Eine Gruppe von 36 Jurist:innen, Journalist:innen und Akademiker:innen aus sieben verschiedenen Ländern ist im Januar als „Internationale Delegation gegen Isolation“ in die Türkei gereist, um Gespräche mit verschiedenen Institutionen in Istanbul, Ankara und Amed (tr. Diyarbakir) zu führen und an einem internationalen Forum gegen die Isolation von Abdullah Öcalan teilzunehmen.
Zwei der Delegationsmitglieder waren die Berliner Rechtsanwältinnen Miriam Frieding und Anya Lean. In einem von Civaka Azad geführten Interview schildern sie ihre Eindrücke.
Ihr seid als Teil der „Internationalen Delegation gegen Isolation“ in die Türkei gereist. Ziel war es, auf die Isolationsbedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali aufmerksam zu machen. Was habt ihr während eurer Reise erlebt? Mit wem habt ihr euch getroffen?
Anya Lean: Es war eine sehr spannende Reise und wir sind den Organisator:innen der Reise und unseren Gastgeber:innen unendlich dankbar, welche Einblicke sie uns ermöglicht haben. Es war ein Einblick in das herausragende Engagement unterschiedlicher zivilgesellschaftlicher Gruppen, die sich extremen Widerständen entgegenstellen und sich selbst immer wieder in die Gefahr politischer Verfolgung bringen.
Die viertägige Delegationsreise wurde mit einer großen Diskussionsveranstaltung in Istanbul abgeschlossen, bei der zum ersten Mal die drei Delegationsgruppen zusammentrafen und sich über die Erfahrungen und mögliche Strategien austauschen konnten. Die Gruppen bestanden aus jeweils zwölf Personen, meist Jurist:innen, einigen Journalist:innen, Aktivist:innen und Parlamentarier:innen. Eine Gruppe war in Ankara, eine zweite in Amed, die dritte in Istanbul. Großes Oberthema waren die Isolationsbedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali, jedoch hatte jede der drei Gruppen einen unterschiedlichen Fokus. Während die Gruppe in Ankara einen sehr juristischen Fokus hatte, konzentrierten wir uns eher darauf, die Auswirkungen der Isolation auf die Bevölkerung zu dokumentieren.
Wir beide waren mit zehn weiteren Anwält:innen aus fünf europäischen Ländern Teil der Delegation, die nach Amed gereist ist und sich dort mit unterschiedlichen Gruppen getroffen hat. Wir haben uns mit Familienangehörigen der Imrali-Gefangenen Abdullah Öcalan, Ömer Hayri Konar und Veysi Aktaş, mit den Friedensmüttern, mit Med-Tuhad-Fed (Verband zur Unterstützung von Gefangenen und deren Familien) und mit Angehörigen von Gefangenen in anderen Gefängnissen getroffen. Daneben haben wir uns auch mit Kolleg:innen gesprochen, die politische Gefangene vertreten und Mitglieder der ÖHD (Anwaltsvereinigung für Freiheit) sind. Wir haben uns außerdem mit Vertreter:innen des Frauenvereins Rosa, der DBP und verschiedener anderer kurdischer Parteien ausgetauscht.
Ausnahmslos alle berichteten uns von den schwerwiegenden Auswirkungen, die die Isolationsbedingungen auf die Gesellschaft haben – wie die Isolation in alle Gruppen und jede Familie hineinstrahlt. Die Angehörigen der Imrali-Gefangenen berichteten uns über den Schmerz und die Angst, die sie empfinden, nachdem sie seit März 2021 keinen Kontakt mehr zu ihren Angehörigen haben und nicht einmal sicher wissen, ob diese noch leben. Wir trafen eine Mutter, die ihren Sohn seit acht Jahren nicht mehr gesehen hat und der nicht erlaubt wurde, ihren Sohn über den Tod seines Vaters zu informieren.
Was war eure persönliche Motivation für die Teilnahme an der Delegation?
Anya Lean: Ich war lange als Rechtsanwältin im Asylrecht tätig und hatte dadurch bereits einen Einblick in die Verfolgungssituation oppositionell tätiger Personen in der Türkei bekommen. Vor kurzem habe ich dann meinen Job an den Nagel gehängt. Gerade habe ich zum ersten Mal Zeit, mich auf so eine Reise einzulassen. Die Einladung hat mich sofort angesprochen und die Entscheidung war schnell getroffen.
