Aktuelle Bewertung von Nilüfer Koç, Ko-Vorsitzende des Kurdistan-Nationalkongresses (KNK); für den Kurdistan Report November/Dezember 2017
Der Krieg im »kleinen« Land Syrien hat weiterhin große Auswirkungen auf die regionale wie globale Politik. Endlich aber nähert man sich langsam einer politischen Lösung. In der »großen Schlacht« um Raqqa, die sogenannte Hauptstadt des Islamischen Staates (IS/Daesch), ist nunmehr ein Ende in Sicht. Unter Führung der kurdischen Volks-/Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) haben es die Kämpfer und Kämpferinnen der Demokratischen Kräfte Syriens (Quvvetin Suriya Demokratik, QSD; engl. auch SDF) binnen vier Monaten geschafft, die Stadt und die gesamte Region um Raqqa zu 98 % zu befreien. Die Offensive hatte am 6. Juni dieses Jahres begonnen. Es fehlen kleine Stadtteile im Stadtzentrum, dann ist die Schlacht gewonnen. Genauso wie die Kurden am 7./8./9. Oktober 2014 beharrlich um Kobanê kämpften, so tun sie es heute gegen den IS in Raqqa. Die damalige große Schlacht um Kobanê war zu einer nationalen Sache der kurdischen Ehre geworden, der Sieg von Kobanê war auch der Beginn des Zerfalls des IS-Mythos. Fällt dessen Hauptstadt Raqqa, so fällt der IS insgesamt. Um das zu vermeiden, hat er etwa 2.000 Zivilisten als Geiseln in den kleinen Stadtteilen im Stadtzentrum gehalten. Die werden als Schutzschilde benutzt, was den Befreiungskampf der QSD-Kräfte maßgeblich behindert.
Grenze zwischen Demokratie und Diktatur wird konkreter
Parallel zu Raqqa wurde durch die QSD vor einem Monat eine zweite Offensive auf die Region Deir az-Zor (Grenzgebiet zwischen Irak und Syrien) eröffnet. Nördlich des Firat (Euphrat) haben die QSD-Kräfte die Kontrolle erlangt, südlich versucht das Baath-Regime den Fluss nach Norden zu überqueren, wird aber durch die QSD gestoppt. Der Fluss ist nunmehr zu einer natürlichen Grenze zwischen dem demokratischen Norden Syriens und dem immer noch diktatorischen Baath-Regime geworden. Hierbei handelt es sich um eine politische Grenze. Eine Grenze zwischen Demokratie und Diktatur.
Wahlen in Nordsyrien
Jenseits der militärischen Befreiungsoffensiven gibt es auch revolutionäre Entwicklungen im gesellschaftlichen Bereich. Am 22. September gingen die Bürger und Bürgerinnen für die Wahl der Ko-Vorsitzenden der Kommunen zu den Wahlurnen. Die Kommunen bilden die Grundlage der radikalen Demokratie, was die direkte Praktizierung des Selbstbestimmungsrechts auf der Grundlage der Basisdemokratie bedeutet. Die Kommunen sind im vernetzten und sehr kompliziert aufgebauten System des Demokratischen Föderalismus Nordsyriens der Boden der Demokratie. Über die Kommunen ist die Demokratie Nordsyriens von unten nach oben errichtet worden. Mit einer Beteiligung von 82 % der Bevölkerung stimmten Kurden, Araber und Assyrer für diese Demokratie. Jede der Volksgruppen hatte ihre eigenen Kandidaten. Zudem wurde die politische Doppelspitze, also jeweils eine Frau und ein Mann, zu Ko-Vorsitzenden gewählt. In vielen Gebieten gingen zum ersten Mal arabische Frauen an die Wahlurnen. Entsprechend den patriarchalischen Normen hatten die meisten arabischen Stämme ihren Frauen nicht erlaubt, selbst zu wählen. Das Baath-Regime, auf dem Papier säkular, modern und sozialistisch, hatte diesen arabischen Regeln bislang zugestimmt gehabt. Zum ersten Mal gingen nun tausende arabische Frauen in Nordsyrien am 22. September 2017 ihre Kandidaten wählen. Im Gebiet Efrîn beteiligten sich zum ersten Mal die weit verstreut lebenden Roma- und Sinti-Gruppen.
