-Truppen in der Region weiter vordringen und an Boden gewinnen konnten. Dennoch ist der IS in den Regionen um Sengal, Mahmur und Kirkuk präsent. Sengal ist noch immer von den IS-Truppen besetzt und tausende ezidische KurdInnen waren gezwungen zu fliehen. Ihre ganze Hoffnung liegt in der Befreiung ihrer Stadt.

Wer wird Sengals Zukunft bestimmen?

Die Wunden, die durch den IS- Terror entstanden sind, können nur geheilt werden, wenn Sengal von den IS-Truppen befreit wird und die Stadt an ihre Bevölkerung  zurückgegeben wird. Die Volksverteidigungseinheit YBŞ-YPJ, welche von jungen ezidischen Frauen und Männern gebildet wird, leistet noch immer, an der Front, zusammen mit der Volksverteidigungseinheiten HPG-YJA, Widerstand gegen den Islamischen Staat.

Tausende von EzidInnen befinden sich noch immer in dem von der HPG-YJA und YBŞ-YPJ kontrollierten Sindschar Gebirge. Unter unzureichenden Bedingungen versucht die ezidische Bevölkerung im Sindschar Gebirge, einerseits den Widerstand gegen den IS fortzuführen und andererseits ein demokratisches System aufzubauen. Das 2015 ausgerufene Sindschar Gründungsparlament ist ein Teil dieses Systems. Dieses Volk, welches versucht sich selber zu verteidigen, will mit diesem Schritt der Öffentlichkeit vermitteln, dass es nicht nur alleine über sein Selbstbestimmungsrecht verfügt, sondern diese Autonomie auch gesellschaftlich lebt. Mesut Barzani und seine Partei KDP, welche von diesen Ereignissen sichtlich gestört waren, haben auf die Forderung nach Selbstbestimmung seitens der ezidischen Bevölkerung mit einer Nicht – Anteilnahme an den Befreiungsaktionen und des Widerstandes gegen den IS- Terror geantwortet. Nachdem die KDP Sindschar dem Islamischen Staat überlassen hat und geflohen ist, hat sie in der kurdischen Gemeinde großen Verlust ihres Ansehens erlitten. Und jetzt versucht die KDP, die Sindschar beinahe als eine empfindliche und rote Linie deklariert hat, ohne eine Kooperation mit den anderen kurdischen Kräften, die sich in der Region befinden und von Beginn an einsetzen, Sindschar auf eigene Faust von den IS-Truppen zu befreien. Der einzige Faktor, der diese Situation ändern wird, ist der Widerstand, der von den HPG und YJA Star Volksverteidigungseinheiten in Sengal geführt wird.

Welchen Status wird Kirkuk haben?

Eine andere Front, in der machtpolitische Interessen und militärische Aktivitäten sich weiter fortsetzen ist Kirkuk. Die Angriffe des IS und deren Kontrolle über mehrere Dörfer, hat dazu geführt, dass diese Front  zu den am meisten umkämpften Gebieten gehört. Der Widerstand der  Verteidigungseinheiten der KurdInnen in der Region um Kirkuk hat den IS zurückgedrängt.

Aber immer noch befinden sich viele Dörfer im Westen  von Kirkuk unter der Kontrolle des IS. In diesem Gebiet, wo die Bedrohung des IS alltäglich ist, mussten die Kaka’i und Schabak KurdInnen, die seit Jahren ihren Glauben gelebt und geschützt haben,  ihr zu Hause verlassen und sich auf die Flucht begeben. Natürlich sind die Diskussionen über den Status von Kirkuk, die gem. dem Art. 140 der irakischen Verfassung bewertet wird, voll im Gange und aktuell. Nach der in letzter Zeit von der kurdischen Regionalregierung im Nordirak, vorangetriebene mediale Debatte für eine neue Verfassung, ist mittlerweile Kirkuk zum Gesprächsthema Nummer eins geworden. In Kirkuk leben neben den AraberInnen, TürkmenInnen und KurdInnen auch AnhängerInnen verschiedenster Religionen z.B. AssyrerInnen, Kakai-KurdInnen und SchiitInnen. Welchen Status Kirkuk bekommt, hängt ohne Zweifel von der gemeinsamen Entscheidung der dort lebenden Völker ab. Hätte man diese Entscheidung alleine einer Regierung oder einem Parlament überlassen, wäre Kirkuk schon längst ein  Teil der kurdischen Regionalregierung oder der irakischen Zentralregierung. Die kurdische Regionalregierung hat auch im Rahmen der Vorbereitungen für eine neue Verfassung Richtung Kirkuk die Arme ausgestreckt. Im Verfassungsentwurf der kurdischen Regionalregierung wird deshalb schon Kirkuk zur Hauptstadt der Region Kurdistans ernannt. Offensichtlich versuchen die KDP und YNK, die in dieser Region sehr stark sind, ihre Macht auszubauen und agieren deshalb vermehrt politisch. Natürlich ist Kirkuk aus der Sicht der KurdInnen ein wichtiges Gebiet. Um das kulturelle Mosaik und die verfassungsrechtliche Anerkennung der Minderheiten in dieser Region zu beschützen, braucht es allerdings einer noch demokratischere Herangehensweise und eine gleichberechtigte Partizipation für die Festlegung des Status von Kirkuk. Diese Entscheidung ist ein äußerst wichtiger und bedeutender Schritt für die Zukunft der KurdInnen, AraberInnen und TürkmenInnen.