Miriam Frieding: Seitdem ich 2011 im Rahmen meines Jura-Studiums an einem Studienaustausch für zwei Semester in Antalya teilgenommen hatte, habe ich einen starken Bezug zu der Region und zur politischen Situation und Entwicklung. Bereits damals war die politische Situation angespannt, was ich auch selbst erlebte. Die Universität Antalya versuchte damals zum Beispiel, meinen Aufenthalt zu beenden, nur weil ich an einer Demonstration teilgenommen hatte. Mit jedem Besuch und im Kontakt mit Freund:innen konnte ich jedoch miterleben, wie die Situation sich immer weiter zuspitzte und demokratische Rechte immer weiter eingeschränkt wurden. Auch wenn jegliche fortschrittliche Parteien und Bewegungen massive Repression erfahren, so scheint stets die kurdische Bevölkerung und kurdische Bewegung davon am meisten betroffen zu sein.
Als Rechtsanwältin im Migrationsrecht habe ich auch immer wieder von Mandant:innen erfahren müssen, wie sie in der Türkei im Rahmen von politischen Strafverfahren keinerlei Rechte mehr haben und der Rechtsstaat für einen großen Teil der Bevölkerung nicht mehr existent ist. Ich war gespannt darauf, von türkischen Kolleg:innen zu erfahren, wie ihre Arbeit als Rechtsanwält:innen unter dieser Repression aussieht. Ich wollte auch wissen, wie die Menschen in ihrem täglichen Leben damit umgehen, dass ihre Kinder, Brüder, Freund:innen und sie selbst beständig von Repression betroffen sind und in der Haft grundlegende Rechte wie Besuche und Kontakt zu den Inhaftierten verwehrt werden.
Seit fast zwei Jahren besteht kein Kontakt zu den Gefangenen auf Imrali. Die kurdische Bevölkerung fordert ein Lebenszeichen von Abdullah Öcalan. Wie kann der Druck auf die türkische Regierung erhöht werden, um die Isolation aufzubrechen?
Anya Lean: Eine schwierige Frage. Bei allen Treffen haben wir gemerkt, wie wichtig die Person Abdullah Öcalan für unsere Gesprächspartner:innen ist, wie seine Ideen und seine Philosophie ihr Denken prägt. Uns scheint, an seiner Person macht sich das Schicksal der ganzen kurdischen Bevölkerung fest – und letztendlich auch der türkischen Gesellschaft, die einen dauerhaften Frieden will. Seine Isolation ist die Isolation einer ganzen gesellschaftlichen Gruppe. Das ist auch der türkischen Regierung klar, die von dieser Isolation letztendlich profitiert. Sie hat erstmal also kein Interesse, an der bestehenden Situation etwas zu ändern.
Die internationale Staatengemeinschaft hat bisher wenig Willen gezeigt, auf die Einhaltung nationaler oder internationaler Menschenrechtsstandards zu beharren. Stattdessen werden die Menschenrechte geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen geopfert. Trotzdem glauben wir, dass es wichtig ist, immer wieder Aufmerksamkeit auf menschenrechtswidrige Haftbedingungen zu lenken, damit es schwerer wird, diese in Zukunft nicht zu thematisieren.
Bei der Abschlussdiskussion gab es auch die Idee, mehr die Rechte der Verteidigung in den Blick zu nehmen und die Isolationsbedingungen von diesem Standpunkt aus zu kritisieren. Vielleicht findet dieses Argument ja Gehör?
Miriam Frieding: Ich denke auch, dass von der internationalen Staatengemeinschaft deutliche Forderungen kommen müssen und Druck aufgebaut werden muss. Gerade nachdem wir die Entwicklungen zum Beispiel in Russland beobachten konnten, sollte die EU schon allein aus Eigeninteresse eine Sensibilität für die systematische Missachtung von demokratischen und menschenrechtlichen Grundstandards haben und den Verfall eines Rechtsstaates im europäischen Raum nicht einfach geschehen lassen. Angesicht der Tatsache, dass dies bislang kaum geschehen ist, ist es wichtig, dass die Bevölkerung Druck auf ihre jeweiligen Regierungen ausübt und deutlich macht, dass etwas geschehen muss.
Das Europäische Komitee zur Verhinderung von Folter (CPT) hat vor einiger Zeit die Gefängnisinsel Imrali besucht. Der Bericht, den die Vertreter:innen des CPT verfasst haben, ist nicht mit der Öffentlichkeit geteilt worden. Könnt ihr euch erklären, weshalb das CPT diesen Bericht unter Verschluss hält?
