Irakische Armee greift Şengal an – 3.500 Menschen auf der Flucht

Seit Sonntag greift die irakische Armee die ezidische Stadt Şengal (Sinjar) an. Die Angriffe richten sich gegen die Stellungen des Asayîşa Êzîdxanê (Sicherheitskräfte der Selbstverwaltung) und der Widerstandseinheiten Şengals (YBŞ). Mehr als 3500 Menschen sind seit Beginn der Angriffe bereits geflohen. Dass die irakische Offensive auf das ezidische Şengal zeitgleich zur türkischen Invasion in Zap und Avaşîn geschieht, weist auf ein koordiniertes Vorgehen mit der Erdoğan-Führung hin.

Seit Wochen vom Irak provozierte Spannungen – deutsche Journalistin wird festgenommen

Schon seit Wochen hat der Irak wiederholt seine Truppen in die Şengal-Region geschickt. Am 18. April, wenige Stunden nach Beginn des türkischen Angriffskrieges in einem anderen Teil Südkurdistans, kam es zu einem ersten Gefecht, nachdem irakische Einheiten einen Kontrollpunkt des Asayîşa Êzîdxanê (Innere Sicherheitskräfte) in der Gemeinde Digurê attackierten. Unmittelbar danach wurden die beiden westlichen Journalist:innen Marlene Förster und Matej Kavčič von der irakischen Armee unter Terrorverdacht festgenommen und aus Şengal nach Bagdad verschleppt. In den darauffolgenden Tagen zog Bagdad massive Truppenkontingente in der Region zusammen.

Großangriff auf Şengal

Vergangenen Sonntagabend startete der Irak schließlich einen umfassenden Angriff auf Şengal. Zunächst wurden in Digurê, Sinunê und Xanesor Verteidigungspositionen der YBŞ, YJŞ und Asayîşa Êzîdxanê von irakischen Spezialoperationseinheiten eingekesselt. Den ezidischen Kräften wurde das Ultimatum gestellt, ihre Stellungen freiwillig zu räumen. Andernfalls werde man ihnen „auf das Schärfste entgegentreten“. Gestern eskalierte die Lage dann. Die irakische Armee setzte Panzereinheiten, schwere Waffen und Kampfhubschrauber gegen die Ezid:innen ein, in Digurê wurden eine Schule und ein YBŞ-Stützpunkt in Schutt und Asche gelegt. Bis zum Einbruch der Dunkelheit fanden teils schwere Auseinandersetzungen statt, auf beiden Seiten gibt es Tote und Verletzte – offizielle Angaben über ihre Zahl liegen noch nicht vor. Der nördliche Teil der Kleinstadt Sinunê, die wenige Kilometer vor der irakisch-syrischen Grenze liegt, sowie einige Orte im Süden Şengals sollen von irakischen Truppen eingenommen worden sein. Die YBŞ und YJŞ konzentrierten sich zuletzt auf die Verteidigung ihrer Positionen im Westen der Region.

Mehr als 600 Familien nach Dihok geflüchtet

Am späten Montagabend hatten bereits mehr als 600 Familien, über 3.500 Menschen, nach Angaben des stellvertretenden Gouverneurs von Dihok ihre Häuser in Şengal verlassen und die Kurdistan-Region erreicht. Viele von ihnen waren erst in der jüngeren Vergangenheit in ihre Heimat zurückgekehrt, nach Jahren in Flüchtlingslagern unter verheerenden und menschenunwürdigen Umständen. Laut den Behörden sollen sie nun wieder in den Camps im Süden Dihoks untergebracht werden. Einige Dörfer in den umkämpften Gebieten in Şengal befinden sich allerdings zwischen den Fronten. In Digurê etwa waren alle Straßen gesperrt, die Bevölkerung faktisch von der Außenwelt abgeschnitten. Forderungen nach einer Evakuierung der Bewohnerinnen und Bewohner stießen bei den irakischen Militärs auf taube Ohren. Auch der Zutritt von außerhalb wurde verweigert.

Hintergrund der Angriffe: Türkisches Ultimatum an Bagdad?

Dass die irakische Offensive auf Şengal zeitgleich zur türkischen Invasion in Zap und Avaşîn geschieht, weist auf ein koordiniertes Vorgehen mit der Führung in Ankara hin. Der Autonomierat Şengals äußerte die Vermutung, dass die Türkei dem Irak ein Ultimatum gestellt haben könnte, die ezidischen Strukturen endlich zu zerschlagen, bevor man die Dinge selbst in die Hand nimmt. Sowohl die Zentralregierung in Bagdad als auch die kurdische Regionalregierung in Hewlêr (Erbil) arbeiten mit dem türkischen Staat darauf hin, ihren über die Köpfe der Bevölkerung Şengals hinweg geschlossenen Pakt vom Oktober 2020 in die Praxis umzusetzen. Dieser als „Sindschar-Abkommen“ verbrämte Deal sieht vor, die Gemeinschaft in Şengal durch die Auflösung ihrer Autonomieverwaltung und die Entwaffnung ihrer Selbstverteidigungseinheiten auf den Stand von vor 2014 zurückzuwerfen. Der Vertrag besteht aus einer Reihe von „sicherheitspolitischen und verwaltungstechnischen Maßnahmen“ und legt Verantwortlichkeitsbereiche der Behörden fest, wodurch „Stabilität und Sicherheit“ in Şengal einkehren soll.

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