Mako Qoçgirî
Basisaktivisten, Bürgermeister, Abgeordnete, Journalisten, Anwälte und jetzt …
Es scheint fast so, als habe die türkische Regierung mit der Handschrift ihres Innenministers eine umfassende Liste erstellt, auf der alle möglichen gesellschaftlichen Gruppen festgehalten sind. Diese Liste wird nun eins nach dem anderen abgeklappert und diejenige Gruppe, die gerade dran ist, wird genauestens auf mögliche „terroristische“ (was im AKP-Jargon für so gut wie alle „oppositionellen“ Strukturen verwendet wird) Umtriebe in ihr geprüft. Der türkische Innenminister Idris Naim Sahin machte Ende letzten Jahres deutlich, dass „der Terror nicht nur in den Bergen mit der Waffe in der Hand geführt“ werde.
Denn hierbei laufe man Gefahr, den „Hinterhof des Terrors“, der sich in Bildungseinrichtungen, in Naturvereinen und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen ausdrücke, außer Acht zu lassen. Und nicht zu vergessen sind laut Innenminister auch diejenigen, die den Terror durch die Bilder, die sie malen, die Kolumnen, die sie schreiben, die Gedichte, die sie dichten, und die Lieder, die sie singen, unterstützen. Ein sehr umfassende „Terrorismusdefinition“ des aktuellen türkischen Innenministers, mit der er sich vermutlich auch eine Menge Arbeit aufgelastet hat. Aber Sahin scheint ein fleißiger Zeitgenosse zu sein. Denn er macht sich seit seinem Amtsantritt parktisch mit unermüdlicher Geduld daran, jegliche Gruppe in der Gesellschaft genauestens zu durchleuchten, die „Terroristen“ in ihr ausfindig zu machen und sie hinter Gitter zu bringen. Die Basisaktivisten und die BDP-Parteimitglieder sind dabei eine Dauerplage für den armen Innenminister, weil ihre Anzahl unendlich erscheint und sie sich immer wieder erneuern. Immerhin sind er und seine Regierung mit einigen der gewählten kurdischen Bürgermeister und Abgeordneten fertig geworden. Zuletzt mussten dann die Journalisten und die Anwälte spüren, wozu die Regierung in Sachen „Terrorismusbekämpfung“ fähig ist. Und neuestes Ziel von Sahin & Co. sind nun die Geschäftsleute.
„Die Finanzquellen des Terrors austrocknen“, unter diesem Motto will sich die AKP-Regierung weitreichende Kompetenzen verschaffen, um die Geschäfte unliebsamer Geschäftsleute in Nordkurdistan einzufrieren. Mit diesem Themenschwerpunkt kam Ende Januar der Hohe Antiterrorrat (TMYK) für zwei Tage in Istanbul zusammen und beriet sich, welche Schritte hierfür eingeleitet werden müssen. Was dabei herauskam, ist erschreckend: Eine Liste mit 60 Namen von Geschäftsleuten sei zusammengetragen worden. Der Polizei und den Staatsanwälten sei die Direktive herausgegeben worden, im Hinblick auf diese 60 Namen aktiv zu werden. „Schwarze Listen“ mit den Namen von kurdischen Geschäftsleuten, das kommt Leuten, die schon länger die kurdische Frage verfolgen, nicht unbekannt vor, doch dazu gleich mehr. Ein weiterer Schritt, dessen Wichtigkeit auf der Versammlung explizit nochmal unterstrichen wurde, war ein Gesetzentwurf, welcher jederzeit ermöglichen soll, Geschäftsleute zu enteignen, die „den Terror unterstützen“. Welche Tragweite ein solcher Beschluss haben kann, wird an dem Kommentar der stellvertretenden Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei (CHP) Emine Ülker Tarhan deutlich. Tarhan erklärte, dass die Regierung sich das Recht verschaffe, das Vermögen jeder unliebsamen Person auf Eis zu legen. Hierfür seien keine eindeutigen Beweise vonnöten, der bloße Vorwurf reiche aus. Und gar die CHP könne Ziel dessen sein. Denn immerhin sitzen aktuell zwei gewählte Abgeordnete der CHP, Mustafa Balbay und Mehmet Haberal, mit dem Vorwurf, Mitglied von Ergenekon zu sein, im Gefängnis. Laut Tarhan, die ebenfalls Juristin ist, sich also auf dieses Gebiet versteht, reicht es aus, eine bloße Verbindung zwischen den beiden inhaftierten Abgeordneten und der CHP aufzubauen, und der Terrorismusvorwurf ist zugerichtet.