Anya Lean: Soweit wir wissen, müssen die Berichte vor der Veröffentlichung immer dem jeweiligen Mitgliedstaat vorgelegt werden. Erst anschließend werden die Berichte veröffentlicht. Es kann also sein, dass der Bericht von der türkischen Regierung noch nicht zur Veröffentlichung freigegeben wurde. Vor dem Hintergrund der äußerst angespannten Lage ist allerdings völlig unverständlich, warum das CPT sich bisher nicht – jedenfalls mit einem vorläufigen Statement – außerhalb eines Berichts geäußert hat.
Miriam Frieding: Dem würde ich zustimmen. Es darf nicht sein, dass so den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit gegeben wird, jegliche ihnen missfallende Äußerung des CPT zu verhindern. Wenn das CPT seinen Bericht aufgrund einer Blockierung durch die Türkei nicht veröffentlichen kann, so müsste dies zumindest entsprechende Konsequenzen der europäischen Staaten zur Folge haben, sie müssten Antworten und weitere objektive Untersuchungen verlangen.
Die Haftbedingungen Abdullah Öcalans sind gewissermaßen ein Spiegelbild der allgemeinen politischen Lage in der Türkei, insbesondere in Bezug auf die kurdische Frage. Die Isolation auf Imrali wird begleitet von einem unerbittlichen Kriegskurs der AKP-Regierung gegen die gesamte kurdische Bevölkerung. Was muss getan werden, damit die Isolation auf Imrali und die Eskalation in Kurdistan ein Ende finden? Habt ihr als Teilnehmer:innen der Delegation euch weitere Schritte überlegt? Gibt es in Hinblick darauf vielleicht auch gemeinsame Planungen mit euren Gesprächspartner:innen in der Türkei?
Anya Lean: In vielen europäischen Staaten wird die PKK als Terrororganisation angesehen. Der Kriegskurs gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei setzt sich hier in Europa und der ganzen Welt fort. Die Repression richtet sich gegen Personen, die sich für die Freiheit der kurdischen Bevölkerung einsetzen. Diese internationale Isolation kann nur durch Solidarität beendet werden.
Konkret haben alle Teilnehmenden der Delegation nach ihrer Rückkehr vor, sich mit unterschiedlichen Gruppen zu treffen und diese über das Thema zu informieren und zu motivieren, sich für eine Beendigung der Isolationshaft zu engagieren. So gab es in den unterschiedlichen Ländern bereits Veranstaltungen und Treffen, zum Beispiel mit der Rechtsanwaltskammer. Weitere sind geplant. Im Juni plant der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) einen großen Kongress in Leipzig. Dazu wollen wir einige der Kolleg:innen aus der Türkei einladen, um uns auszutauschen und weitere Pläne zu schmieden. Wir bleiben dran!
Miriam Frieding: Die Haftbedingungen auf Imrali sind ein Schandmal innerhalb der europäischen Staaten, das auch mit den schlimmsten strafrechtlichen Vorwürfen nicht zu rechtfertigen wäre. Es muss ein größeres Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass es für uns alle in Europa ein Problem darstellt, wenn dies innerhalb Europas einfach geschehen gelassen und von der Gesellschaft und den europäischen Staaten toleriert wird.
Ich sehe es aber auch so, dass die Streichung der PKK als Terrororganisation ein übergeordneter zentraler Punkt ist. Die PKK darf nicht isoliert davon gesehen werden, dass die türkische Regierung einen bewaffneten Krieg gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung führt und mit der Kontrolle der Medien, der Repression, mit dem Austausch von Lehrer:innen, Richter:innen, gewählten Bürgermeister:innen nur noch der Anschein einer Demokratie besteht. Wenn der Rechtsstaat nicht mehr existiert, eine demokratische Kontrolle der Regierung nicht mehr möglich ist und auch die internationale Staatengemeinschaft sich nicht einmischt, welche Möglichkeiten haben dann noch die Menschen, sich für ihre demokratischen Rechte und ihre Menschenrechte einzusetzen? Die Menschen in den kurdischen Gebieten wollen vor allem Frieden, das konnten wir auch auf unserer Reise immer wieder erfahren. Die Bevölkerung in der Türkei, und damit meine ich nicht nur die kurdische, befindet sich in einem Notstand, der ihr nur noch wenige Möglichkeiten zur Verteidigung ihrer Rechte lässt.