Die Wahlen waren begleitet von einer Begeisterung und Entschlossenheit aller Volksgruppen, der Frauen und Männer, obwohl das Baath-Regime alle erdenklichen Maßnahmen der Gegenpropaganda ergriffen hatte. Das Wahlergebnis wurde dann als politische wie auch eine Volksabstimmung über die Demokratische Föderation Nordsyrien (DFNS) interpretiert.
Türkei will den IS retten
Während der revolutionäre Prozess im Norden Syriens militärisch, politisch als auch gesellschaftlich systematisch voranschreitet und sich seine Strukturen konkretisieren und institutionalisieren, wird er aber auch von starker Gegenwehr begleitet. Es ist die Türkei, die alles daransetzt, Nordsyrien zu hindern, seine Demokratie zu konsolidieren und auf Gesamtsyrien auszuweiten. Denn neben den Lösungsansätzen in Nordsyrien hat das Demokratische Parlament Syriens (MSD), das aus allen Volksgruppen wie Kurden, Arabern, Assyrern, Turkmenen etc. bestehende politische Organ, auch seine Anstrengungen zur Ausarbeitung einer Verfassung für ganz Syrien intensiviert. In den befreiten Gebieten um Raqqa und Deir az-Zor gründen das MSD und die politische Führung der DFNS Volksparlamente. Hier werden nicht nur die zerstörten Städte und Dörfer aufgebaut, sondern auch die Demokratie. Diese Entwicklung und vor allem die erfolgreiche militärische Befreiung Raqqas und Deir az-Zors hat die AKP-Regierung der Türkei in Panik versetzt. Nachdem Staatspräsident Erdoğan die USA und Russland auf dem UN-Gipfel vor einigen Wochen nicht von einer gemeinsamen militärischen Intervention in Nordsyrien überzeugen konnte, leistet sie sich im Alleingang eine Gegenoffensive. Um die Kampfkraft der QSD in Raqqa und Deir az-Zor aufzuspalten, hat sie die Zahl ihrer Soldaten an der Grenze zu Idlib aufgestockt. Am 8. Oktober, auf der AKP-Sitzung in Afyon, rechtfertigte Erdoğan die Idlib-Operation mit den Worten »Wir wollen kein neues Kobanê erleben«. Der Zeitpunkt seiner Äußerung birgt einen historischen »Zufall«. Denn die Entscheidung des Sieges von Kobanê fiel in den Tagen des 6./7./8. Oktobers 2014. Kurden aus aller Welt hatten sich damals gegen Erdoğans Stoßgebete »Kobanê wird fallen« erhoben. Nicht Kobanê, aber Erdoğan fiel. Denn der Sieg von Kobanê war der Beginn der Niederlage des IS, der maßgeblich als türkisches Werkzeug gegen die Kurden eingesetzt wurde.
Mit der kompletten Befreiung von Raqqa als IS-Zentrale wird der IS Geschichte werden. Daher hat die türkische Militärintervention in Idlib das Ziel, ihn am Leben zu erhalten. Bislang wurde der IS logistisch und personell sowie militärisch über Idlib ernährt. Seine Kämpfer wurden über Idlib in Nord- und Gesamtsyrien eingeschleust. Ein anderer Grund ist der geplante militärische Angriff auf die kurdische Stadt Efrîn, die in Mittelmeernähe liegt. Die Türkei will mit der Besetzung Efrîns verhindern, dass im Falle einer politischen Lösung Erdöl und -gas Nordsyriens über die Kurden zum Mittelmeer auf den Weltmarkt gelangt, dafür will sie diese Energietransportroute selbst unter Kontrolle bekommen. Wenn Efrîn nicht belagert werden kann, dann soll von südlich gelegenen Militärstützpunkten ausgehend die Region Efrîn umzingelt und dadurch die Kontrolle gewonnen werden. Ankara nennt diese Besatzungsstrategie »Verhinderung der Planung von kurdischem Korridor zum Mittelmeer«.