Die CHP dürfte allerdings nicht das primäre Ziel der AKP-Regierung bei diesem Vorhaben sein. Im Fokus stehen zunächst die wirtschaftlichen Strukturen in Kurdistan. Das geht auch aus den weiteren Beschlüssen des „Antiterror-Treffens“ hervor. Dort legte der türkische Geheimdienst nämlich den anderen Teilnehmern des Treffens eine interessante Rechnung vor, mit welcher er neben den Geschäftsleuten auch die kurdischen Stadtverwaltungen zur Zielscheibe machte. Laut Geheimdienst würden nämlich jährlich rund 800?Mio.?$ von der türkischen Zentralkasse in die kurdischen Städte fließen. Ein Großteil dieses Geldes würde wiederum dort als Subvention bei den kurdischen Geschäftsleuten landen. Der Geheimdienst führt weiter aus, dass die Geschäftsleute freiwillig oder durch Erpressung bis zu 20?% der erhaltenen Gelder an die PKK weiterleiten würden, dann hieße dies, dass der Staat jährlich über Umwege bis zu 160?Mio.?$ an die PKK spende. Mit diesem beeindruckenden Beweis ihrer Rechenkünste legte der Geheimdienst den anderen Teilnehmern folgenden Schluss nahe: Weniger Geld an die kurdischen Stadtverwaltungen gleich weniger Geld an die PKK. Kurdische Geschäftsleute zur Strecke bringen und den kurdischen Stadtverwaltungen die Gelder kürzen, damit ist die neue Marschroute im türkischen „Antiterror-Kampf“ vorgegeben.
Diese Angriffe auf die kurdische Wirtschaft sind allerdings nicht gänzlich neu, wie ich oben schon angedeutet hatte. Der BDP-Abgeordnete Hasip Kaplan sagte nach Verlautbarung der Beschlüsse des Antiterror-Rats, dass die jetzige AKP-Regierung bezüglich der kurdischen Frage Stück für Stück die Politik der 90er Jahre wiederhole. Dies sei der beste Weg, um das Land geradewegs in die Sackgasse zu führen. Doch was geschah in den 90er Jahren? Wie sah die „Wirtschaftspolitik“ der Türkei in Nordkurdistan damals aus?
Die 90er Jahre waren die Zeiten des schmutzigen Krieges in Kurdistan und (nicht nur) als kurdischer Geschäftsmann lebte man äußerst gefährlich. Die damalige Regierungschefin Tansu Çiller ließ zu ihrer Zeit verkünden, dass sich die „schwarze Liste“ mit den Namen der kurdischen Geschäftsleute in ihrer Hosentasche befinde. Danach wurden die Körper von zahlreichen Geschäftsleuten wie Behçet Cantürk, Haci Karay oder Savas Buldan leblos an den Straßenecken aufgefunden. Die Glücklicheren unter ihnen konnten noch rechtzeitig ins Exil fliehen und so ihr Leben retten. Und diese Politik des Staates zeigte ihre Früchte. Während laut eines Berichts der türkischen Zeitschrift Nokta Anfang der 90er Jahre sechs der zehn erfolgreichsten Holdings kurdischen Geschäftsleuten gehörten, findet man heute nicht einen einzigen dieser kurdischen Geschäftsleute unter den Top 30 der erfolgreichsten Holdingbesitzer in der Türkei. Sinnbildlich für die „Türkisierung“ der Wirtschaft steht der zeitgleiche Aufstieg der OYAK Holding. OYAK startete zunächst ausschließlich als Pensionsfonds für die türkischen Streitkräfte und ist heute eine der vier größten Holdings des Landes mit insgesamt 30 zu ihr gehörenden Unternehmen.