Die wirtschaftliche Krise in der Region

Die kurdische Region birgt im Allgemeinen eine fragmentierte Struktur, die auch in Südkurdistan deutlich wird. Dies spiegelt sich sowohl im Inneren als auch nach außen wieder. Die Region wird immer komplexer und zeigt sowohl in wirtschaftlicher, politischer als auch sozialer Hinsicht immer mehr Instabilität auf. Die Zentralregierung  wird durch die autonome Region Kurdistans kaum finanziell unterstützt. Als Rechtfertigung wird der Kampf mit dem IS angeführt. Darunter leiden insbesondere all jene, die in öffentlichen Einrichtungen offiziell arbeiten, sowie die Peshmerga. Der Mangel an wirtschaftlicher Unabhängigkeit der Region sowie der Mangel einer langfristigen wirtschaftlichen Politik mit der Zentralregierung, beeinflusst damit auch den Lebensstandard der Menschen in der Region. Obwohl Investitionen außerhalb der Region gemacht werden ist der Gewinner dieser Investitionen die herrschende Elite.

Eine weitere Entwicklung ist die im letzten Monat auf der Tagesordnung stehenden Vorbereitungsarbeiten für eine Verfassung der Regierung, sowie die im August zu endende Funktionsperiode vom Präsident Massoud Barzani. Die für die Verfassung ermittelte, aus 21 Personen bestehende Kommission, stellt die Mehrheit der Parteien im Parlament dar. Die KDP wird dabei durch sieben Abgeordnete vertreten und andere Parteien mit bis zu vier Personen. Strittig ist jedoch, wie weit die aus verschieden Mentalitäten ausgestatteten Parteien eine demokratische, gleichberechtigte Verfassung vorbereiten können. Sehr auffällig ist dabei, dass den Frauen und Jugendlichen kein Mitspracherecht eingeräumt wird. Während Frauen in Nordkurdistan oder auch Rojava gleichberechtigt in der Politik als auch in gesellschaftlicher Hinsicht vertreten sind, kann man das Gleiche nicht für Südkurdistan behaupten. Selbst wenn von dieser Verfassung die Zukunft von Südkurdistan abhängt, erfahren diesbezügliche Arbeiten nicht ausreichende Unterstützung aus anderen Teilen Kurdistans. Die Zukunft wird vielmehr dem Geist und der Kraft des Mannes unterworfen. Neben der Gruppe der Frauen finden auch die religiösen Gruppen und Minderheiten kein Platz und bekommen somit keine Stimme für ihre Belange und Realität.

Die Hoffnung Barzanis von der Präsidentschaft und von einem Staat

Es gibt zwar noch nicht offensichtlich die „ Eine Nation – eine Fahne – ein Vaterland – ein Staat“-Haltung, aber wenn der kurdische Staat, von dem Barzani und auch ein Großteil der Bevölkerung in Südkurdistan träumen, verwirklicht wird, dann ist ein Nationalismus, der Identitäten vor allem über Aus- und Abgrenzung bildet, unvermeidlich.

Das ist das einzige mit dem sich die Bevölkerung in Südkurdistan momentan trösten lässt. Mit diesem Traum eines Staates wird versucht die Bevölkerung hinzuhalten. In seinen Medien hat er seine vergangene Amerikareise in diesem Sinne gegenüber der Bevölkerung propagiert

Für Unabhängigkeitsbefürworter wie es auch Barzani zu sein scheint, sind diese Hoffnungen und Worte glaubhaft und schmeichelnd. Aber die Realität ist, dass die USA Barzani klar mitgeteilt hat, dass sie für den Fortbestand eines einheitlichen Iraks sind. Das in Aussichtstellen eines unabhängigen Staates nutzt Barzani für eine weitere Periode als Präsident und für die Festigung seiner Vormachtstellung. Es wäre nicht übertrieben, wenn gesagt wird, dass Barzani die Träume der AKP von einem Präsidialsystem in der Türkei jetzt schon in Südkurdistan praktiziert. Es besteht kein Zweifel darüber, dass beide sich in diesem Thema einig sind und die gleiche Mentalität besitzen. Der Kandidatur der HDP in der Türkei hat sehr viele revolutionäre, demokratische und fortschrittliche Gruppierungen zusammengebracht. Auch die Menschen in Südkurdistan haben die HDP unterstützt. Parlamentarier der YNK und der Partei Goran haben Unterstützungsreisen nach Nordkurdistan unternommen. Aber die KDP und Barzani haben bis jetzt keine einzige Unterstützungserklärung an die HDP abgegeben.

Diese Wahlen waren nicht nur für Nordkurdistan historisch wichtig, sondern für Kurdistan als Ganzes! Ohne diesen Erfolg der HDP wäre das Ausbrechen des Krieges in Nordkurdistan unabwendbar gewesen. Trotz dieser Tatsachen hat sich die Haltung der KDP nicht geändert. Es gab kein offizielles Zusammenarbeiten der KDP und AKP, jedoch zeigen diese Einzelheiten, dass es ein geheimes Zusammenwirken gibt. In Rojava (Westkurdistan) wird sich zeigen, ob sich die Linie der demokratischen Nation durchsetzen wird und sich Rojava mit den anderen Teilen vereinen oder ob sich der Nationalstaatsgedanke durchsetzen wird. Auch durch die Erfolge der Kurdischen Bewegung gegenüber dem IS zeigt, dass die PKK durch internationale Unterstützung und Solidarität, Erfolg und Freiheit bringen kann. Es liegt nun an der südkurdischen Politik sich diesem Friedens- und Erfolgskurs anzuschließen und Südkurdistan in eine klare und positive Zukunft zu führen.