Eigens zu diesem Zweck hat die AKP-Regierung ein neues Abkommen mit Hayat Tahrir asch-Scham geschlossen, die ohnehin in Idlib agieren. Dschabhat al-Nusra gilt als langjähriger Bündnispartner der Türkei, nun unter dem neuen Namen Hayat Tahrir asch-Scham, im Grunde eine andere Version des IS.
Die Türkei mit ihrer eindeutigen antikurdischen Politik war Ende 2014 in Kobanê gescheitert, das wird sie auch in Raqqa und Deir az-Zor. Der IS wird hier zur Geschichte werden. Seine einzige Möglichkeit sind Zivilisten als Schutzschilde und Geiseln. Die Kurden mit allen anderen Partnern der DFNS bereiten sich politisch auf den Endspurt im Syrienkrieg vor. Nach den erklärten Siegen von Raqqa und Deir az-Zor wird die Zukunft Syriens nun nicht mehr auf dem Schlachtfeld, sondern an den politisch-diplomatischen Verhandlungstischen zur Agenda werden. Sowohl die Kurden als auch ihre Bündnispartner, die Vertreter der einzelnen Volksgruppen, sind bereit für den Verhandlungstisch. Sie haben ein Verwaltungsmodell geschaffen, das nicht mehr rückgängig zu machen und zuletzt durch die Kommunalwahl bestätigt worden ist. Es werden nunmehr im Dezember Kantonal- und Regionalparlamentswahlen stattfinden, zuletzt im Januar 2018 die letzte Wahl der höchsten Instanz, nämlich des DFNS-Parlaments. Diese Planung ist nicht aufzuhalten, da sie auf einer gefestigten Grundlage entwickelt wird.
In Syrien gescheitert – neuer Anmarsch auf Südkurdistan
Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Türkei mit ihrer antikurdischen Politik in Nordsyrien gescheitert ist. Nun aber versucht sie ihr Glück in Südkurdistan (Nordirak). Dazu lieferte das Referendum am 25. September 2017 für einen unabhängigen kurdischen Staat vor allem für die Türkei einen Anlass, erneut aktiv in die Politik des Mittleren Ostens einzugreifen. Erdoğan sucht nun für seine kurdenfeindliche Politik ein Bündnis mit Irak, Iran und Syrien. Dafür pendeln hochrangige türkische Militärs wie Politiker zwischen Ankara, Teheran, Bagdad und Damaskus. Denn auch diese haben sich vehement gegen den kurdischen Staat ausgesprochen. Ankaras vorrangiges Ziel mit Bagdad ist es, eine kurdisch-arabische Feindschaft anzustacheln. Das hatte es sieben Jahre lang in Nordsyrien versucht, war aber an der stabilen Vertrauensbasis zwischen Arabern und Kurden gescheitert. Mit Teheran versucht es mit der ohnehin aggressiven Politik gegen die Kurden einen Krieg anzuzetteln. Erdoğan geht so weit, dass er im Namen dieser Staaten tätig wird – als sei er ihr Sprecher. Politisch wird das allerdings nicht aufgehen können. Iran hegt genauso wie die Türkei Großmachtansprüche in Nah- und Mittelost. Im Falle einer iranischen Militärintervention in Südkurdistan wird sich die PKK zu Wort melden, da sie es als Angriff auf ganz Kurdistan verstehen wird. Mehrere hochrangige PKK-Politiker haben dies bei der Darstellung ihrer Politik gegen die Türkei für den Fall einer türkischen Invasion erklärt. Das gilt für Iran als auch für alle anderen, die vorhaben, Südkurdistan anzugreifen. Das begreift die PKK als patriotische Selbstverständlichkeit. Iran steht außenpolitisch stark unter Druck. Vor allem vor dem Hintergrund, dass die USA mit sunnitischen Arabern wie Saudi-Arabien und Ägypten einen arabischen Block um Iran zu bilden versucht. Zum anderen erlaubt die wirtschaftliche Situation keinen zusätzlichen Krieg gegen die Kurden. Denn Iran investiert fast die gesamten Staatseinnahmen für seine interventionistische Kriegspolitik in fast allen Regionen des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas. Außerdem sind die 15 Millionen Kurden in Iran durch die kurdischen Erfolge in Nordsyrien bereit für einen Systemwechsel. Hier hat die Demokratische und Freie Gesellschaft Ostkurdistans (KODAR) großen Einfluss auf die Bevölkerung, aber auch eine starke Guerillapräsenz. Ebenso wird sich Irak keinen Krieg mit den Kurden leisten, da er dafür weder außenpolitische Unterstützung noch wirtschaftliches Potential hat.