Einen Weg zur Teilhabe an der Wirtschaft bietet der türkische Staat den Kurden allerdings doch noch, und das gestern wie heute. Dieser Weg führt über die Kollaboration mit dem Staat. Vom Dorfschützer bis hin zum Großgrundbesitzer bietet der türkische Staat den Kurden wirtschaftliche Möglichkeiten an, vorausgesetzt, sie erklären sich dazu bereit, Teil des Kampfes gegen die PKK zu sein. Und die wirtschaftlichen Karrierewege für Kollaborateure sind nicht gerade unattraktiv. Bis hin zum Parlamentsabgeordneten kann man es schaffen, wenn man sich nur genügend Mühe bei der Erfüllung der „Vaterlandspflichten“ gibt. Ein besonderes Beispiel hierfür aus den 90er Jahren ist der Bucak-Clan aus Siwêrek (Siverek). Die gesamte Wirtschaft von Siwêrek stand quasi unter der Kontrolle dieses kollaborierenden Clans. Immerhin hatten die Bucaks große Dienste für den türkischen Staat geleistet. Schon beim Scheich-Said-Aufstand stand man auf der Seite des türkischen Zentralstaates. Auch im Kampf gegen die PKK blieb man den Herrschaften weiterhin treu. Für solche besonderen Dienste wurde der Führer des Clans, Sedat Bucak, mit einem Platz im Parlament unter der regierenden Partei Tansu Çillers (DYP, Partei des Rechten Weges) belohnt. Bucak hatte ausgedient, als beim Skandal von Susurluk offiziell wurde, was in Kurdistan ohnehin schon jeder wusste. Bei einem Autounfall in der westtürkischen Stadt Susurluk starben im selben Auto der Mafiaboss und führendes Mitglied der Grauen Wölfe Abdullah Çatli sowie der damalige stellvertretende Polizeichef von Istanbul Hüseyin Kocadag. Schwer verletzt aus demselben Auto konnte unser Herr Abgeordneter Sedat Bucak geborgen werden. Wirtschaftliche Interessen kennen schließlich keine politischen und moralischen Grenzen …
Doch kehren wir zurück in die Gegenwart und zum Gesetzesentwurf der AKP. Der Vorsitzende des Vereins der Arbeitgeber aus und des Aufbaus von Diyarbakir (DIYAP), Celalettin Birtane, erklärt, dass das Gesetz äußerst gefährlich für die Geschäftsleute der Region sei. Jeder, der im Dissens mit der Regierung sei, müsse um seine wirtschaftliche Existenz fürchten, was zwangsweise zum Abzug von Investitionen aus Kurdistan führen werde. Auch die türkischen Unternehmer warnt Birtane vor den möglichen Auswirkungen des neuen Gesetzes. Denn heute mögen die Ziele kurdische Geschäftsleute sein, aber morgen könnte es auch jegliche/n Geschäftsmann/-frau der TÜSIAD (Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute, wichtigster Unternehmerverband der Türkei) treffen. Die kurdische Freiheitsbewegung erklärte unterdes, dass ein solches Gesetz sie nicht sonderlich berühre und deswegen das Gesetz auch nicht primär gegen sie gerichtet sei. Vielmehr verübe der türkische Staat ein wirtschaftliches Massaker in Kurdistan, indem er den Geschäftsleuten nur zwei Auswege aufzeige: zu kollaborieren oder ihr wirtschaftliches Ende zu unterschreiben. Scheint, als bräuchte unser Herr Innenminister Idris Naim Sahin neue Sedat Bucaks in Kurdistan.
Kurdistan Report Nr. 160 März/April 2012