Ob die Türkei mit der Idlib-Intervention Erfolg haben wird, ist fraglich, da weder Russland noch Iran oder Syrien ernsthaft Interesse an einer Aufteilung der Macht mit der Türkei haben. Die Türkei hatte sich für diese Staaten im vergangenen Dezember als nützlich erwiesen, da sie nach der Niederlage in Aleppo letzten Endes auf Veranlassung Russlands und Irans ihre bisher gestützten IS- und Al-Qaida-Gruppen selbst schwächen musste, indem sie sie zum Rückzug zwang. Nicht nur die Türkei, auch Russland, Iran und vor allem Syrien haben großes Interesse daran, den kurdischen Korridor zum Mittelmeer jeweils selbst zu kontrollieren. Hier wird es im globalen Maßstab zu einer neuen Energietransportroute kommen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die genannten Bündnispartner der Türkei ein ähnliches Vorgehen wie in Aleppo auch in Idlib beabsichtigen, ist daher hoch.
Das Referendum – ein Machtspiel mit dem Feuer
Die Volksabstimmung in Südkurdistan über einen kurdischen Staat hat die AKP zum Anlass genommen, ihre Niederlage in Nordsyrien zu begleichen. Hier glaubt sie Resultate zu erzielen, da sie aufgrund ihrer strategischen Beziehung zur Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) nicht nur Einfluss auf die Wirtschaft, sondern auch auf weite Bereiche der Politik in den PDK-Gebieten hat. Dort unterhält sie zudem 15 Militärstützpunkte in Grenznähe. Erdoğan hat seine Ablehnung der kurdischen Regionalregierung (KRG) des Öfteren kundgetan, verwies darauf, dass die Türkei 2003 einen großen Fehler begangen habe, indem sie der Bildung der KRG zugestimmt hatte. Nun sieht er offensichtlich die Chance, diesen Fehler zu korrigieren.
Das Recht auf Selbstbestimmung ist ein selbstverständliches Recht des kurdischen Volkes. Es steht den Kurden unbestreitbar zu, über ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Jahrhundertelang haben sie jede erdenkliche Brutalität erfahren. Den Grund dafür sahen sie in ihrer staatenlosen Identität. Mit dem Wunsch nach einem eigenen Staat glaubten und glauben viele, dass sie an Macht gewännen, was sie vor Angriffen von außen schützen würde. Fragt man nach einem allgemeinen Grund, wird darauf hingewiesen, dass die Kurden Opfer geworden seien, weil sie keinen Staat hatten. Diese Überzeugung sitzt sehr tief und hat unmittelbar mit der Brutalität der Kolonialstaaten zu tun, der sie ausgesetzt waren. Es ist daher wichtig, diese Psychologie der Kurden zu verstehen.
Allerdings gibt es kurdische Parteien und Politiker, die leider mit dem Versprechen eines kurdischen Staates mit dem uralten Traum spielen und wirtschaften.
In einem weiten Rahmen wurde der kurdische Traum zum politischen Instrument der Machtpolitik in Südkurdistan. Das Referendum am 25. September sollte vielmehr der Machterhaltung der PDK dienen und deren Vorsitzenden Herrn Mesûd Barzanî für die kommenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stärken. Seit dem IS-Angriff von 2014 leiden sowohl der jetzige KRG-Präsident wie auch seine Partei unter einem großen Imageverlust. Denn sie konnten den Angriffen des IS auf Şengal (Sindschar), Maxmûr und Kerkûk nicht standhalten. Die PKK war herbeigeeilt und hatte einen Massenmord an Êzîden in Şengal sowie den Durchmarsch des IS über Maxmûr nach Hewlêr (Erbil), der Regionalhauptstadt, verhindert. Ferner hat der PDK die über ein strategisches Bündnis hinausgehende Freundschaft zur AKP-Regierung mehr Probleme bereitet. Nicht nur die Kurden waren mit dieser Beziehung einverstanden, auch viele internationale wie regionale Mächte. Dass die AKP auf Seiten des IS und anderer Banden stand, war ein offenes Geheimnis. Sich politisch, wirtschaftlich und diplomatisch auf eine immer schwächer werdende Kraft zu konzentrieren, hat der kurdischen Sache insgesamt geschadet.
Vom Freund zum Feind
Die Türkei hat seit dem Umbruch im Nahen/Mittleren Osten ihre Bündnispartner schrittweise ausgespielt. Angefangen von der NATO bis hin zu Staaten, mit denen sie strategische Bündnisse unterhielt, hat sie aufgrund ihrer eigensinnigen Machtpolitik gegenwärtig mit allen ein Problem. Mit den arabischen Staaten wie Saudi-Arabien und Katar zusammen hatte sie lange Zeit mit dem sogenannten sunnitischen Block den IS etc. unterstützt. Im Dezember letzten Jahres hat sie sich dann nach der Niederlage in Aleppo auf die Seite des von Russland, Iran und Syrien getragenen sogenannten schiitischen Lagers geschlagen.
Der AKP blieb als einziger treuer Freund Mesûd Barzanî mit seiner Partei, der PDK. Mit dem Referendum hat KRG-Präsident Barzanî vor den geplanten Wahlen im November 2017 seine Macht zu sichern versucht. Nun steht seine Machtpolitik gegen die Erdoğans. Es vergeht kaum ein Tag, an dem türkische Medien nicht Barzanî beschimpfen. Selbst Erdoğans Äußerungen über Barzani sind weit jenseits politischer Kultur und geprägt von Beleidigungen. Hier gilt nun die Frage, wird Barzanî seine bisherige Türkeipolitik ändern oder weiterhin der einzige Freund bleiben, der Erdoğans Regime auf den Beinen hält. Da sich die Politik der PDK und ihres Vorsitzenden wenig um die kurdische Sache dreht, dafür mehr auf seine eigene Machtpolitik konzentriert ist, sollte man von patriotischen Erwartungen absehen.
Dass es sowohl der PDK als auch Barzanî nach dem Referendum nicht um die Ausrufung eines kurdischen Staates, sondern mehr um eigene machtpolitische Interessen ging, ist heute offensichtlicher denn je. Ein Realpolitiker wie Barzanî, der sein ganzes Leben in der Politik verbracht hat, dürfte angesichts der politisch instabilen Lage in der Region wissen, dass die Proklamation eines kurdischen Staates gegenwärtig fast unmöglich ist. Viele der westlichen Politiker und Staaten haben dies im Voraus sehr deutlich klargemacht. Auch aus kurdischer Sicht sind die Bedingungen innenpolitisch nicht reif genug, um einen Staat auszurufen. Es gab keine nachvollziehbaren Konzepte über Schritte, Wege und Methoden nach dem Referendum. Nach wie vor ist unklar, ob PDK und PKK bereit sind, ihre militärischen Kräfte, Polizei, Geheimdienste, Sicherheitsbereiche zu vereinigen. Unklar ist aber auch, ob die Checkpoints zwischen den Einflussgebieten der PDK und ihrer Konkurrentin und Koalitionärin, der Patriotischen Union Kurdistans (YNK), aufgehoben werden. Es sind immens viele Fragen, die von der PDK bislang unbeantwortet geblieben sind.
Über die PDK-Medien war vor dem Referendum eine unglaubliche Atmosphäre erzeugt worden, die jeden zum »Ja« zwang. Denn wer es wagte, »Nein« zu sagen, wurde gleich als Vaterlandsverräter hingestellt. So waren etliche politische Parteien in dieser Atmosphäre gezwungen, sich dem Spiel anzuschließen.
Es ist auch anders möglich
Die Kurden genießen seit 2003 einen weitgehend autonomen Status in Irak. Sie haben ihre eigene Armee, Polizei, Geheimdienste, Flughäfen, Medien, Diplomatie, Erdölverkauf, freie Wirtschaft, fast alles, was so ein Nationalstaat hat. Das Einzige, was störte, war der Umstand, dass sie in den UN nicht als Kurden, sondern als Iraker gelten.
Sicherlich ist es an der Zeit, dass dieses Volk mit seinen 40 Millionen von den UN offiziell, politisch und rechtlich als eigenständig anerkannt wird. Denn solange dies nicht der Fall ist, können die Kurden nicht gegen die Unterdrückung durch die Staaten vorgehen, von denen sie verfolgt werden. Ein Volk ohne rechtliche Anerkennung bedeutet, dass es von den Kolonialstaaten wie Freiwild gejagt werden kann. Bei allen bisherigen staatlich verübten Morden an Kurden kann kein Fall vor die internationalen Gerichte gebracht werden. Den Kurden muss durch die UN ein Sonderstatus gewährt werden, sodass sie, auch wenn sie keinen eigenen Staat haben, rechtlich gegen die sie angreifenden Staaten vorgehen können. Es kann nicht angehen, dass sie die Türkei nicht vor den Internationalen Strafgerichtshof bringen können, obwohl sie vehement ihre elementarsten Rechte verletzt. Dasselbe gilt auch für Ostkurdistan und Iran.
Die Kurden in Irak hatten nach Saddam bisher keine gravierenden Probleme. Durch die Ausweitung und Demokratisierung der irakischen Verfassung und Politik wäre es möglich, politisch für mehr Rechte zu kämpfen. Der Dialog mit Bagdad war und ist wichtig. Auch wenn Hewlêr ein Teil Iraks ist, so sah es in den letzten Jahren aus, als würde es Ankara unterstehen. Das hätte nicht sein müssen.
Als Prävention gegen weitere durch die Türkei verursachte Probleme ist es nunmehr wichtig, dass die Kurden in einem Nationalkongress zusammenkommen und eine einheitliche Position im Hinblick auf die Türkei entwickeln. Von der kurdischen Frage haben seit Sykes-Picot und Lausanne viele Mächte profitiert. Deshalb wird es für keine kurdische Kraft einfach sein, im Alleingang gegen den Strom zu schwimmen. Die Entwicklungen in Südkurdistan nach dem Referendum haben erneut deutlich gezeigt, dass sich viele Staaten dieser Frage bedienen wollen. Um das zu verhindern und die Kurden als Spielball, wie am Beispiel Südkurdistan-AKP-Bündnis ersichtlich wurde, auszuschließen, ist eine nationale Einheitsstrategie unter ihnen von größter Bedeutung. Die Türkei hat stets versucht, die PDK gegen die PKK aufzustacheln. Das klassische »Teile und herrsche«-Spiel der Türkei ist jetzt auch in Südkurdistan in Frage gestellt worden. Überhaupt müssen sich die Kurden gegen das türkische Vorhaben, mit Iran, Irak und Syrien eine neue antikurdische Koalition zu bilden, einigen und sowohl Irak als auch Iran und Syrien ihre Bereitschaft zum Frieden darlegen. Denn die Kurden haben mehr ein Problem mit der Türkei. Und nicht nur die Kurden, fast die halbe Welt …